Auch im Zeitalter des Postheroismus sind Semantiken und Praktiken der Heroisierung virulent. Nachdem in demokratischen Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts der Abgesang auf die Figur des Helden vernehmbar war (vor allem in den Bereichen von Management und Militär)1, lässt sich unterdessen eine neue Konjunktur heroischer Werte und damit verbundener Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit beobachten. Nicht nur Emmanuel Macron fordert wieder eine „Art politisches Heldentum“ – den Anspruch, „Geschichte schreiben zu wollen“ und die postmoderne Fragmentierung von Narrativen zu überwinden. Auch eine jüngere Generation verlangt öffentlich nach Heldenerzählungen.2 Denn Heroisierung ist heute nicht zuletzt eine Handlungsweise, die mittels medialer Möglichkeiten nationale Grenzen überschreiten und mobilisierend wirken kann. Dabei nimmt sie immer neue Formen an.
Die Beschäftigung mit Heldentum als gesellschaftlichem Phänomen führt somit mitten hinein in Konfliktzonen der Gegenwart, die jedoch auf vielfältige Entwicklungen in der Vergangenheit zurückweisen. Die Dokumentation eines interdisziplinären Forschungsstands, der dem betrachteten Phänomen wieder zu mehr historischer Tiefe und weniger präsentistischer Zurichtung verhilft, ist das Ziel des seit 2017 öffentlich zugänglichen Online-Lexikons „Compendium heroicum“ des Freiburger Sonderforschungsbereichs 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“. Es versteht sich als Referenzwerk für die Forschung und zugleich als work in progress, an dem bisher Vertreterinnen und Vertreter der Geschichts-, Literatur- und Bildwissenschaften sowie der Soziologie und Theologie beteiligt sind, vielfach in kollaborativen Beiträgen. Weitere Beiträge von Autorinnen und Autoren auch außerhalb des bestehenden Arbeitszusammenhangs sind willkommen, hierfür sind auf der Internetseite Themenvorschläge zusammengestellt, Initiativangebote sind ebenfalls möglich. Realisiert wird das „Compendium heroicum“ in einer Kooperation des SFB 948 mit dem Open Encyclopedia System der Freien Universität Berlin und der Bayerischen Staatsbibliothek München.
Zum Zeitpunkt dieser Besprechung waren 51 Lexikoneinträge abrufbar. Der Fokus der einzelnen Lemmata ist unterschiedlich, er reicht von Überblickstexten zu „Heroisierung“, „Heroismus“ oder „Medialität“, die auf kollektive Diskussionen des SFB zurückgehen, bis zu Mikrostudien über den „Unternehmer“ (Dominik Pietzcker), die „Feuerwehrleute“ (Wolfgang Hochbruck), die „Kamera“ (Benjamin Glöckler) oder das „Pferd“ (Achim Aurnhammer/Martin Beichle/Kelly Minelli). Auch die Gegenspieler/innen des Heroischen finden ihren Platz, so etwa das „Debunking“ (Barbara Korte) oder die „Deheroisierung“ (Andreas Gelz). Der historische Rahmen, der mit den verschiedenen Texten abgeschritten wird, ist breit: Er reicht insgesamt von der Antike bis in die Gegenwart.
Neben die alphabetische Reihung der Artikel, die auf diese Weise wie in einem klassischen Lexikon ausgewählt werden können, tritt deren systematische Ordnung mit Hilfe der fünf Rubriken „Heldentypen“, „Kulturen & Praktiken“, „Objekte & Attribute“, „Medialität“ und „Theorie des Heroischen“. Dies bietet eine weitere Zugangsebene, die auf unterschiedliche analytische Annäherungsweisen an das komplexe Feld der Heroisierung abzielt. Die thematisch naheliegende Personifizierung des Heroischen wird so erweitert durch vielschichtige Aspekte der Materialisierung, Medialisierung und Prozessualisierung. Das ist für das Gesamtprojekt konzeptionell überzeugend, als orientierender Einstieg in die einzelnen Texte gleichwohl nicht immer schlüssig, zumal viele der Beiträge in unterschiedlichen Rubriken gelistet werden.
