P. Kratz: Eine Stadt und die Schuld

Title
Eine Stadt und die Schuld. Wiesbaden und die NS-Vergangenheit seit 1945


Author(s)
Kratz, Philipp
Series
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts
Published
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Extent
432 S.
Price
€ 42,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Alexander Kraus, Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation, Stadt Wolfsburg

Nachdem das Thema der Vergangenheitspolitik und -bewältigung der NS-Zeit in den 1990er-Jahren für die Bundesebene auf die Agenda der Geschichtswissenschaft gerückt ist1, in den letzten Jahren dann vermehrt die Geschichte einzelner Behörden wie des Auswärtigen Amtes oder des Bundeskriminalamtes im Fokus stand2, lenkt der Historiker Philipp Kratz mit seiner Jenaer Dissertationsschrift nun den Blick direkt auf die lokale, städtische Ebene – und dies mit oftmals überraschenden Ergebnissen. Dabei erzählt er die inzwischen mehr als siebzigjährige Geschichte der NS-„Vergangenheitsbewältigung“ der Stadt Wiesbaden, getreu dem Plädoyer Malte Thießens für eine „Lokalisierung von Geschichtspolitik“3, sowohl als Erfolgs- wie auch als Defizitgeschichte.

Erfolg zeige sich im Falle Wiesbadens nicht zuletzt an den langfristigen und dauerhaften Veränderungen in der Gedenkkultur, die sich ab 1979 in einer stark gestiegenen Anzahl erinnerungskultureller Akte ebenso manifestierten wie in neuen „Verhaltens-, Artikulations- und Repräsentationsformen, die das Leid der Opfer [der NS-Herrschaft] deutlich emphatischer als zuvor in den Mittelpunkt rückten“ (S. 245). Defizite konstatiert Kratz bei der ausgebliebenen Strafverfolgung von NS-Tätern und den nachgerade skandalösen personellen Kontinuitäten in repräsentativen Ämtern sowie nicht zuletzt der großen Zahl nicht entschädigter NS-Opfer. Generell waren es, wie der Autor en détail aufzuzeigen vermag, meist die NS-Verfolgten, die den hohen und oftmals „unterschlagene[n] moralische[n] Preis für die massenhafte Integration der einstigen Anhänger und Funktionseliten des Dritten Reiches“ zu begleichen hatten (S. 391).

Den Untersuchungsgegenstand Wiesbaden hat Kratz dabei mit Bedacht gewählt. Anders als Hamburg, Berlin oder Nürnberg, zu denen bereits vergleichbare lokalgeschichtliche Untersuchungen als Pionierarbeiten erschienen sind, sei Wiesbaden im Vergleich zur Hansestadt keine Metropole, als Landeshauptstadt „und als Sitz mehrerer Bundesbehörden“ nach 1945/49 zugleich aber auch „weniger provinziell als Nürnberg“. Spezifische Eigenheiten oder gar eine besondere Nähe zum NS-Regime wie Berlin als Reichshauptstadt oder Nürnberg als „Stadt der Parteitage“ könnten für Wiesbaden während der NS-Zeit ebenfalls nicht nachgewiesen werden. So habe die örtliche NSDAP bei Wahlen in den 1930er-Jahren allenfalls leicht über dem Reichsdurchschnitt liegende Ergebnisse erzielen können. Es sei gerade die „‚Gewöhnlichkeit‘ und ‚Durchschnittlichkeit‘“, so Kratz, die Wiesbaden für die Untersuchung interessant mache (S. 31f.).

Der rote Faden der am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts bei Norbert Frei entstandenen Studie ist die gut gewählte Frage nach der Schuld – gut gewählt insofern, als Kratz ebenso anschaulich wie plausibel darzulegen vermag, dass sich zwischen den geschichtspolitischen Lagern der Stadtgesellschaft und des Parteienspektrums ein Konsens stets nur dann bilden konnte, wenn die Schuldfrage in den Hintergrund gerückt wurde. War dies nicht der Fall, „kam es zu erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen“. Erst das Ausblenden der Schuldfrage habe das Opfergedenken „für alle politischen Entscheidungsträger anschluss- und konsensfähig“ werden lassen (S. 388).

