Cover
Titel
France’s Long Reconstruction. In Search of the Modern Republic


Autor(en)
Chapman, Herrick
Erschienen
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Kaelble, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg fand im westlichen Kontinentaleuropa in einer Periode außergewöhnlichen Wirtschaftswachstums statt, die in Frankreich als trente glorieuses, in Deutschland als Wirtschaftswunder bezeichnet wurde. Wieder aufzubauen war nicht nur die Wirtschaft, die zerstörten Städte und die Infrastruktur, sondern auch die Demokratie, die in Deutschland zwölf Jahre zuvor und in Frankreich vier Jahre zuvor zerstört worden war. Wie massiv der Staat in den wirtschaftlichen Wiederaufbau intervenierte und wie belastet die wiederentstehende Demokratie war, ist in den meisten westeuropäischen Ländern umstritten. Während in der Bundesrepublik Deutschland das Wirtschaftswunder meist als entscheidender Faktor für die Stabilisierung der Demokratie angesehen wird, macht Herrick Chapman, einer der besten Frankreichexperten unter amerikanischen Historikern, die Spannungen zwischen dem wirtschaftlichen Wiederaufbau und der wieder entstehenden Demokratie zum zentralen Thema seines Buches. Er sieht sie vor allem als Spannungen zwischen der Technokratie, der immer mächtigeren französischen Verwaltungselite, und den Partizipationsansprüchen der Demokratie in der IV. und V. Republik. Frankreich stand dabei vor dem damals neuen Problem, dass die Zerstörungen der Wirtschaft, vor allem der Städte und der Infrastruktur, viel umfangreicher waren als im Ersten Weltkrieg und die Demokratie durch die Niederlage von 1940 gegen das NS-Deutschland stark diskreditiert war.

Chapman argumentiert, dass es den politischen Eliten, Parteien, Interessengruppen und Bürgerbewegungen während der „long reconstruction“ zwischen 1944 und 1962 nicht gelang, die Spannungen zwischen Demokratie und Technokratie abzubauen, sondern dass diese Spannungen während der IV. Republik sogar verschärft und durch die V. Republik ab 1958 institutionalisiert wurden. Der Gegensatz zwischen Technokratie und Demokratie wurde in seinen Augen der übliche Rahmen, in dem politische Probleme formuliert wurden. Die Stärke der technokratischen Verwaltungselite hatte für ihn nicht nur mit der neuen Verfassung der V. Republik und der langen französischen Traditionen von Bürokratie zu tun, sondern entstand vor allem während des langen Wiederaufbaus schon während der IV. Republik. Auch wenn aus dem Wiederaufbau in Frankreich nicht nur die Technokratie gestärkt hervorging, sondern auch Interessengruppen und soziale Bewegungen aktiver wurden und 1968 die Politik für kurze Zeit beherrschten, erhielt die Demokratie in Frankreich doch eine distinctive volatility, eine besondere Unbeständigkeit.

Chapman glaubt, dass er diese Fragen des langen Wiederaufbaus Frankreichs besser beantworten kann als andere Historiker, die bisher den Wiederaufbau Frankreichs vor allem über Politiken des Staates wie etwa die Modernisierung der Industrie und der Infrastruktur oder den Aufbau des Wohlfahrtsstaates oder die Wohnungsbaupolitik oder die Ausbildung der Spitzenbeamten zu erfassen versuchten. Er untersucht Politikfelder (policy domains). Er scheint damit zu meinen, dass er nicht nur staatliche Interventionen, sondern auch die Forderungen und Wirkungen von Interessenverbänden und Bürgerorganisationen in der Politik untersucht. Er hat dafür vier politische Felder ausgesucht, in denen die Staatsintervention in seinen Augen besonders stark zunahm: Arbeitspolitik und Immigration, Steuerreform und kleine Unternehmen, Familienpolitik als Herzstück des Wohlfahrtsstaates und die Nationalisierung von Banken und Industrien als Schlüssel zur Reform der Wirtschaft Frankreichs. Daneben untersucht Chapman in drei Kapiteln speziell die Beziehung zwischen der staatlichen Bürokratie und der demokratischen Erneuerung: die Zeit der Befreiung, als de Gaulle und andere Politiker die staatliche Autorität wieder herstellten (Kapitel 1); zwei zentrale politische Figuren, der Linksliberale Mendes-France und der Gaullist Michel Debré, die sich mit den Spannungen zwischen Demokratie und Technokratie auseinandersetzten (Kapitel 6); der Algerienkrieg und seine Auswirkungen auf die Stärkung der staatlichen Autorität (Kapitel 7). Chapman wendet sich im Ganzen gegen den zu großen Glanz, die Konsensualität und die Kohärenz, die von Historikern und Ökonomen wie Fourastié mit dem Ausdruck „trente glorieuses“ dem französischen Wiederaufbau zugeschrieben wurden. Er möchte vielmehr die Komplexität, die Konflikte und auch die Ungewissheiten des Wiederaufbaus herausarbeiten.

