Wenn es um den Ursprung der Institution Museum geht, fällt der Blick oft als erstes auf die Kunst- und Kuriositätenkabinette der frühen Neuzeit. Dabei wird manchmal fast vergessen, dass einige Museumsgattungen erst im 19. Jahrhundert entstanden sind. Nicht nur ihre Gründung, sondern auch der Großteil ihrer Sammlungen stammt damit aus der Phase der kolonialen Expansion Europas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ein entsprechend enger Zusammenhang besteht zwischen der Geschichte der Kolonisierung und der Institutions-, Sammlungs- und Objektgeschichte von bzw. in zahlreichen Museen. Die Aufarbeitung von Sammlungsgeschichte(n) in Verbindung mit kolonialer Geschichte hat daher in jüngster Zeit verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. Drei Neuerscheinungen des letzten Jahres liefern auf diesem Gebiet nicht nur sehr interessante, aktuelle und relevante Fallbeispiele, sondern knüpfen gleichzeitig an größere museumshistorische und museumstheoretische Fragestellungen an. Insbesondere loten sie die Möglichkeit einer postkolonialen Kritik an der kolonialen Verstrickung der Institution Museum (vor allem des ethnologischen, naturhistorischen und archäologischen Museums) aus.
Der Sammelband „The Netherlands East Indies at the Tropenmuseum. A colonial history“ basiert auf einem Teil der Dauerausstellung des Tropenmuseums in Amsterdam, der bereits 2003 unter dem gleichen Titel eröffnet wurde. Ausstellung und Katalog thematisieren 400 Jahre niederländisch-indonesischer Geschichte mit einem Schwerpunkt auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bereits der Titel des Bandes macht deutlich: Hier wird nicht etwa die ‚fremde Welt‘ Südostasiens erklärt und vermittelt, sondern hier werden die kolonialen und postkolonialen, oft auch gewaltförmigen Verflechtungen in den Blick genommen, auf denen ein Teil der Südostasien-Sammlung des Tropenmuseums beruht – eines Museums, das 1910 als „Koloniaal Museum“ gegründet wurde.
Entsprechend führen die Herausgeberinnen, beide vormals am Tropenmuseum tätig, eine neue Kategorie ein für die Objekte, die Sie behandeln: die Kategorie der „kolonialen Sammlung“ (S. 116). Darunter verstehen sie dreierlei: erstens die materielle Kultur der Kolonialgesellschaft im einstigen Niederländisch-Ostindien, zweitens die Produkte der politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Befassung mit der Kolonie in den Niederlanden, und drittens die wechselseitigen Imaginationen von „Mutterland“ und Kolonie und ihre Visualisierungen. Bereits der erste Teil des Bandes, eine Einführung in zentrale Bereiche niederländisch-indonesischer Geschichte durch sechs Gastautoren/innen, ist entsprechend nicht nur mit Abbildungen einzelner aussagekräftiger Objekte, sondern immer wieder auch mit historischen und zeitgenössischen Installationsansichten aus dem Tropenmuseum bestückt. So werden von Anfang an die unterschiedlichen musealen Rahmungen der gesammelten Objekte reflektiert und damit wird das Museum selbst als Ort der Wissensproduktion untersucht.
Die nähere Erläuterung der „kolonialen Sammlung“ erfolgt dann aber doch auf eher konventionelle Weise: Anhand von zehn Sammlern und zehn Sammelgebieten („Holz“, „Filme“, „Kleider“ usw.) werden mögliche Zugänge zur Sammlung präsentiert, die aufzeigen sollen, wie Objekte „Kontaktstellen für unzählige Geschichten über Indonesien und die Niederlande“ bieten (S. 115). So avanciert das Konzept der „kolonialen Sammlung“ zunächst ist, es drängen sich spätestens an dieser Stelle zwei Fragen auf: erstens, wie die Grenzen zu der ‚herkömmlichen‘ Indonesien-Sammlung, zu der in Kürze ein Band vorgelegt werden soll, im Einzelnen gezogen wurden und in welchem Verhältnis beide Sammlungen zueinander stehen; und zweitens die Frage, warum die Ausläufer des niederländischen Handelskolonialismus beispielsweise im westlichen und südlichen Afrika in einer solchen Verflechtungsgeschichte nicht einmal Erwähnung finden. Erklärt werden können solche Lücken nur dadurch, dass die Herausgeberinnen eben einen Spagat zwischen innovativem Ansatz und altbekannter Notwendigkeit der Sammlungsdokumentation versuchen.
Trotzdem leistet der Katalog sehr Wesentliches: Er tritt für eine Selbstreflexion und Dekolonisation der Institution, für eine Auflösung von Dichotomien wie „Das Eigene und das Fremde“ und für eine Historisierung und De-Exotisierung der Sammlungen ein – in solcher Konsequenz ist das bisher selten in einem ‚Bestandskatalog‘ eines ethnologischen Museums geschehen.1 So ist es denn auch ganz folgerichtig und dabei sehr anregend, dass am Ende des Bandes zwei Gastautoren/innen die dem Katalog zugrundeliegende Ausstellung noch einmal kritisch kommentieren – unter anderem aus der Perspektive der niederländischen Indo Community.