Zudem ist das strukturelle Zusammenspiel dieser Rubrizierungen gelegentlich verwirrend: So existiert sowohl ein längerer Beitrag von Olmo Gölz über das „Typologische Feld des Heroischen“ in der Rubrik „Theorie des Heroischen“, in dem auch die Idealtypen von „Held“ und „Opfer“ verhandelt werden, neben einem Grundsatzbeitrag über den „Helden“ (als Kollektivtext des SFB) sowie diversen typologischen Rasterungen des Heroischen in der Rubrik „Heldentypen“. Andererseits entstehen so auch produktive Resonanzen und Reibungen, denn Gölz geht in seinem Beitrag durchaus kritisch mit dem Versuch der Typologisierung des Heroischen um, den die Webseite de facto unternimmt. Er verweist dafür wiederum auf grundsätzliche Überlegungen Ulrich Bröcklings zu den nötigen Unschärfen und Grenzen eines typologischen Zugangs – den dieser aber zugleich am Beispiel des „Antihelden“ selbst systematisch durchspielt.3
Am Ende jedes einzelnen Eintrags werden Metadaten und weiterführende Links mitgeliefert: Mit Hilfe einer systematischen Verschlagwortung können die Nutzer/innen jeweils direkt zu entsprechenden Literaturhinweisen in den Datenbanken des Karlsruher Virtuellen Katalogs, der Deutschen Nationalbibliothek und des südwestdeutschen Bibliotheksverbundes gelangen.4 Zudem werden am Schluss jedes Eintrags über einen Index weitere Beiträge der jeweiligen Autor/innen sowie andere Artikel zu den relevanten Personen, Räumen oder Epochen verlinkt. Diese Ebenen sind zudem noch einmal gesondert in Form eines Index aufzurufen, der Autoren, Personen, Räume und Epochen systematisch erschließt. Außerdem gibt es eine Suchfunktion, mit der sich alle Beiträge im Volltext durchsuchen lassen. Für alle bereits veröffentlichten Beiträge besteht die Möglichkeit des inkrementellen Publizierens, also der späteren Überarbeitung und Ergänzung.
Die Vorteile eines solchen Online-Compendiums gegenüber einem gedruckten Referenzwerk werden insbesondere durch die Hyperlinks in den Texten sichtbar, die immer wieder dabei helfen, Einzelbefunde rasch in größere Kontexte einzuordnen, ohne den Textfluss zu stark zu brechen. Auf die weiteren Möglichkeiten digitalen Publizierens lassen sich die Artikel in unterschiedlichem Maße ein. Manche Texte funktionieren ganz nach den klassischen Prinzipien, kommen weitgehend ohne Querverweise und – bis auf ein Teaserbild – ohne veranschaulichendes Material aus, so etwa der Beitrag zum „Genie“ bei Nietzsche von Andreas Urs Sommer oder der Text von Ronald G. Ash über „Adel“ in der Frühen Neuzeit. Der Text von Tobias Schlechtriemen über die „Grenzüberschreitung“ von Held/innen bindet hingegen nicht nur Bildmaterial und eigene Graphiken ein, sondern thematisiert auch virtuelle Dimensionen des Heroischen mit Hilfe der Auswertung von Twitter-Nachrichten und online verfügbaren Regierungsdokumenten.
Die Verwendung von audiovisuellem Material, nicht zuletzt von Tondokumenten, wäre sicher ausbaufähig, zumal hierin ein genuiner Beitrag eines solchen digitalen Nachschlagewerkes sowohl zur Forschung als auch zur öffentlichen Auseinandersetzung liegen kann. Dies gilt etwa für den Text von Nicole Falkenhayner, Kerstin Fest und Maria-Xenia Hardt über „Posthumane Helden“, der vorwiegend jüngeren bzw. gegenwärtigen Heldendarstellungen in Serien und Filmen gewidmet ist, aber auf Bild- oder Tonbeispiele ganz verzichtet. Auch der Grundsatzbeitrag über „Medialität“ des Heroischen, immerhin eine der systematischen Rubriken des Compendiums, fällt eher knapp aus.
Dass eine sinnvolle, nicht bloß illustrative Erweiterung durch Video- und Audiomedien auch ein Anliegen der Herausgeber/innen des „Compendium heroicum“ ist, lässt der entsprechende Aufruf an zukünftige Beiträger/innen erkennen. Mit Blick auf die Inter- bzw. Transnationalität gerade dieser Thematik und der raumübergreifenden Perspektive vieler Beiträge wäre eine englischsprachige Version des „Compendium heroicum“ sicher wünschenswert. Schon jetzt aber bietet dieses Online-Lexikon ein anregendes, produktiv vernetztes Nachschlagewerk, das Disziplingrenzen überwindet und dabei den prozessualen Charakter nicht nur der diversen Heroisierungen, sondern auch deren Erforschung anschaulich macht.
Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Dirk Baecker, Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin 1994; Herfried Münkler, Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015, bes. Teil II; ders., Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur 61 (2007), H. 700, S. 742–752.
2 „Ich bin nicht arrogant. Ich sage und tue, was ich mag.“ Interview mit Emmanuel Macron, in: Der Spiegel 42 (2017), online: https://www.spiegel.de/spiegel/emmanuel-macron-im-interview-wir-brauchen-heldentum-a-1173143.html; Konstantin Sakkas, Wir brauchen Helden!, in: Der Tagesspiegel Causa, o.D. [2017], online: https://causa.tagesspiegel.de/kolumnen/causa-autoren-1/wir-brauchen-helden.html (30.09.2019).
3 Hierzu auch Ulrich Bröckling, Negationen des Heroischen – ein typologischer Versuch“, in: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1 (2015), S. 9–13, https://freidok.uni-freiburg.de/data/10932 (30.09.2019).
4 Zudem existiert zusätzlich eine eigene „Helden-Bibliographie“ als Online-Datenbank des SFB 948, vgl. https://biblio.ub.uni-freiburg.de/helden/ (30.09.2019).