Cover
Titel
Survivors. Children's Lives After the Holocaust


Autor(en)
Clifford, Rebecca
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
$ 28.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wiebke Hiemesch, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Hildesheim

Die spezifische Situation jüdischer Kinder wurde sowohl im öffentlichen Gedenken als auch in der Erforschung der nationalsozialistischen Verbrechen lange Zeit wenig beachtet. Auch im privaten Umfeld sprachen die wenigen Child Survivors nach 1945 oftmals nicht über ihre Verfolgungserfahrungen.1 Bereits 2005 beschrieb Sharon Kangisser Cohen diese wechselseitigen Prozesse der individuellen und kollektiven Erinnerung in ihrer Interviewstudie „Finding their Voices”.2 Seit den 1990er-Jahren und verstärkt in den letzten Jahren finden Child Survivors dann einen Platz in der öffentlichen Erinnerung an die Shoah, auch weil sie die letzten sind, die noch persönlich berichten können. Wissenschaftliche Studien widmeten sich zunehmend den jüngsten Verfolgten, jedoch nicht als passive Opfer, sondern auch hinsichtlich deren historischem Akteurstatus angesichts der Extrembedingungen.3

An diesen Forschungsstand schließt Rebecca Clifford mit ihrem Buch „Survivors. Children’s Lives after the Holocaust“ an. Clifford, die bereits verschiedene Arbeiten im Bereich der Holocaust und Memory Studies vorlegte, interessiert sich in dieser Studie weniger für die Erfahrungen der Kinder während der Shoah, sondern vielmehr für die Zeit danach. Sie untersucht die Prozesse des Aufwachsens und des Älterwerdens vor dem Hintergrund einer „Kindheit geprägt von Chaos“ [„childhood marked by chaos“ (S. 4), Übers. W.H.]. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag für das skizzierte Forschungsfeld, der zudem zur Diskussion von Begriffen und Theorien anregt. Denn die Betrachtung der Shoah und ihrer Nachwirkungen unter der Perspektivierung von Kindern und Kindheit – Clifford spricht sehr treffend von dem „prism of child survivors’ lives“ – lasse bestehende Konzepte aus den Holocaust Studies und der Erinnerungsforschung wie „Trauma, Testimony, Survival, Silence“ (S. 259) ins Wanken geraten. Sie müssten vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Kinder anders ausgearbeitet werden. Was sie hier nicht benennt, aber mit hoher Sensibilität und Differenziertheit in ihrer Studie ausarbeitet: In das „moderne Deutungsmuster“ der Biographie als ein individuell zu gestaltender und sinnerfüllender Lebensverlauf, in dem der Kindheit eine Schlüsselrolle zukommt, werden Brüche geschlagen.4 Und so fragt Rebecca Clifford: “How can we make sense of our lives when we do not know where we come from?” Mit dieser Fragestellung ist ihre Studie an dem so erkenntnisreichen Schnittpunkt von Historischer Kindheitsforschung, Biographieforschung, Trauma- und Erinnerungsforschung sowie Holocaust Studies angesiedelt.

Ausgehend von Archivdokumenten recherchierte Clifford die Namen der Kinder, suchte nach späteren Aufzeichnungen und Berichten und führte, sofern sie noch auffindbar waren, selbst Gespräche. Ihre Interviewpartner:innen wurden zwischen 1935 und 1944 geboren und waren damit 1945 nicht älter als zehn Jahre. Alle überlebten in Europa. Die verwendeten Interviews entstanden zwischen den 1970er-Jahren und dem Zeitpunkt ihrer Forschungsarbeit.

Das Buch gliedert sich in elf Kapitel plus Einführung und Zusammenfassung, in denen Clifford die Erzählungen der Child Survivors dicht in die eigene Argumentation einwebt. Sehr sensibel erzählt sie auf dieser Grundlage, wie die Versatzstücke des Lebens biographisch geordnet werden. So schafft sie es, die Überlebensgeschichten vielschichtig und in ihren jahrzehntelangen Dynamiken darzustellen. Die einzelnen Kapitel zeichnen ein komplexes Bild, das sich nicht immer in abschließenden Sätzen resümieren lässt. Und so wird die Argumentation hier auch nur schlaglichtartig wiedergegeben.

In den ersten fünf Kapiteln stehen die unmittelbaren Nachkriegsjahre im Mittelpunkt. In Another War Begins skizziert Clifford die vielfältigen Situationen unter denen Kinder im Verborgenen, in der Emigration, bei Pflegeeltern, auf der Flucht oder in den Lagern überlebten. Sie analysiert zudem die persönlichen Herausforderungen: Viele Kinder hatten z.B. aufgrund ihres jungen Lebensalters kaum Erinnerungen an die Zeit vor der Verfolgung und erfassten erst mit der Befreiung 1945 das Ausmaß der Verbrechen. Nach dem Krieg begegneten den Kindern oft Menschen, wie z.B. überlebende Verwandte, die ihnen fremd geworden waren und ihre eigenen traumatischen Erfahrungen mitbrachten. In The Adult Gaze geht Clifford unter anderem auf das Engagement der Sozialen Arbeit in der Nachkriegsphase ein. Gleichzeitig verdeutlicht sie auch, dass gerade junge Überlebende aufgefordert wurden, ihre schmerzlichen Erinnerungen zurückzudrängen. Man hoffte, dass auf diese Weise die jüngsten Überlebenden die belastenden Erlebnisse schnell vergessen würden und ein neues Leben beginnen könnten. Darauf aufbauend werden in den folgenden Kapiteln weitere Aspekte herausgegriffen: Claiming Children skizziert den unterschiedlichen Verbleib der Kinder nach der Befreiung und die Emigrationsverfahren. In Family Reunion werden innerfamiliale Dynamiken und Herausforderungen differenziert. Mit Children of the Château widmet Clifford sich den Anstrengungen von Pädagog:innen, Kindergruppen ein sicheres Zuhause zu schaffen.