Der Wiesbadener Entwicklungsprozess hin zum erinnerungspolitischen Konsens – von Kratz im überzeugenden Sechsschritt „Abrechnung“, „Schweigen“, „Bewältigung“, „Politisierung“, „Aufarbeitung“ und „Bewahrung“ mit großer Klarheit chronologisch analysiert – verlief dabei alles andere als geradlinig; er wich dabei meist auch nur graduell von den Phasen der bundesdeutschen Vergangenheitspolitik insgesamt ab. Es ist der Anspruch des Autors, über die „lokale Konkretisierung“ zu veranschaulichen, „wie vielschichtig Prozesse des westdeutschen Umgangs mit der NS-Vergangenheit funktionierten und wie komplex sie tatsächlich waren“ (S. 119). Besonders anschaulich gelingt ihm das beispielsweise anhand der Biografie des Lokalpolitikers Erich Otto Friedrich Mix (1898–1971). Dieser stieg vom gewöhnlichen preußischen Verwaltungsbeamten über eine Station im thüringischen Mühlhausen, wo er als Parteiloser in den Stadtrat gewählt wurde, zunächst zum zweiten, nach einem machtpolitischen Ränkespiel zwei Monate nach der „Machtergreifung“ schließlich zum Bürgermeister der pommerschen Stadt Stolp auf. Es begann die Bilderbuchkarriere eines Beamten im NS-Staat: Nachdem Mix unter anderem auch den Vorsitz des dortigen Gaugerichts innehatte, wurde ihm das Amt des Bürgermeisters in Stettin angetragen, von wo aus er nach Tilsit wechselte, um den Posten des Oberbürgermeisters zu übernehmen. Dort wurde ihm, der bereits 1932 in die NSDAP eingetreten war und deshalb zu den „alten Kämpfern“ zählte, von seinem militärischen Vorgesetzten bescheinigt, „ein überzeugter Nationalsozialist“ zu sein, wie seiner Personalakte zu entnehmen ist (S. 92). Als dann nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten ein Nachfolger für den Wiesbadener Oberbürgermeister gesucht wurde, fand sich Mix aufgrund seiner engen Bande zur Partei rasch als Kandidat wieder und wurde im April 1937 ins Amt gesetzt, das er bis zum Kriegsbeginn bekleidete. Nach präziser Analyse der kommunalpolitischen Praxis des SS-Führers Mix kommt Kratz zum Schluss, dass dieser alles andere als ein „bloßer Befehlsempfänger“ gewesen sei. Vielmehr habe es sich „um einen kommunalen Spitzenbeamten [gehandelt], der unter den Bedingungen der NS-Diktatur Handlungsspielräume besaß und sie auch nutzte“ (S. 95).

Und dieser kommunale Spitzenbeamte des NS-Regimes konnte, nachdem er bei Kriegsbeginn als Pilot wieder in den Militärdienst getreten und zwischenzeitlich von Joseph Goebbels gar als Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters in Berlin gehandelt worden war, nach 1945 seine politische Karriere in Wiesbaden fast nahtlos fortsetzen. Ausgangspunkt dafür war Mix’ aus seiner Sicht erfolgreich durchlaufenes Entnazifizierungsverfahren, an dessen Ende es ihm gelang, offiziell als „Mitläufer“ eingestuft zu werden. Wie es möglich war, dass Mix so reibungslos entnazifiziert wurde, dass er zunächst noch als Gutachter für Finanzfragen, dann als Mitglied der neugegründeten FDP als Stadtverordneter ins Kommunalparlament einzog – und, wie Kratz zu zeigen vermag, „nicht etwa trotz, sondern vielmehr wegen seiner NS-Vergangenheit reüssieren konnte“ (S. 110) – und 1954 in Wiesbaden sogar ohne einen Aufschrei der Empörung wieder zum Oberbürgermeister gewählt werden konnte, zeichnet Kratz in einer minutiösen Analyse der relevanten stadtgesellschaftlichen und parteipolitischen Prozesse nach. Dazu zählte auch, dass eben nicht „die Thematisierung des Unrechts der NS-Zeit [...] bei der Gewinnung von Wählerstimmen“ half, sondern das diskrete Verschweigen desselben (S. 117).

