H. Weber u.a. (Hgg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005

Titel
Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005.


Herausgeber
Weber, Hermann; Mählert, Ulrich; Bayerlein, Bernhard H. u.a.
Erschienen
Berlin 2005: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maciej Górny, Warschau

Der zwölfte Band des Jahrbuchs für historische Kommunismusforschung zeigt ein breites, internationales Panorama der Geschichte der kommunistischen Bewegung und der staatssozialistischen Regime. Als Schwerpunkte dieses Heftes können drei Themenfelder benannt werden: die russische, bzw. sowjetische Vergangenheitspolitik von 1941 (Bernd Bonwetsch) bis heute (zwei höchstinteressante Analysen von Jan Foitzik und Andreas Langenohl); die Nachkriegspolitik in Österreich aus der Sicht des Kreml (Stefan Karner und Peter Ruggenthaler) sowie ein Beitrag zur Geschichte der KPÖ (Wolfgang Mueller). Die zwei letztgenannten Texte schöpfen aus neuzugänglichen russischen Archien. Das dritte Themenfeld bilden drei sehr unterschiedliche Texte mit südosteuropäischem Schwerpunkt: Behandelt werden hier Zivilreligion in Jugoslawien unter Tito (Sergej Ferle), der rumänische Schauprozess gegen den katholischen Klerus 1951 (William Totok) und die Familienpolitik in Bulgarien zwischen 1944 und 1989 (Ulf Brunnbauer).

Der Text von Bonwetsch behandelt den „Großen Vaterländischen Krieg“ und die damit verbundene symbolische Politik seit 1941, um abschließend festzustellen, „dass sich auf lange Sicht an der russischen Erinnerungskultur seit der Brežnev-Zeit wenig geändert hat“ (S. 42). Eine detaillierte Untersuchung aktueller russischer Geschichtslehrbücher von Jan Foitzik unterstützt diese These: Die analysierten Bücher verbreiten auf demagogische Art und Weise nationalistische Narrative (beispielhaft ist hier die Bewertung des Aufstandes in Ungarn 1956 als „antisowjetischer und antisozialistischer Aufstand“), nicht ohne antideutsche, antiamerikanische und antisemitische Zwischentöne. Foitzik betont allerdings zugleich, dass sich der Umgang mit der russischen Geschichte in den Lehrbüchern durchaus verbessert hat, aber „kritische Maßstäbe, die im Innern gelten, gelten nicht für und gegen alle, sondern leiden unter der Zweiteilung in wir und die anderen“ (S. 65). Andreas Langenohl fügt noch eine Beschreibung der russischen Erinnerungskultur der jüngsten Zeit hinzu, die ihre Entwicklung von einer „Demilitarisierung“ in der Ära Jelzins bis hin zum heutigen Gebrauch im Dienste der Putinschen Machtpolitik analysiert.

Der Fall Österreich ist umso interessanter, als dort die ersten Nachkriegsjahre ähnliche Entwicklungen brachten wie in anderen Staaten Ostmitteleuropas, diese hier aber ganz unterschiedliche Folgen hatten. Stefan Kerner und Peter Ruggenthaler schildern auf der Grundlage von Aktenbeständen aus dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation und dem Russischen Staatsarchiv die sowjetische Politik gegenüber einem Land, das Stalin für unwichtig hielt und das er eher als Mittel betrachtete, um die sowjetische Präsenz in Ungarn und Rumänien zu sichern. Wolfgang Mueller beschreibt diese Politik aus österreichischer Perspektive als eine Hilfe für die KPÖ, die „niemals jenes Ausmaß erreichte, das notwendig gewesen wäre, um den Freunden an die Macht zu verhelfen, […] aber dennoch offensichtlich genug [war], um die Kommunisten in den Augen der Bevölkerungsmehrheit als Agenten Moskaus erscheinen zu lassen“ (S. 170).

