N. Atkinson: The Noisy Renaissance

Cover
Titel
The Noisy Renaissance. Sound, Architecture, and Florentine Urban Life


Autor(en)
Atkinson, Niall
Erschienen
University Park, PA 2016: Pennsylvania State University Press
Anzahl Seiten
XV, 260 S.
Preis
$ 89.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jutta Toelle, Abteilung Musik, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik

Das Bild einer mittelalterlichen italienischen Stadt besteht aus Türmen, die in allen Arten von Konflikten eine große Rolle spielten; doch die Glocken, die in all diesen Geschlechtertürmen, Stadttürmen, Glockentürmen hingen, die durch ihre Hörbarkeit die Sichtbarkeit der Türme für die Stadtbevölkerung (und das bis heute) ergänzten und erweiterten, sieht man nicht. Man kann sie „nur“ hören – und seit Alain Corbins Buch von 1994 über die fundamentale Rolle von Glocken im dörflichen Frankreich des 19. Jahrhunderts werden sie zum Glück auch von der Wissenschaft wieder gehört.

Der kanadische Architekturhistoriker Niall Atkinson, der in Chicago lehrt und derzeit auch Kurator des amerikanischen Pavillions der Architektur-Biennale in Venedig ist, hat ein wunderbares coffee table book vorgelegt, das von seinem Verlag (University of Pennsylvania Press) vorbildlich produziert worden ist, mit einer Vielzahl von Abbildungen und graphischen Spielereien. Autor und Verlag sind für ihren Mut, ein so exquisites, teures und gleichzeitig wissenschaftliches hervorragendes Buch vorzulegen, nur zu beglückwünschen (vor allem da mittlerweile auch eine Paperback-Version zu einem günstigen Preis erhältlich ist).

The Noisy Renaissance ist natürlich viel mehr als ein coffee table book. Es ist ein Buch über Klänge und ihre Wirkungen, und es ist ein Buch über Glocken. Dass Glocken, mächtige Symbole für das Überirdische, seit jeher auch entführt oder als Trophäen mitgenommen wurden, dass sie vormoderne soundscapes formten, indem sie der offiziellen (und inoffiziellen, wie man in diesem Buch sieht) Kommunikation dienten, Tagesabläufe und kommunikative Räume definierten, ist keine ganz neue Erkenntnis mehr. So überzeugend und gleichzeitig so konkret wie im vorliegenden Buch sind Glocken und ihre kommunikative Kraft jedoch kaum je thematisiert worden.

Atkinson zufolge sind Glocken der Punkt, an dem die zwei „Pole des florentinischen soundscapes“, das Bedürfnis nach universaler Harmonie und die dissonanten Netzwerke verbaler Unordnung zusammen kamen beziehungsweise kollidierten – denn Glocken können vieles: Sie strukturieren das Leben in der Stadt – die Abfolge von Arbeits- und Freizeit, von Werk- und Festtagen – und wandeln so die alltäglichen urbanen Machtstrukturen in klangliche hörbare Erfahrungen um. Und in einem Land, in dem es für Lokalpatriotismus das schöne Wort campanilismo gibt, das sich direkt auf die Glocke (campana) und den Glockenturm (campanile) bezieht, haben Glocken sogar eine normative Rolle inne, indem sie die Stadt als akustisches Territorium und sogar für jeden einzelnen Bewohner seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Pfarrei definieren. Auch die Zeit definieren sie, hatten doch die Stadtbewohner relative genaue Kenntnis davon, welche Glocke welches Stundengebet ankündigte. Bei Prozessionen grüßten die Glocken jeder Kirche die Vorbeiziehenden, während diese die Reliquien der jeweiligen Kirche wiederum mit Gesängen ehrten und so einen klanglichen Dialog zwischen Architektur und Gemeinschaft schufen (S. 92), der zudem über den Raum hinauswirkte und auch denjenigen, die nicht an der Prozessionsstrecke zugegen waren, verdeutlichte, wo die Prozession sich gerade befand.

Das Florenz der Renaissance wird hier also als kommunikativer Raum begriffen, in dem verschiedene Parteien mit verschiedenen Mitteln um Hörbarkeit kämpften; nur wer über eine Glocke verfügte, konnte Leute zu einer Versammlung oder einer Revolution zusammenrufen. Das florentinische Volk bediente sich in Sonderfällen der Glocken, um miteinander über Pfarrei- und Bezirksgrenzen hinweg zu kommunizieren und gegen den Adel zu protestieren; diese Praktiken gipfelten im sogenannten Ciompi-Aufstand von 1378. Hier wurden Glocken ganz bewusst als Drohung verwendet und als akustische Wiedergabe eines Belagerungsrings verstanden, der sich um die Stadt zieht und immer enger wird. Wie zeitgenössische Berichte zeigen, gewannen die aufständischen Textilarbeiter, Handwerker und Zunftangehörigen – die sich nach den Aufrufen der Glocken auf den Plätzen versammelten und dann gemeinsam zur Piazza della Signoria zogen – ihren Kampf durch die schiere klangliche Masse ihrer Schreie; der Lärm, den sie auf dem Hauptplatz hervorbrachten, wirkte als Kombination von „physical barrier and psychological threat“ (S. 195). Atkinson zufolge repräsentiert dieses Gefecht zwischen der eloquenten Rhetorik der Regierenden und dem wütenden Ärger der Masse die beiden Extreme dessen, wie Klänge sich die Macht der Öffentlichkeit zunutze machen und Raum neu organisieren können. Er nennt dies die „Mobilisierung der Architektur“ und ähnliches könnte man sicher auch in anderen Städten konstatieren, in denen frühneuzeitliche Raumstrukturen – und deren Glocken – noch vorhanden sind.

Es ist aber davon auszugehen, dass man nach der Lektüre nie wieder durch italienische Renaissancestädte laufen wird, ohne dabei an die Glocken und Niall Atkinson zu denken. Sein Buch macht die Städte der Vergangenheit heute neu erfahrbar.

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