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Titel
Religion und Kultur in Deutschland (1400-1800).


Autor(en)
Scribner, Robert W.
Herausgeber
Roper, Lyndal
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 175
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
413 S.
Preis
€ 46.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Anne Conrad, Köln

Robert W. Scribner (1941-1998) war „einer der anregendsten und innovativsten Sozialhistoriker der deutschen Reformation und der Frühen Neuzeit in Europa“ – so steht es im Klappentext, und wer Scribner als Wissenschaftler und Mensch erlebt hat, wer sich mit seinen Schriften auseinandergesetzt (und von ihm gelernt) hat, weiß, dass dies nicht übertrieben ist. Vier Jahre nach seinem Tod ist nun, herausgegeben von Lyndal Roper, ein Sammelband erschienen, der – wiederum laut Klappentext - „eine repräsentative Auswahl“ von Texten Scribners bieten und damit „einen Überblick über zentrale Themen, Ansätze und Ergebnisse seiner Forschung“ geben soll. Der Band enthält 14 Beiträge aus den Jahren 1989 bis 1994, einer davon eine Erstveröffentlichung, (fast) alle übrigen erstmals in deutscher Übersetzung. Im Anhang befindet sich eine Bibliographie der Publikationen Scribners, vorangestellt sind zwei einführende Beiträge von Lyndal Roper und Thomas A. Brady Jr. mit einer ausführlichen persönlichen und wissenschaftlichen Würdigung Scribners.

Im Unterschied zum Klappentext, der in wenigen Sätzen tatsächlich auf den Punkt bringt, worum es sich handelt, ist der Titel des Buches irreführend. Zwar geht es um „Religion und Kultur“, aber doch nur in dem thematisch sehr eng begrenzten Rahmen von Reformation und Konfessionalisierung 1, und zu behaupten, der Zeitraum von „1400 bis 1800“ sei im Blick, ist weit übertrieben. Der zeitliche Schwerpunkt fast aller Beiträge liegt vielmehr in den Jahrzehnten „um 1500“, wobei allerdings immer wieder Bezüge bis Mitte des 15. und Ende des 16. Jahrhunderts hergestellt werden. Lediglich ein Text greift auf das frühe 18. Jahrhundert aus.

Lyndal Roper hat als Herausgeberin die Beiträge Scribners vier Kategorien zugeordnet: Programmatisches zu „Volkskultur und Volksglaube“ wird in den beiden ersten Texten („Ist eine Geschichte der Volkskultur möglich?“, 1989; „Elemente des Volksglaubens“, 1994) entfaltet. Die drei anderen Kategorien benennen unterschiedliche thematische Aspekte, auf die Scribner seine Untersuchungen konzentriert hat: „Sehweisen“ bezeichnet seinen Versuch, von der sinnlichen, vor allem visuellen Wahrnehmung des Religiösen („Heiligen“, „Sakralen“) her, einen neuen Zugang zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen (Volks?)Religiosität zu entwickeln. Die drei Beiträge dazu sind jeweils lesenswert (besonders jener zur „Objektivierung des Frauenkörpers im 16. Jahrhundert“), enthalten aber etliche Überschneidungen in Gedankengang und Argumentation bis hin zu den gewählten Beispielen, Illustrationen und Literaturangaben, so dass bei einer zusammenhängenden Lektüre manches redundant wirkt. „Macht und Gemeinde“, die dritte Kategorie, umschreibt verschiedene Facetten des spannungsvollen und oft ambivalenten Verhältnisses zwischen reformatorischer Obrigkeit und dem „gemeinen Mann“, aber auch zwischen konfessioneller Norm und Dissidententum: der Antiklerikalismus als „psychologische Disposition“ und Aktionsform der evangelischen Bewegungen, Ideal und (defizitäre) Realität der evangelischen Seelsorge, der „Kommunismus“ der Täufer als „konkrete Utopie“, der Zusammenhang (oder nicht) von Heterodoxie, Buchdruck und reformatorischer Volksbildung sowie Überlegungen zum Phänomen der Hexerei und seinem Stellenwert in der Gerichtspraxis der Reformationszeit sind die Themen, die hier differenziert, manchmal provokativ, immer quellennah und anschaulich zur Sprache gebracht werden. Die Beiträge des letzten Teils, die unter der Kategorie „Protestantismus und Magie“ zusammengefasst sind, fragen schließlich dezidiert nach den Bedingungen und Möglichkeiten eines protestantischen Volksglaubens: In welchem Verhältnis stehen reformatorische Hoch-Theologie und die den Alltag bestimmende Religiosität der „einfachen“ Menschen? Welche Bedeutung kam magischen Gebräuchen und Ritualen im Protestantismus (noch) zu? Wie unterscheidet sich die evangelische Volksfrömmigkeit von der katholischen? Was ist dran an dem, was seit Max Weber als „Entzauberung der Welt“ gehandelt wird? Deutlich wird dabei, dass die Reformation, was das religiöse Brauchtum betrifft, keinen „radikalen Wandel“ gebracht hat, dass die Grenzen zwischen den Konfessionen fließend sind und dass man mit einem „Gutteil Synkretismus zwischen alten und neuen Formen des Volksglaubens“ (97) rechnen muss. Scribners Beispiele zeigen, dass nicht lineare Entwicklungen, sondern eine höchst „komplexe Mischung aus Fortbestehen, Wiederbelebung, Anpassung und Neuschöpfung“ (357) für die religiösen Verhältnisse und Einstellungen bestimmend wurden.

