Die Prozesse der nationalen Identitätsbildung sind in Deutschland und Polen eng miteinander verbunden, verfolgten aber nach 1848 immer mehr sich exkludierende Modelle, die vielfach von negativer Stereotypisierung des jeweils anderen begleitet waren. Das Ziel der nationalpolnischen Bewegung eines eigenen polnischen Nationalstaates musste beinahe zwangsläufig in Konflikt geraten mit den Interessen der Teilungsmacht Preußen, in deren östlichen Gebieten, dem Großherzogtum Posen, Schlesien, Ost- und Westpreußen, ja auch zahlreiche Polen lebten. So kam es zu einem Ringen zwischen unterschiedlichen Konzepten der identitätsstiftenden Integration der Bevölkerung in den Grenz- und Mischgebieten. Die Zeit nach der Reichsgründung 1871 war geprägt durch eine repressive Germanisierungspolitik, zunächst unter Reichskanzler Bismarck (Kulturkampf, Polenausweisungen), dann später durch den regierungsamtlich unterstützten Ostmarkverein und repressive Gesetze. Getragen wurde diese Politik vor allem vom rechtsliberalen und konservativen Nationalismus: Die Angst vor polnischen Aufständen zielte in diesen Konzeptionen auf eine Eliminierung oder völlige Assimilierung der Polen an die deutsche Kultur. Freilich gab es auch differente politische Konzepte, die auf Integration durch Minderheitenrechte und Schutz der Minderheitenkultur setzten. Regionale, historisch gewachsene Identitäten der Bevölkerung in den Mischgebieten wurden schwächer, verschwanden aber nicht völlig und konnten ebenfalls ein Gegengewicht gegen exklusivistische und homogenisierende Nationalismen bilden. Zwei wichtige Detailstudien helfen zu einem differenzierteren Blick auf diese Nationalisierungsprozesse.
Robert Trabas Werk ist eine überarbeitete Übersetzung seiner polnischsprachigen Dissertation aus dem Jahr 19941, die eine historisch klar umrissene Region, das Ermland, in den Blick nimmt. Die traditionell ostpreußische Region, die zum Hochstift der ermländischen Bischöfe gehörte und der Krone Polens unterstellt war, blieb im Reformationszeitalter katholisch, was ihr seit 1772 in Ostpreußen einen distinkten Sonderstatus zukommen ließ. Die Region war kleinstädtisch und agrarisch geprägt, im südlichen Ermland um Allenstein gab es auch eine große polnischsprachige Minderheit. Die Identität war im 19. Jahrhundert vor allem durch den Katholizismus geprägt, auch durch eine traditionelle Loyalität dem Haus Hohenzollern gegenüber. Traba untersucht vor allem die seit 1871 erscheinenden regionalen ermländischen Zeitungen (am wichtigsten seit 1872 die „Ermländische Zeitung“), um in Verschränkung mit dem sich ausbildenden Milieukatholizismus den Wandel der kollektiven Identitätszuschreibungen zu verfolgen. Er gibt zunächst einen detailreichen Überblick über die Prozesse der Vereinsbildung (vor allem Bauern-, Gesellen- und Arbeitervereine), der Organisation der dominanten Zentrumspartei und der Presse im Ermland. So kann er zeigen, dass das katholische Milieu im Ermland stark auf den Klerus konzentriert war, wobei Bischof Andreas Thiel (1886–1908) der integralistischen Berliner Richtung folgte. Dominant wurde die Zentrumspartei, die den Kulturkampf scharf ablehnte, dabei aber die Kritik am Regierungshandeln mit Hohenzollernloyalität verband. In den Gebieten der polnischen Minderheit gab es lange Zeit keine vergleichbare katholische Bewegung; auch gab es kaum nationalpolnische Aspirationen, anfangs auch nicht in der 1886 gegründeten „Gazeta Olsztýnska“. Der ganz überwiegend deutsche Klerus und das Zentrum sahen sich mit den Polen im Eintreten für die Rechte der Kirche geeint und setzten sich für das Polnische in der Schule (Religionsunterricht) ein.
Nach Ende des Kulturkampfs rückte freilich auch das ermländische Zentrum stärker an die Berliner Regierungspolitik heran, während in der „Gazeta Olsztýnska“ nationalpolnische Tendenzen stärker wurden. Der Klerus bekämpfte diese Tendenz massiv und propagierte eine katholisch-ermländische Identität, in den katholischen deutschen Vereinen blieben auch viele Polen organisiert. Dennoch nahm die Bindekraft der tradionellen, regionalen Identität zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab. Die Stärke von Trabas Untersuchung liegt also nicht nur in der mikrogeschichtlich dichten Beschreibung dieser Prozesse, sondern auch im Nachweis, dass eine konfessionell katholisch aufgeladene regionale Identität lange Zeit der Sogkraft eines Exklusionsmechanismus widerstand und in späterer Zeit diesen immerhin mitunter wenigstens mildern konnte.