Der zweite Sammelband mit dem Titel „Sensible Sammlungen“ richtet den Blick weniger auf kultur- als auf naturwissenschaftliche Sammlungen: und zwar auf solche, die aus der physisch-anthropologischen Vermessung und Untersuchung von Menschen hervorgegangen sind. Der Fokus der Publikation liegt auf den oft „sensiblen“, weil illegalen bis gewaltförmigen Umständen des Erwerbs solcher Sammlungen: Grabrauben, Körpermessungen und -abformungen, Fotografien und Tonaufnahmen von Menschen gegen ihren Willen, Zwangsuntersuchungen auf Polizeistationen, in Kriegsgefangenenlagern oder im Kontext von Deportationen. Anthropologische Sammlungen sind verstrickt in koloniale und rassistische Wissenschaftspraktiken, weil viele von ihnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zuge der Karriere des Konzepts „Rasse“ und der „Rassenkunde“ angelegt oder zumindest maßgeblich erweitert wurden. In Ausstellungen wurden sie benutzt, um das Konzept „Rasse“ zu plausibilisieren und zu popularisieren.
Die Autorinnen – zwei Kulturwissenschaftlerinnen und eine Naturwissenschaftlerin – zeigen und diskutieren dies an verschiedenen Beispielen und Fallstudien: an den Sprachaufnahmen von tatarischen und indischen Kriegsgefangenen, die in Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs in Berlin und Wien hergestellt wurden und im Phonogramm-Archiv des Ethnologischen Museums in Berlin bzw. der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien lagern (Britta Lange); an den anthropologischen Untersuchungen, die während des Nationalsozialismus in Wien an jüdischen Häftlingen durchgeführt wurden und deren Relikte in der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums wiedergefunden wurden (Margit Berner); an den Sprachaufnahmen und Gipsmasken von Namibiern, die aus den 1930er-Jahren stammen und heute im Phonogramm-Archiv in Berlin aufbewahrt werden (Anette Hoffman).
Einerseits wird in allen Beispielen die Gewaltförmigkeit anthropologischer Sammel- und Archivierungspraktiken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts deutlich, andererseits führen die Autorinnen vor, wie die Relikte anthropologischer Forschung „gegen den Strich“ gelesen werden können und müssen, um schließlich die Stimmen und Sichtweisen der ‚erforschten‘ Subjekte hör- und sichtbar zu machen. Anette Hoffmann etwa beschreibt, wie namibische Sprecher/-innen nicht nur die Kolonisierung ihres Landes, sondern auch die konkrete Aufnahmesituation, in der sie sich befanden, beklagten und kritisierten – Ergebnisse einer Forschung, die auch in der von Hoffmann kuratierten Ausstellung „Was wir sehen“ in Berlin zu sehen und zu hören waren.2 Dies ist denn auch ein wichtiger Beitrag des Buches zur Geschichte und Theorie kolonialer Archive: der Verweis auf das Potenzial dieser Archive, „die sonore Stimme der kolonialen Ethnografie zu stören“ (S. 184), ja überhaupt auf ihr subversives Potenzial.
Darüberhinaus haben die Autorinnen durch behutsame, aber beharrliche Recherchen die fotografierten, aufgenommenen und abgeformten Gegenüber, ihre Angehörigen oder Nachkommen aufgesucht und in die Bearbeitung und Interpretation des Materials einbezogen. So sprechen sie sich am Ende auch nicht für eine »flächendeckende Restitution« sensibler Sammlungen aus, auch wenn sie zu Beginn des Buches die Debatte um die Repatriierung von anthropologischen Objekten und menschlichen Überresten umreißen. Vielmehr plädieren sie für ein „Öffnen der Depots“, für eine Erforschung der Erwerbsumstände, um die Objekte „mit den anderen losen Enden ihrer Geschichte in Verbindung zu bringen, die in andere Archive, aber auch andere Länder und andere Kontexte führen“ (S. 215). Auf diese Weise bleibe das Depot „eine Zwischenstation, ein Schwebezustand, aus dem heraus aktuelle Auseinandersetzungen entstehen können und sollten“ (ebd.). Der vorliegende Band demonstriert sehr überzeugend, wie eine solche längerfristige Auseinandersetzung auf wissenschaftlicher und kuratorischer, auf methodischer und theoretischer Ebene aussehen kann.
Während die beiden bisher erwähnten Bücher ganze Sammlungen thematisieren, fokussiert „Nofretete. Eine deutsch-französische Affäre 1912–1931“ auf ein einziges umstrittenes Objekt. Die Restitutionsdebatte ist auch hier Hintergrund der wissenschaftlichen Befassung: Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy will die Genese dieser Debatte in den 1910er- und 1920er-Jahren nachzeichnen. Dazu fokussiert sie vor allem auf die Protagonisten der damaligen Nofretete-Affäre und auf deren Motive.