In Metamorphosis wiederum bespricht sie die Suche nach Informationen über die eigene Vergangenheit im Übergang in das Erwachsenenalter und in einer Gesellschaft, die sich einer Aufarbeitung der Verbrechen versperrte. Unter dem Titel Trauma geht Clifford auf eine Forschungsrichtung ein, die die seelischen Wunden der Kinder verstehen und heilen wollte, dabei aber auch Kinder mit Symptomen und Kategorisierungen belegte und auf die Rolle passiver Opfer reduzierte. An diesen Stellen argumentiert Clifford konsequent für einen vielschichtigen und durchaus widersprüchlichen Blick auf das Leben von Child Survivors, der deren Resilienz und Akteurschaft anerkennt (S. 7). Child Survivors seien lange Zeit mit dem „Mythos“ konfrontiert gewesen, als junge Überlebende The Lucky Ones zu sein. Dieser Mythos sei mit zunehmendem Alter und dem Gewahr-Werden der seelischen Auswirkungen der Shoah gebröckelt. Zugleich habe sich die Gruppe der Child Survivors formiert und eine „kollektive Geschichte“ [„collective story“ (S. 214), Übers. W.H.] ermöglicht, die den Einzelnen ein Erinnerungskollektiv für die vielfältigen Über-Lebenslagen bot und ihre auch fragmentarischen Erinnerungen als Zeugnis der Verbrechen anerkannte (Becoming Survivors). So hätten sie eigene Narrative und Erzählformen entwickeln können, die es ihnen ermöglichten, ihre Lebensgeschichte einem Gegenüber zu erzählen (Stories). Das letzte Kapitel Silences widmet sich schließlich den verschiedenen Facetten von Schweigen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten.

Rebecca Clifford legt mit Survivors eine differenzierte und einfühlsame Studie vor, die sich mit dem Verhältnis von Kindheit, Erinnerung und biographischer Sinnbildung vor dem Hintergrund der Shoah beschäftigt. Auch für die Historische Kindheitsforschung und die Biographieforschung hat sie damit einen anregenden Beitrag geleistet. Besonders hervorzuheben ist, dass sie mit ihrer Auswahl an Biographien gerade den sehr jungen Überlebenden und ihren oftmals fragmentarischen Erinnerungen eine Sichtbarkeit verleiht, die in der historischen Forschung bisher nur selten aufschienen. Viele Child Survivors hatten keine Klarheit über ihre Vergangenheit, weil sie sich nicht bewusst erinnerten, Erinnerungen fragmentarisch waren und die Verwandten, die zur Aufklärung beitragen könnten, ermordet wurden. Von der Wissenschaft wurden ihre Erinnerungen aus diesem Grund lange Zeit als unzureichend kritisiert. Cliffords Studie hebt jede Einzelne der von ihr recherchierten Biographien hervor und hält sie für die Zukunft fest. Sie berührt und zeichnet ein differenziertes Bild des Lebens der Kinder nach der Shoah.

Anmerkungen:
1 Der Begriff „Child Survivor“ bezeichnet in der Regel jüdische Kinder und Jugendliche, die die Shoah im Versteck, als Partisanen, in Ghettos oder in Lagern überlebten und am Ende des Krieges nicht älter als 16 Jahre alt waren. Vgl. Sharon Kangisser Cohen, Child Survivors of the Holocaust in Israel. „Finding Their Voice“. Social Dynamics and Post-War Experiences, Brighton 2005, S. 2.
2 Ebd.
3 Vgl. u.a. Deborah Dwork, Kinder mit dem gelben Stern. Europa 1933–1945, München 1994; Nicolas Stargardt, Witnesses of War. Children’s Lives under the Nazis, London 2005; Verena Buser, Überleben von Kindern und Jugendlichen in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Auschwitz und Bergen-Belsen, Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager 1933–1945 Band 13, Berlin 2011; Alwin Meyer, Vergiss deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz, Göttingen 2015; Tara Zarah, The Lost Children: Reconstructing Europe's Families after World War II, Cambridge 2011; Wiebke Hiemesch, (Über-)Lebenserinnerungen. Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück, Köln 2017.
4 Peter Ahlheit / Bettina Dausien, Biographie - ein "modernes Deutungsmuster"? Sozialstrukturelle Brechungen einer Wissensform der Moderne, in: Michael Meuser / Reinhold Sackmann (Hrsg.), Analyse sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie, Pfaffenweiler 1992, S. 161–182, online verfügbar: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-48971 (30.11.2021).

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