U. Winkler: Männliche Diakonie im Zweiten Weltkrieg

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Titel
Männliche Diakonie im Zweiten Weltkrieg. Kriegserleben und Kriegserfahrung der Kreuznacher Brüderschaft Paulinum von 1939 bis 1945 im Spiegel ihrer Feldpostbriefe


Autor(en)
Winkler, Ulrike
Reihe
Forum Deutsche Geschichte 15
Erschienen
München 2007: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
XII, 460 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Lindemann, TU Dresden, Institut für Ev. Theologie

In den letzten Jahren sind in der Historiographie Feldpostbriefe als Quelle für die Geschichte des Alltags in der Wehrmacht stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Sie versprechen, einen größeren Aufschluss über die Motivation und das Erleben der Soldaten zu geben. Ulrike Winklers Marburger Dissertation wendet sich mit evangelischen Diakonen aus der Brüderschaft Paulinum im rheinländischen heutigen Bad Kreuznach erstmals in einer größeren Studie einer Gruppe von Wehrmachtsangehörigen zu, die sich dezidiert als Christen verstanden. Ihre Aufgaben im Militär standen in einem direkten Gegensatz zu ihrer beruflichen Tätigkeit in den Bereichen von Pflege, Erziehung und Ausbildung an Randgruppen der Gesellschaft, die im Geist der Liebe geschehen sollte. Die Zugehörigkeit der Verfasser der Briefe zu einem konkreten Bezugsrahmen ermöglicht die Einordnung der Texte in einen sozialen Kontext und die Erschließung ihres soziobiographischen Hintergrundes.

Der erste Abschnitt bietet einen konzisen Überblick zur Kriegs- und Friedensethik des deutschen Protestantismus. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass Luther allein Verteidigungskriege legitimierte, zugleich aber auch auf die Ambivalenz dieser Argumentation verwiesen. Das betrifft jedoch eher die auf den Reformator folgende Tradition. Hinzuweisen wäre darauf, dass Luther vor dem Beginn eines Krieges von den Fürsten ein aktives Bemühen um den Erhalt des Friedens forderte und in seiner Obrigkeitsschrift dem einzelnen Soldaten das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einräumte, sofern dieser erkannte, dass der Feldzug nicht legitim war. Insgesamt ist auch der Schlussfolgerung, aus Luthers Zuordnung des weltlichen Regiments zu Gott lasse sich eine „Gehorsamspflicht“ des Individuums gegenüber staatlichen Anordnungen ableiten, nur bedingt zuzustimmen. Allerdings sorgte die nachfolgende Interpretation von Luthers Staatsethik für dieses Missverständnis, das bis in den Zweiten Weltkrieg hinein im deutschen Protestantismus kaum hinterfragt wurde. Klar akzentuiert wird im Folgenden die bis 1945 traditionsbildende religiöse Überhöhung der deutschen Nation durch evangelische Theologen mit ihren Wurzeln in den Napoleonischen Kriegen. Die Charakterisierung der Schrift des Generalsuperintendenten der Kurmark, Otto Dibelius, „Und Friede auf Erden“ als „kriegsverherrlichend“ wird der ambivalenten Haltung des Verfassers zu Kriegen nicht gerecht. Unberücksichtigt bleibt, dass neben den dezidiert kriegslegitimierenden Partien des Bandes Dibelius für internationale Regularien zur Begrenzung von Kriegen und damit für eine Stärkung des Völkerbundes eintrat und als erste kirchenleitende Persönlichkeit die Kirche zum Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen aufrief. Am Beispiel der „Gebetsliturgie“ von 1938 macht Ulrike Winkler schließlich auf gewisse Neuorientierungen innerhalb des bruderrätlichen Flügels der Bekennenden Kirche aufmerksam.

Der zweite Abschnitt stellt die wechselhafte Geschichte der Brüderschaft Paulinum dar. Bereichernd für die Diakonenforschung ist der Hinweis, dass eine fürsorgerische und pflegerische Tätigkeit, ausgeübt von Männern, in Gesellschaft und Kirche als „unmännlich“ angesehen wurde, was zu Akzeptanzproblemen für den Diakonenberuf führte. Die Beteiligung der Insassen der Einrichtung an der SA und der Hitlerjugend sowie die bejahende Akzeptanz von Wehr- und Arbeitsdienst der Diakone durch die Leitung der Brüderschaft bedeuteten eine Integration des Anstaltslebens in den Geist der Remilitarisierung der Gesellschaft im NS-Staat. Auf der anderen Seite wird ein im Vergleich zu anderen Brüderhäusern ausgesprochen geringer Organisationsgrad der Brüder in der NSDAP und ihren paramilitärischen Gliederungen SA, SS, NSKK und NSFK konstatiert. Bei den Diakonen und auch der Leitung der Brüderschaft gab es eine Nähe zum gemäßigten Flügel der Bekennenden Kirche.