Das besondere Potenzial der lokalgeschichtlichen Analyse wird besonders im Kapitel „Aufarbeitung“ deutlich, in dem Kratz die Jahre von 1979 bis 1992 untersucht, als die Versäumnisse in der Wiesbadener Politik und Verwaltung erkannt wurden. Als Auslöser für die einsetzenden erinnerungspolitischen Debatten macht Kratz die Ausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ im Januar 1979 aus, auf die nicht nur die Lokalpresse massiv reagierte. Zehntausende Zuschauer und Zuschauerinnen wandten sich an die Fernsehredaktionen der dritten Programme sowie an die Landeszentralen für politische Bildung – auch in Hessen; Lehrer besuchten mit ihren Schulklassen nun verstärkt die 1966 eingeweihte neue Synagoge in Wiesbaden. Tatsächlich habe sich nach der Ausstrahlung von „Holocaust“ „das gesamte politische Spektrum der Stadt“ zu Stellungnahmen veranlasst gesehen (S. 253). Folge dieser nunmehr intensivierten Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit sei auch gewesen, dass die jüdischen Verfolgten erstmals ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung rückten. Gerade die offiziellen Gedenktage – und die Kontroversen um sie – bekamen nun eine neue Dynamik. Mit der Rekonstruktion der Debatte rund um die anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes einberufene Sondersitzung der Stadtverordnetenversammlung schafft Kratz’ Studie eine wertvolle Korrektivfunktion für bislang nachgezeichnete Diskurse jener Zeit. Denn im Abgleich von Positionen und Reden der Fraktionen mit der stets als „erinnerungspolitische Zäsur“ gesetzten Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1945 wird deutlich, dass dessen „multiperspektivische Sicht auf die Erfahrungen der Zeitgenossen des 8. Mai keine geschichtspolitische Innovation“ darstellte, waren doch ähnliche Aussagen andernorts schon früher und mitunter eindeutiger formuliert worden. Für Kratz erklärt sich die Resonanz der Weizsäcker-Rede vielmehr dadurch, dass „ausgerechnet ein prominenter Vertreter der CDU [...] alle angeführten Thesen in einer Rede gebündelt vertreten hatte“ (S. 293).

Es sind Erkenntnisse wie diese, die den besonderen Wert der Lokalstudie selbst in einem so gut erforschten Themenfeld wie der NS-„Vergangenheitsbewältigung“ klar vor Augen führen: Ob in den sich jahrzehntelang hinziehenden Debatten um das nie erbaute zentrale Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Wiesbaden, das trotz eines zweifachen Beschlusses zur Realisierung (1986 und 1999) bis heute einer Umsetzung harrt (2005 hatte sich der „erinnerungspolitische Wind“ gedreht, das Stadtparlament lehnte das Monument mit einer Mehrheit aus CDU, FDP und Republikanern ab), oder bei der erfolgreichen Realisierung des Mahnmals für die Sinti, die nicht einmal ein Jahr nach Beschlussfassung erfolgte und das 1992 bundesweit das erste dieser Art war – Philipp Kratz’ Studie gleicht nicht nur aufgrund solcher scheinbar widersprüchlichen Prozesse einer dicht gefüllten Fundgrube. Wenn es darum geht, politische Entscheidungsverläufe und -diskurse auf der Akteursebene nachzuvollziehen, wird man in seinem Buch fündig. Es ist der Studie daher eine Resonanz weit über Wiesbaden hinaus zu wünschen, bringt sie doch mit großer Kennerschaft Licht in die Grauzonen der „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus.

Anmerkungen:
1 Siehe beispielsweise Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005; Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001; Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005.
2 Martin Sabrow / Christian Mentel (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte, Frankfurt am Main 2014; Imanuel Baumann u.a., Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011, https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/Publikationsreihen/PolizeiUndForschung/Sonderband2011SchattenDerVergangenheit.html (27.10.2019). Einen Überblick zu den Studien im Behördenauftrag bis Herbst 2015 geben Christian Mentel / Niels Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung. Herausgegeben von Frank Bösch, Martin Sabrow und Andreas Wirsching, München 2016, https://doi.org/10.14765/zzf.dok.1.1144 (27.10.2019).
3 Malte Thießen, Das kollektive als lokales Gedächtnis. Plädoyer für eine Lokalisierung von Geschichtspolitik, in: Harald Schmid (Hrsg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis, Göttingen 2009, S. 155–176.

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