Von einer anderen Perspektive nähert sich die Freiburger Dissertation von Robert Spät den Fragen von Germanisierung und Polonisierung an, indem sie die öffentliche Debatte (Parlament, Zeitungen) um die preußische Polenpolitik in Deutschland nach dem Scheitern der „Versöhnungsära“ (1890–1894) unter Reichskanzler Leo von Caprivi analysiert. In den beiden Jahrzehnten vor dem Weltkrieg war die öffentliche Meinung in den Debatten um die Schul-, Sprach- und Siedlungspolitik gespalten: Konservative, Nationalliberale und radikalnationalistische Verbände wie der Deutsche Ostmarkverein beschworen die „polnische Gefahr“: Da sich die Polen nicht assimilieren ließen und die deutsche Bevölkerungsmehrheit im Osten gefährdeten, zielte man auf deutsche Ansiedlungen und eine Unterdrückung der polnisch-kulturellen Besonderheiten. Die Linke, das Zentrum und die polnische Fraktion in Reichs- und Landtag kritisierten diese Regierungspolitik („Hakatismus“), indem sie die Minderheit gleichberechtigt am Staatsleben teilhaben lassen wollten; Muttersprache, Kultur und Religion brauche der Staat nicht uniform zu diktieren. Bei allen fest konturierten Lagern gab es doch mitunter auch Flexibilitäten, wenn sich die Fragen mit anderen Interessen mischten; zudem auch querliegende Strömungen und Richtungen, etwa wenn sich Polen zu Wort meldeten, die sich bewusst als Preußen verstanden.
Eine noch prominentere Rolle musste die polnische Frage dann aber in der deutschen Kriegsöffentlichkeit, vor allem nach der Besetzung Kongresspolens 1915, einnehmen. Das Angebot polnischer Politiker und Publizisten, einen polnischen Nationalstaat als loyalen Verbündeten des Deutschen Reichs zu errichten, hatte vor allem im Zentrum, bei den Linksliberalen und der SPD Unterstützung. Zeitungen und Zeitschriften zeigten ein neu erwachtes Interesse an polnischer Kultur. Am 5. November 1916 proklamierten die Mittelmächte das Königreich Polen, ein Projekt, das an den zu stark divergierenden Erwartungen schließlich scheiterte, da die polnische Seite auf eine deutlich größere Unabhängigkeit zielte. Bis dahin war die öffentliche Debatte in Deutschland durch Euphorie und ein Ausblenden der zu erwartenden Schwierigkeiten bestimmt gewesen. Nach der Zäsur der Proklamation kippte die Stimmung auf beiden Seiten. Die polnischen Abgeordneten im Reichstag kritisierten die nur teilweise gemilderte preußische Polenpolitik massiv. Die Position, die auf eine deutsch-polnische Verständigung zielte, geriet nun völlig in die Defensive. 1918 verkörperte der polnische Staat mit seinen vormals deutschen Gebieten dann die radikale Desillusionierung der deutschen Öffentlichkeit durch die Kriegsniederlage, nachdem vor allem die Oberste Heeresleitung bis zum Schluss die Hoffnung auf einen Siegfrieden lebendig gehalten hatte. Quer durch fast alle Parteien betrachtete man besonders die Gebietsabtretungen in Posen und Westpreußen mit ihren deutschen Bevölkerungsgruppen als Schmach, zumal die Polen gemäß der Stereotype seit dem 19. Jahrhundert als zivilisatorisch unterentwickelt galten; die Haltung der polnischen Politiker im Krieg wurde nun als bewusste Täuschung gewertet. Auf andere Weise als diejenige Trabas trägt also auch die Studie von Spät zu einem differenzierteren Bild auf die preußische Germanisierungspolitik und die damit verbundene Nationalitätskonzeption bei und zeigt, dass radikal-chauvinistische Zielvorstellungen lange Zeit nicht unangefochten waren und schließlich vor allem Angst die Beziehungen vergiftete.
Anmerkung:
1 Robert Traba, Niemcy –Warmiacy – Polacy 1871–1914. Z dziejów niemieckiego ruchu katolickiego I stosunów polsko-niemieckich, Olsztyn 1994.