Das Buch wirft durchaus Fragen auf. Es ist nicht leicht nachzuvollziehen, warum Chapman gerade die genannten vier politischen Felder ausgesucht hat und nicht den Wohlfahrtsstaat als Ganzes, den Agrarsektor und den besonders starken französischen Dienstleistungssektor, die neue Exportstärke Frankreichs, die Eliteschulen, die neuen Verfassungen, die Außenbeziehungen Frankreichs, dabei als wesentlichen Teil der Modernisierung die europäische Integration. Zudem enthält seine These einen Widerspruch: Einerseits vertritt er die häufig anzutreffende These, dass die V. Republik mit ihrem starken Präsidenten, ihrer mächtigen Verwaltungselite und ihrem schwachen Parlament, überhaupt ihren geringen Partizipationsmöglichkeiten, zu massiven und oft auch wirkungsvollen Massendemonstrationen auf der Straße gegen die Gesetzgebung der Regierung geführt hat. Gleichzeitig zeigt er aber, dass in den von ihm untersuchten Politikfeldern, darunter vor allem in der Familienpolitik und in der Nationalisierungspolitik, aber auch in der Migrationspolitik, die Partizipation von unten, der Einfluss von Bürgerorganisation, Interessengruppen und Experten stark war, und revidiert für diese Bereiche die beliebte These von den fehlenden intermediären Gruppen in Frankreich. Technokratische Verwaltungselite und Partizipation standen also keineswegs überall in Spannung zueinander. Am Ende wird nicht voll geklärt, wie gewichtig diese Partizipation war und ob massenhafte Straßendemonstrationen tatsächlich der einzige Ausweg für den Dissens der Bevölkerung blieben. Schließlich bleibt ein wesentlicher Teil der Modernisierung Frankreichs während des Wiederaufbaus, die gesellschaftliche Modernisierung, die schon vor Jahrzehnten von dem Soziologen Henri Mendras und zuletzt für den Konsum durch Jean-Claude Daumas behandelt wurde, am Rande seiner Studie.

Aber Chapmans Buch hat auch unverkennbare Vorzüge. Für die vier von ihm ausgewählten Politikfelder hat er in gründlichen Literatur- und auch Archivrecherchen nicht nur die staatliche Politik, sondern auch die nichtstaatlichen Akteure verfolgt und damit Neues über Partizipation in diesen vier Politikfeldern erschlossen. Das Buch rüttelt damit doch an dem vereinfachenden Bild einer allmächtigen Verwaltungselite und der Schwäche von intermediären Gruppen im Frankreich der V. Republik. Es bietet zudem einen differenzierten Zugang zum nicht immer gloriosen Wiederaufbau Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg und den trente glorieuses. Es wäre reizvoll, mit einem ähnlichen Blick den Vergleich mit dem Wiederaufbau in der Bundesrepublik Deutschland, in Italien und den Niederlanden zu ziehen. Für deutsche Leser ist das Buch auch ein Augenöffner für die Beziehung zwischen hohem Wirtschaftswachstum und stabiler Demokratie. Der kritische Blick auf das Wirtschaftswunder konzentriert sich in der deutschen Forschung meist auf Verlierer des Wirtschaftswunders oder auf Konstruktionsschwächen und Fehlentwicklungen des Booms. Insgesamt legt Chapman ein gründlich recherchiertes, kenntnisreiches, innovatives Buch vor, das sich auch für Historiker des Booms in Deutschland zu lesen lohnt.

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