Scribner hat als „radikaler Nonkonformist“ (Brady, 39) die gängigen Deutungen der Reformationsgeschichte und insbesondere die konfessionalistischen Zuschreibungen immer wieder durchbrochen, Grenzen nicht nur aufgezeigt, sondern auch überschritten und vermeintliche Eindeutigkeiten ad absurdum geführt. So war er maßgeblich daran beteiligt, dass die Reformationsforschung sehr erfolgreich neue Akzente gesetzt hat: die Religiosität des Volkes, die Bedeutung von Dissidentenbewegungen, der Anteil der Frauen an den religiösen Bewegungen und am Konfessionalisierungsprozess, eine differenzierte Sicht des komplizierten Verhältnisses zwischen Klerus und Laien oder Obrigkeit und Gemeinde, die historische Frage nach Wahrnehmung, Sinnlichkeit, Emotionen, dies alles sind Themen, die noch keineswegs erschöpfend behandelt, deren Legitimität, ja Notwendigkeit für die Frühneuzeitforschung jedoch nicht mehr in Frage steht. Insofern haben Scribners Texte nicht an Relevanz, wohl aber (glücklicherweise!) an Brisanz verloren und sind inzwischen, ein Jahrzehnt nach ihrer Erstveröffentlichung, selbst „Geschichte“ geworden.

Nach wie vor können die Beiträge Scribners jedoch deutlich machen, wie wichtig es ist, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und Verengungen aufzubrechen. Scribner selbst ist immer Reformationshistoriker geblieben. Die Bedeutung der Konfessionen oder genauer vielleicht: die Aufteilung der frühneuzeitlichen (abendländischen) Welt in verschiedene christliche Konfessionen hat er bei seinem Blick auf das „Volk“ und dessen Religiosität nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Das ist legitim. Reformation und Konfessionalisierung werden auch künftig für die an Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte interessierte Frühneuzeitforschung maßgebliche Kategorien sein. Doch zugleich scheint es - ganz im Sinne der Scribnerschen Dekonstruktion vermeintlich festgeschriebener Paradigmen - immer wichtiger zu werden, die Grenzüberschreitungen weiter voranzutreiben und neuen Fragen nachzugehen: Was lässt sich über die frühneuzeitliche Religiosität nicht nur in und zwischen, sondern auch jenseits der Konfessionen sagen? Welcher Stellenwert kommt der religiösen „Indifferenz“, sei es als Ignoranz aufgrund mangelnden „Wissens“ oder als bewusster Entscheidung, zu? Welchen Einfluss haben nicht-christliche religiöse Traditionen wie die in der Renaissance wiederbelebte Hermetik der Spätantike auf das Welt- und Menschenbild und damit auf die Religiosität der frühneuzeitlichen Menschen? 2 Und was die Trägerschichten angeht: Waren Indifferenz und Hermetik nur die Sache einer gebildeten Elite oder fanden sie eine populäre Resonanz? Bisherige Forschungen zeigen, dass man es sich mit einer Antwort nicht allzu leicht machen sollte: „Volksreligion“ und „Volkskultur“ – das hat nicht zuletzt Scribner immer wieder deutlich gemacht – sind eben keine Phänomene mit harten oder klaren Konturen.

Historisch und wissenschaftlich verortet werden die Texte Scribners durch die einleitenden Beiträge von Brady und Roper. Brady („Robert W. Scribner, ein Historiker der deutschen Reformation“, bereits 1998 verfasst) stellt Scribners Werk in den weiteren Zusammenhang der Reformationshistoriographie und arbeitet das Besondere seiner methodischen und inhaltlichen Vorgehensweise überzeugend heraus. Roper („Zur Erinnerung an Bob Scribner. Persönliche Reflexionen“) versucht, Scribners unvollendetes Projekt einer „neuen Deutung der Reformation“ (11) nachzuzeichnen – stilistisch und inhaltlich in einer sehr persönlichen Interpretation. Ob hier nicht ebenso gut Scribners Texte hätten für sich sprechen können, mag dahingestellt bleiben. Die unverhüllte Betroffenheit und die Trauer, die in Ropers „Reflexionen“ zum Ausdruck kommen, haben in einem wissenschaftlichen Werk etwas Irritierendes; Emotionen entsprechen eben üblicherweise nicht den Standards wissenschaftlicher Sachlichkeit. Andererseits: auch dies ist eine „nonkonformistische Grenzüberschreitung“ und insofern hier vielleicht gerade nicht fehl am Platz. Die Erinnerungen und Assoziationen, die die Beiträge von Roper und Brady wachrufen, machen das Buch schließlich zu dem, was es ist: nicht nur eine Dokumentation der zentralen und immer noch anregenden Thesen Scribners und damit ein wichtiger Beitrag zur Sozial- und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, sondern zugleich eine Hommage an einen liebenswerten Menschen, charismatischen Mentor und geschätzten Kollegen, der leider viel zu früh gestorben ist und von seinen Freunden schmerzlich vermisst wird.

Anmerkungen:
1 Eine inhaltlich und zeitlich weitere Perspektive, die der Vielfalt religiöser Vorstellungen in der Frühen Neuzeit wesentlich angemessener ist, bietet unter einem ähnlichen Titel: Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500-1800, Göttingen 2000.
2 Vgl. dazu etwa außer dem genannten Werk von Kaspar von Greyerz (vgl. Anm. 1) die Sammelbände: Anne-Charlott Trepp / Hartmut Lehmann (Hg.): Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2001; dies. (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999; für das 18. Jahrhundert grundlegend: Monika Neugebauer-Wölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik, Hamburg 1999.

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