Im Zentrum steht Pierre Lacau, von 1914 bis 1936 Direktor der französischen Altertümerverwaltung in Kairo und erster sowie hauptsächlicher Betreiber der Rückforderungen ab 1924. Der Quellenkorpus, den die Autorin dafür heranzieht, ist die Akte „Tête de Nefertiti“, die sie im Nachlass von Pierre Lacau in Paris aufgespürt hat. Kern des Buches ist eine Edition, Übersetzung und essayistische Kommentierung der vollständigen und zusammenhängenden Akte, deren einzelne Teile bisher auf unterschiedliche Konvolute und Archive verteilt lagen. Dabei führen die Briefwechsel der Akte das (kultur-)politische Feilschen zwischen Pierre Lacau, dem Ausgräber Ludwig Borchardt, ägyptischen und deutschen Behörden bzw. Museumsakteuren um die Rückgabe der Nofretete sowie um Objekte, die im Gegenzug nach Berlin geschickt werden sollten, lebhaft vor Augen. Das Hin und Her der Briefe liest sich schon in unkommentierter Form nahezu wie ein wissenschaftshistorischer Krimi – angereichert um die eloquenten Einordnungen der Autorin ergeben sich viele sinnstiftende Bezüge, die die Lektüre noch eingängiger machen.
Jedoch: die alles überspannende These der Autorin stützen diese Quellen gerade nicht. Diese These formuliert Savoy in der Einleitung wie folgt: Lacaus Rückforderung sei eine „kollaterale Folge des alten deutsch-französischen Antagonismus“, mithin eine „Altlast der Geschichte“ und „sollte auch als solches behandelt werden“ (S. 10f.). Aus dem Engagement Lacaus im Ersten Weltkrieg, das die Autorin in einem von drei einleitenden Essays überzeugend nachzeichnet, lässt sich Lacaus Deutsch-Feindlichkeit zwar klar herauslesen, seine Briefe aus der Akte „Tête de Nefertiti“ sprechen jedoch eine ganz andere Sprache: Überlegt und mit diplomatischem Geschick versucht sich Lacau ganz offensichtlich in den Dienst ägyptischer Interessen zu stellen – möglicherweise erklärlich angesichts der 1922 erlangten formellen Unabhängigkeit Ägyptens, die zu einer Ägyptisierung vieler Bereiche der Verwaltung führte. Warum Lacau statt einer deutsch-feindlichen nun zunehmend eine ägyptische Perspektive einnimmt, untersucht Savoy dabei nicht – genauso wie auch die ägyptischen Akteure dieser Zeit in ihrer Argumentation bedauerlicherweise kaum eine Rolle spielen. Während die Autorin eigentlich – und zu Recht – die gemeinsame historische Verantwortung der ehemaligen Kolonialmächte gegenüber dem ägyptischen Staat anmahnen will (S. 13), wirkt ihre Reduktion der Nofretete-Affäre auf einen deutsch-französischen Antagonismus in dieser Hinsicht kontraproduktiv und vermag der Komplexität der kolonialen und postkolonialen Verhandlungssituationen nicht Rechnung zu tragen.3
Die drei besprochenen Bücher verbindet sowohl der Fokus auf die Geschichte des kolonialen Sammelns und kolonialer Sammlungen als auch ein transnationaler Ansatz. Schließlich versuchen sie – wenn auch mit unterschiedlicher Überzeugungskraft –, Sammlungen und Sammlungsobjekte neu oder anders zu erschließen als dies bisher geschehen ist. Für die Debatte um das koloniale Erbe europäischer Museen ist dies sehr bereichernd – und führt nicht zuletzt die zahlreichen Forschungsdesiderate auf diesem Gebiet vor Augen.
Anmerkungen:
1 Das Konzept der „kolonialen Sammlung“ wurde vom Tropenmuseum allerdings schon an anderer Stelle eingeführt, siehe hierzu: Koos van Brakel / Susan Legêne (Hrsg.), Collecting at cultural crossroads. Collection policies and approaches (2008–2012) of the Tropenmuseum. Bulletins oft he Royal Tropical Institute, no. 381, Amsterdam 2008.
2 Vgl. hierzu auch den Ausstellungskatalog: Anette Hoffmann / Britta Lange / Regina Sarreiter (Hrsg.), Was Wir Sehen. Bilder, Stimmen, Rauschen. Zur Kritik anthropometrischen Sammelns, Basel 2012 [Eine Ausstellung von Anette Hoffmann im Atrium im Pergamon-Palais, Berlin, bis 6.7.2012].
3 Die Ankündigung der Publikation „Geschichte der Abteilung Kairo des DAI im Spannungsfeld deutscher politischer Interessen“ der Ägyptologin Susanne Voss verspricht eine differenziertere Analyse hierzu.