H. Williams: J.R.R. Tolkien's Utopianism and the Classics

Titel
J.R.R. Tolkien's Utopianism and the Classics.


Autor(en)
Williams, Hamish
Reihe
Classical Receptions in Twentieth-Century Writing
Erschienen
London 2023: Bloomsbury
Anzahl Seiten
206 S.
Preis
$ 90.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Fraß, Historisches Institut / Alte Geschichte, Ruhr-Universität Bochum

Selbstverständlich gab und gibt es die Position, dass es sich bei den Werken von J.R.R. Tolkien um kindischen Nonsens handelt, mit dem sich literaturwissenschaftlich oder auch ideengeschichtlich zu beschäftigen grundsätzlich verbietet.1 Der Rezensent, um dies vorwegzunehmen, teilt diese Position nicht. Überdies gilt dies offensichtlich ebenso für Hamish Williams, dem Verfasser des hier zu rezensierenden Werkes. Er hat zu diesem Themenfeld bereits einen Sammelband herausgegeben, in welchem die Rezeptionen antiker Ideen im Werk Tolkiens in einer ganzen Reihe von Einzelbeiträgen aufgezeigt werden.2 Mit diesem Sammelband hat Hamish Williams bereits einen Schritt unternommen, die bisher eher im Hintergrund der Tolkien-Forschung stehende Antikenrezeption durch J.R.R. Tolkien stärker ins Blickfeld zu rücken. Bisher war, von einigen Ausnahmen abgesehen3, vornehmlich die Mittelalterrezeption durch Tolkien Hauptbestandteil der literaturwissenschaftlichen und ideengeschichtlichen Forschung.4

Dieser Umstand ist selbstverständlich aus dem akademischen Werdegang Tolkiens zu erklären, der als Experte für die altenglische Sprache und Literatur sein berufliches Leben an der Universität Oxford verbrachte. Dessen ungeachtet, wie Hamish Williams im einleitenden Kapitel ausführt, wurde Tolkien bereits ab dem zarten Alter von vier Jahren von seiner Mutter in Latein unterrichtet und seine folgende Schulausbildung war stark auf die lateinische sowie griechische Sprache und Literatur konzentriert. Er begann dann auch im Jahr 1911 folgerichtig das Studium der Klassischen Philologie in Oxford und erst im Jahr 1913 änderte er seine akademische Ausrichtung auf das Studium der Altenglischen Philologie. Dessen ungeachtet, so Hamish Williams, blieben die erworbenen Kenntnisse um die antike Sprache und Literatur für Tolkien immer prägend und fanden umfangreichen Eingang in sein literarisches Werk.

Neben Tolkiens Rezeption des klassischen Altertums will Hamish Williams aber zugleich aufzeigen, inwieweit Tolkien vielleicht als ein Autor utopischer bzw. dystopischer Literatur zu werten ist. Hierbei stellt Williams klar, dass er Tolkien nicht in dieselbe Kategorie wie Thomas More oder George Orwell einordnen würde. Dessen ungeachtet sieht Williams aber Tolkiens Konstruktion einer vielschichtigen geographischen, kulturellen und auch historischen alternativen Welt durchsetzt mit utopischen (z.B. ‚das Auenland‘) und dystopischen (z.B. ‚Mordor‘) Orten.

Gleich im ersten Kapitel will sich Hamish Williams mit den utopischen Orten in Tolkiens Mittelerde auseinandersetzen, die im Narrativ einen Prozess des Verfalls und Untergangs durchlaufen würden („Lapsarian Narratives“). Dabei betont er zuerst die biblische Vorstellung des Sündenfalls, welche der gläubige Katholik Tolkien immer wieder in seinem literarischen Werk rezipiere. Zu denken sei hier etwa an die selbstverschuldete Ausstoßung der Elfen aus ‚Valinor‘. Daneben rekurriere Tolkien aber zudem auf die paganen antiken Vorstellungen der Dekadenz der Weltalter, wie diese bereits bei Hesiod erscheinen.5 Anders als bei den biblischen Vorstellungen gebe es in Tolkiens literarischem Werk aber, ähnlich wie in der antiken paganen Vorstellungswelt, kein Ende der Geschichte, sondern eher eine zyklische Vorstellung. So führe in der Geschichte von Tolkiens ‚Mittelerde‘ keiner der drei endzeitlichen Kämpfe zur Apokalypse, sondern jeweils zum Beginn eines neuen Zeitalters. Am Beispiel des Untergangs und der Neuentstehung von ‚Gondor‘ zeigt Hamish Williams etwa auf, wie Tolkien die antike Darstellung des politischen Wirkens von Augustus und dessen vermeintlicher Restauration der res publica benutzte, um seine Figur des ‚Aragorn‘ und dessen Restauration der Monarchie in ‚Gondor‘ zu konstruieren: „[…] the New Gondor at the start of the Forth Age can be conceptualised as a utopia or restored paradise which is strongly reminiscent of the idealization – and propagandizing – of an ‘Augustan (Golden) Age’ in Rome after a period of late Republican decline, as established by writers such as Horace, Virgil, Suetonius and Augustus himself […]”(S. 43). Dies ist überzeugend, allerdings hätte sich der Rezensent hier ein paar mehr konkrete Verweise auf die antiken Quellen gewünscht.