Der Hauptteil „Die Kriegserfahrung der Brüderschaft Paulinum von 1939 bis 1945“ basiert auf der systematischen Auswertung von 192 Feldpostbriefen und -karten der zumeist im Sanitätsdienst eingesetzten Diakone, was die Beteiligung an Kampfhandlungen keineswegs ausschloss. Eine Gegenüberlieferung bieten die monatlich versandten Rundschreiben der Brüderhausleitung. Überdies finden auch die Verbindungen der Brüder zur Deutschen Diakonenschaft Berücksichtigung. In den Briefen der Brüder kommt das Töten nur in einigen Fällen, und dann verklausuliert, zur Sprache. Eine intensivere Schilderung erfuhr die Hilfstätigkeit an den kranken Kameraden, womit die Diakone an ihr Zivilleben anknüpfen konnten. Der Krieg wurde als „Arbeit“ begriffen, der man mit „Pflicht“ und „Treue“ nachkam, ohne dass diese Begriffe näher spezifiziert wurden. Die Übertragung dieser dem preußischen Traditionsgeist und auch, wie unter Verweis auf Ausführungen in den Schreiben der Brüderhausleitung betont wird, dem lutherischen Berufsethos entstammenden Wertvorstellungen auf den Angriffs- und Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten hinderte die Diakone daran, eine kritische Haltung gegenüber dem Krieg zu entwickeln, und ließ sie die Verantwortung für ihr eigenes Tun auf andere übertragen. Allerdings fehlt in den Briefen im Wesentlichen das spezifische Vokabular der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda. Die Motivation für die Kriegsteilnahme war in aller Regel nationalpatriotisch begründet.

Verwiesen wird auf die bei Luther angelegten Möglichkeiten der Eidesverweigerung, die als ein kritisches Korrektiv hätten dienen können. Fruchtbar machen ließe sich hier auch die in der nicht direkt als Quelle herangezogenen, sondern nur über das dogmatische Lehrbuch von Wilfried Joest erschlossenen Obrigkeitsschrift Luthers erhobene Forderung, dass das weltliche Regiment nicht über die Gewissen herrschen dürfe, wonach ein totalitäres Regime als solches keine für einen Christen akzeptable „Obrigkeit“ hätte sein dürfen. Zutreffend ist der Hinweis, dass die Brüder hier auf sich gestellt waren, da ihre Hausleitung ihnen in ihren Briefen keine konkreten ethischen Handreichungen gab – solche hätten allerdings angesichts der staatlichen Zensur ihre Adressaten oft auch kaum erreichen können.

Einen großen Raum nahm in den Briefen der Kriegsteilnehmer die Beschreibung von Landschaft und Kultur der von der Wehrmacht eroberten Gebiete ein. Gegenüber Angehörigen anderer Nationen begegnen gewisse Stereotype, aber es fehlen Feindseligkeiten und Diffamierungen. Die Kriegsgegner wurden stets als Kollektiv gesehen, was die Hemmschwelle, zu töten, deutlich minderte, den Erweis von Empathie gegenüber Kriegsgefangenen und Zivilisten zumindest erschwerte und eine Reflexion über die persönliche Verantwortung durch die Beteiligung an einem Vernichtungskrieg verhinderte. Keine Erwähnung fand dagegen die jüdische Bevölkerung. Deutlich wird jedoch das Interesse an christlicher Gemeinschaft. Das versuchte man einerseits durch intensive Kontakte mit der Brüderhausleitung, durch den Wechsel in Truppenteile, in denen andere Diakone dienten, Gottesdienstbesuche oder Bibelstunden zu erreichen. Wie bei den Berichten von Landschaft und Kultur handelte es sich auch hier um bewusste Anknüpfungen an das Zivilleben. Der christliche Glaube vermittelte zugleich angesichts der körperlichen und seelischen Belastungen, die sich in den Briefen durchaus widerspiegeln, Trost, innere Ruhe und Zuversicht. Dabei wurde in nationalprotestantischer Tradition Gott exklusiv für das Geschick der eigenen Nation in Anspruch genommen. Demgegenüber trat das gerade die christliche Identität des Diakonenberufes prägende Gebot der Nächstenliebe zurück. Gegen Ende des Krieges gewann dieser zunehmend die sinnstiftende Funktion einer Prüfung der Festigkeit des Gottesglaubens, hinter der politische und nationale Begründungen zurücktraten. Zu beobachten ist bei einigen Brüdern eine zunehmende Distanz gegenüber dem Brüderhaus. Das kam zum Ausdruck in Eheschließungen, die die materielle Versorgung der Lebenspartnerinnen sicherstellen sollten, obwohl die Ausbildung noch nicht beendet war, oder gar in Austritten aus der Brüderschaft. Bis zur Auflösung der Brüderschaft 1948 kam es nur ansatzweise zu einer gemeinsamen Bearbeitung der Kriegserfahrungen und der Schuldfrage im Allgemeinen sowie der persönlichen Mitverantwortung im Besonderen. Das entsprach den entsprechenden Tendenzen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft insgesamt.

Ulrike Winkler hat eine interessante Studie vorgelegt, die die Briefsammlung unter verschiedensten Aspekten und methodischen Zugängen untersucht und sie einer sorgfältigen Interpretation zuführt. Neben der Bearbeitung dieses Quellenbestandes wurden insbesondere im Archiv Stiftung Kreuznacher Diakonie und im Archiv des Diakonischen Werkes breite Aktenstudien betrieben und damit das für das sachgerechte Verständnis der Briefe notwendige Hintergrundwissen erschlossen. Auch die neuere zeitgeschichtlichere Literatur findet breite Berücksichtigung. Somit gelingt eine Einordnung der Erfahrungen der Soldaten in ihren gesellschafts- und kirchengeschichtlichen Kontext sowie eine angemessene Deutung. Die Darstellung schließt mit Abbildungen, einem übersichtlich gestalteten Quellen- und Literaturverzeichnis und einer Aufschlüsselung der Abkürzungen. Bedauerlich ist das Fehlen eines Personenregisters, zumal der soziobiographische Zugang ein wichtiges Anliegen der Arbeit darstellt.

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