Im Rahmen des südosteuropäischen Länderschwerpunkts skizziert Sergej Flere eine spezifische jugoslawische Zivilreligion, die auf Titos Charisma aufbaute und ohne ihn, wie sich herausstellte, keine Zukunft hatte. Zu den interessantesten Aufsätzen zählt die Analyse der Familienpolitik in Bulgarien von Ulf Brunnbauer. Er zeichnet die Spannungen zwischen verschiedenen Elementen der kommunistischen Politik nach, die zwar die Gleichberechtigung der Frauen auf ihre Fahnen geschrieben hatte, aber an einer Neudefinition der männlichen Rollenbilder scheiterte. Seit den späten 1960er-Jahren wurde stattdessen versucht, durch eine Kombination von unterstützenden und restriktiven Maßnahmen die Geburtenrate zu erhöhen. Der Umgang mit den Frauen, die einerseits offiziell als „emanzipiert“ galten, andererseits nun aber zur Stärkung der Nation beitragen sollten anstatt ihre eigene Persönlichkeit und Karriere zu fördern, stellte nicht das einzige Spannungsfeld dar. Da die Geburtenrate der bulgarischen Minderheiten wesentlich höher lag als die der Bulgaren selbst, versuchten die Behörden durch gezielte Politik nur die „eigene“ Bevölkerungsgruppe zu stärken. Insgesamt kann man Brunnbauer zustimmen, dass die bulgarische Familienpolitik die „Ambivalenz des kommunistischen Weges in die Moderne“ (S. 287) zeigt.

Aus den übrigen Aufsätzen ist Wladislaw Hedelers Beitrag erwähnenswert, der das Lager für Ehefrauen und Kinder der während des „Großen Terrors“ festgenommenen bzw. hingerichteten deutschen Kommunisten von dessen Gründung bis zum letzten Abtransport im Juli 1953 behandelt. Andere Abhandlungen untersuchen die Erinnerungspolitik und die Verfassungsgeschichte der DDR, den ungarischen Diktator Mátyás Rákosi im Lichte seiner posthum erschienenen Erinnerungen sowie den politischen Untergang des Kommunisten Rudolf Brassat, dessen vielversprechende Karriere im SED-Apparat in eine bittere Niederlage mündete.

Umfassende Sammelrezensionen, diesmal insbesondere zur Geschichte des Stalinismus, ergänzen wie gewohnt den Band. Als Beilage wird die Zeitschrift The International Newsletter of Communist Studies beigefügt, die Informationen über laufende Projekte, Internetseiten und Publikationen zum Thema Kommunismusforschung sammelt.

Auch das aktuelle Jahrbuch präsentiert sich somit als Teil eines ständig in Entwicklung begriffenen Projektes. Es ist bemerkenswert, wie die Herausgeber ihre Interessenfelder ausweiten und immer mehr internationale Facetten zum Thema Kommunismus zusammentragen. Dabei gelingt es auf beeindruckende Art, die Geschichte des Staatsozialismus in Ostmitteleuropa, die Geschichte Russlands und die Geschichte der kommunistischen Bewegung im Westen miteinander in Beziehung zu setzen. Was manchmal fehlt, ist die vertiefende Analyse. Wenn man z.B. die Publikationen zur neuesten Geschichte Polens bewertet, sollte man ihren gegenwartsbezogenen politischen Impetus nicht außer Acht lassen, um die grundlegenden Konflikte zwischen den Interpretationen von Andrzej Garlicki auf der einen und Paweł Śpiewak oder Zdzisław Krasnodębski auf der anderen Seite nicht zu überzusehen.

Wünschenswert wäre auch eine breitere Wahrnehmung der Geschichte des ostmitteleuropäischen Kommunismus, die bisher im Jahrbuch zumeist auf Polen beschränkt bleibt. Seltener erscheinen Beiträge zur Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien oder Jugoslawien, geschweige denn zur Geschichte der Ukraine und der baltischen Länder. Die Tatsache, dass z.B. das Jahrbuch 1995 einige Texte von tschechischen Autoren enthält, 2005 dann – wie erwähnt – ein ganzer Abschnitt Südosteuropa gewidmet ist, zeigt immerhin das Bemühen der Herausgeber auf diesem Gebiet. Gewisse Mängel kann man auch in der bibliografischen Sektion der International Newsletter of Communist Studies feststellen. So werden beispielsweise nur wenige polnische, tschechische, gar keine ungarischen, slowakischen, rumänischen oder bulgarischen Publikationen erwähnt, was der Entwicklung der ostmitteleuropäischen Kommunismusforschung bei Weitem nicht entspricht. Dies zeugt aber wohl eher von einer vorläufigen Schwäche des wissenschaftlichen Netzwerkes um das Jahrbuch, derer sich die Herausgeber wahrscheinlich bewusst sind und ihr in Zukunft entgegenarbeiten können. Die bisher veröffentlichten Jahrbücher zeigen jedenfalls deutlich, dass es hier um ein Projekt geht, das immer besser, umfassender und repräsentativer wird.

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