Im zweiten Kapitel soll es dann um die Frage nach Heimat und Fremde, sowie den Konzepten von Gastfreundschaft und Fremdenfeindlichkeit vor allem im „Hobbit“ gehen und dabei eine mögliche Vorbildfunktion der homerischen Odyssee herausgearbeitet werden. Diese scheint für Hamish Williams im Besondern für die Idee der Gastfreundschaft im ‚Hobbit‘ zu gelten, für welche er ein „Odyssean template of hospitality“ (S. 90) sehen will. Vor allem will er in diesem Kapitel aber anscheinend den alten Vorwurf des Rassismus und Chauvinismus gegenüber Tolkien widerlegen. So wird nachgewiesen, dass Tolkien die Xenophobie gerade der Hobbits als etwas durchweg Negatives, ja sogar als etwa für die Gemeinschaft als Ganzes Existenzbedrohendes darstellt. Er tue dies aber, so Hamish William, ohne die Idee der Hobbits von Heimat sowie ihrem Bedürfnis nach einer Heimat als etwas Negatives darzustellen: „In a sense, Tolkien´s turn to the ancient world, whether Greek, Christian or Germanic, for providing a paradigm for guest-friendship in The Hobbit and The Lord of the Rings presents a generally anti-modern desire for the individual to reclaim an autonomy over a home space, and thus the right to express xenophilia, which is rapidly disintegrating in the technocratic modern world.” (S. 95). Diese Interpretation ist zwar nachvollziehbar, doch es müssen Zweifel angemeldet werden, ob sich ein vornehmlich westliches akademisches Publikum in seiner Mehrheit davon überzeugen lassen wird, ein Bedürfnis nach Heimat nicht grundsätzlich als „rassistisch“ zu bewerten.

Im dritten Kapitel schließlich steht die Transzendierung sowohl der Natur als auch der vergangenen Kultur im Œuvre Tolkiens im Mittelpunkt. Für den ersten Bereich wird vor allem die Vorbildfunktion von Ovids Naturdarstellung in den Metamorphosen aufgezeigt. Hamish Williams schließt sich dabei etwa der Interpretation an, dass die Figur des ‚Tom Bombadil‘ in Ovids Figur des Orpheus ein direktes Vorbild habe. Beide können bekanntlich mit ihrer Musik nicht nur die Menschen, sondern ebenso Tiere und Pflanzen bezaubern. Darüber hinaus führt Hamish William aus, wie die Ruinen einer untergegangenen Hochkultur (‚Númenor‘), im ‚Der Herr der Ringe‘ als Gedächtnisorte fungieren und so der Welt von ‚Mittelerde‘ eine zeitliche Tiefe verleihen würden. Das dritte Kapitel ist interessant, bietet aber weniger neue Erkenntnisse als die beiden vorherigen Kapitel. Das Buch endet nach einem kurzen Fazit mit einem kurzen und hilfreichen Sachregister.

Hamish Williams Buch ist vom Umfang her überschaubar, aber dennoch voller Ideen zu Tolkiens Antikenrezeption. Vom Schreibstil her, dies muss eingeräumt werden, ist es allerdings nicht leicht zu lesen. Hamish Williams Überlegungen selbst werden wohl nicht zu großem Widerspruch führen, wenn man von den Ausführungen zu Gastfreundschaft und Fremdenfeindlichkeit im zweiten Kapitel einmal absieht. Kritik an diesen Darlegungen werden, so ist zu vermuten, höchstens von grundsätzlichen Kritikern des literarischen Werks von J.R.R. Tolkien kommen, sollten diese denn ein solches Buch überhaupt zur Kenntnis nehmen. Abschließend lässt sich jedenfalls festhalten, dass es Hamish Williams mit dieser Monografie zur Antikenrezeption durch J.R.R. Tolkien, zusammen mit dem von ihm herausgegebenen Sammelband zum selben Thema, gelungen ist, diese Lücke in der Tolkien-Forschung vielleicht nicht vollständig zu schließen, aber doch entscheidend zu verkleinern.

Anmerkungen:
1 Einen konzisen Überblick zu den englischsprachigen Kritikern Tolkiens bietet etwa Patrick Curry, The Critical Response to Tolkien's Fiction, in: Stuart D. Lee (Hrsg.), A Companion to J. R. R. Tolkien, Chichester 2014, S. 369–388.
2 Hamish Williams (Hrsg.), Tolkien and the Classical World, Zürich 2021.
3 Verwiesen sei hier bspw. auf die Rezeption der utopischen Atlantis-Erzählung von Platon in Tolkiens ‚Silmarillion‘, in welchem das Inselreich ‚Númenor‘ das gleiche Schicksal widerfährt. Siehe dazu etwa Charles Delattre, Númenor et l'Atlantide. Une écriture en héritage, in: Revue de littérature comparée 323/3 (2007), S. 303–322.
4 Als Beleg dafür sei hier auf die seit 2004 jährlich erscheinende Fachzeitschrift ‚Tolkien Studies‘ verwiesen (online unter: https://muse.jhu.edu/journal/299), welche jedes Jahr eine Bibliografie der neu erschienenen Forschungsliteratur zu Leben und Werk von J.R.R. Tolkien publiziert.
5 Vgl. Hes. Erga 106-201. Allerding findet sich diese pagane Vorstellung zumindest ebenso im Tanach im Buch Daniel (2,31-35). Der Prophet des Alten Testaments kennt allerdings kein ‚Heroisches Weltalter‘, wohl aber eines aus Ton, welches dem Eisernen Weltalter folgt, und das Ende der Weltalter darstellt.

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