Das coronarchiv: „Sharing is caring – become a part of history!“

Titel
coronarchiv.
Herausgeber
Thorsten Logge, Universität Hamburg
Veröffentlicht durch
Fachbereich Geschichte [Universität Hamburg]
Von
Marian Kulig, Duisburg-Essen

Das coronarchiv – Plattform und digitales Archiv zugleich – ist ein von vier Wissenschaftlern im März 2020 initiiertes und sehr kurzfristig umgesetztes, webbasiertes Citizen-Science-Projekt, das individuelle Erinnerungen und Eindrücke aus der Zeit der Corona-Pandemie sammelt und für (zukünftige) Forschung nutzbar machen will.


Abb. 1: „Frühlingshaft“. Bei herrlichem Frühlingswetter überwacht die Polizei im Prinzenpark in Braunschweig die Einhaltung der Kontaktsperre. Braunschweig, 05.04.2020
Fotograf:in: Jensko. Quelle: coronarchiv, https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/item/?id=847 (27.03.2023), CC BY-SA 4.0

Die Fotografie zeigt einen Polizeiwagen mitten auf einer grünen Wiese im Frühjahr – im Frühjahr 2020. Ein wenig erinnert das Bild an das ikonische Gemälde „Ceci n’est pas une pipe“ des belgischen Künstlers René Magritte, der sich in seinem Werk mit der „trahison des images“ oder der Beziehung zwischen dem Objekt, seiner Bezeichnung und seiner Repräsentation auseinandersetzte. Denn erst durch den Kontext wird das Bild vom Polizeiwagen mit Bedeutung aufgeladen: Dokumentiert wird die im Zuge der anfänglichen Corona-Eindämmungsmaßnahmen verhängte Kontaktsperre, die zu dieser Zeit auch im Freien galt. Wenn es schon heute im Jahr 2023 in der Rückschau bizarr wirkt, dass so etwas möglich war, wie können sich dann spätere Generationen diese Zeit vorstellen? Daher ist es umso wichtiger, dass Erinnerungen – gebunden an ikonische Fotos, in Texten, Videos, Audios – für die Nachwelt erhalten werden. Das hat sich das „coronarchiv“ zur Aufgabe gemacht.

Hinter dem coronarchiv – Plattform und digitales Archiv zugleich – verbirgt sich ein von vier Wissenschaftlern 1 im März 2020 initiiertes und sehr kurzfristig umgesetztes, webbasiertes Citizen-Science-Projekt, das individuelle Erinnerungen und Eindrücke aus der Zeit der Corona-Pandemie sammelt und für (zukünftige) Forschung nutzbar machen will. Die Projektwebsite coronarchiv ist nicht nur die Nutzungsoberfläche des digitalen Archivs, sondern stellt auch das Archiv selbst dar. Daher ist bei dieser Rezension zu beschreiben, wie der Anspruch des coronarchivs, die Vielfalt der Erfahrungen der Menschen während der Corona-Pandemie für die Nachwelt zu sammeln, auf Nutzer:innen-Ebene umgesetzt wird.

Die Projekt-Webseite ist erreichbar unter der eingängigen URL https://www.coronarchiv.de, die allerdings auf die URL https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/ verweist und damit offenbart, dass das Projekt von der Universität Hamburg gehostet wird. Auf der Startseite findet sich ein großformatiges Foto, das als Symbolbild stellvertretend für die Inhalte des Archivs stehen soll: die aus Edelstahl und Bronze gefertigte Skulptur „Bertha Benz“ des Künstlers Pit Elsasser in der Stadt Wiesloch, deren Figuren Atemschutzmasken tragen.


Abb. 2: „Bertha Benz“-Skulptur, mit Mundschutzaktion des Künstlers Pit Elsasser, Wiesloch, 02.02.2021
Fotograf:in: Pit Elsasser. Quelle: Startseite coronarchiv, https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de und im Archiv, https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/item/?id=12343 (27.03.2023), CC BY-SA 4.0

Eine Bildunterschrift wäre hier zwar nicht unbedingt notwendig, da das Motiv für die hier dargestellte Bedeutung keine Rolle spielt, jedoch wäre zumindest eine Quellenangabe, auch aus Urhebergründen, wünschenswert. Vor diesem Hintergrund wirkt das ausgewählte Begrüßungsbild etwas beliebig. Alternativ – vor allem um die gewünschte Vielfalt an möglichem Material zu assoziieren – würde sich hier beispielsweise eine dynamische (Live-)Collage der hochgeladenen Dateien anbieten, die neben Fotos auch Videos, Texte und Audios enthält. Auch in dem nebenstehenden Willkommenstext mag es für Nutzer:innen mitunter etwas abstrakt klingen, wenn von „Erlebnissen, Gedanken, Medien und Erinnerungen“ gesprochen wird. Welche Mediendateien und -formate dies sein könnten (nämlich alle!), wird erst im Einreichungsprozess konkretisiert. Den Nutzenden könnte daher bereits auf der Willkommensseite noch deutlicher kommuniziert werden, dass den Einreichungen keine Grenzen gesetzt sind. Zwar ist es genau diese Offenheit, die die Verantwortlichen zeigen wollen, jedoch wären einzelne Beispiele sicherlich für Nutzer:innen zur Orientierung sinnvoll.

Angesprochen werden die Nutzer:innen in der lockeren und nahbaren „Du“-Anrede. Neben der Standardsprache Deutsch können inzwischen auch Spanisch, Türkisch oder Englisch ausgewählt werden. So ist der Zugang zum Archiv auch für Nicht-Muttersprachler:innen erleichtert und ermöglicht noch mehr gesellschaftliche Breite im Material. Wünschenswert wäre zudem die Option zum Auswählen von leichter Sprache im Sinne von Barrierefreiheit, gerade weil ja ein sehr breites Publikum angesprochen werden soll. Weiter unten auf der Startseite findet sich ein kurzes, sehr anschauliches Erklärvideo, in dem das coronarchiv und seine Funktionen gut verständlich vorgestellt werden: Ziel ist es, zu archivieren, wie die Menschen die Corona-Pandemie individuell und ganz privat erleben und erlebt haben. Nicht von Interesse ist dagegen die offizielle Medienberichterstattung, die bereits an vielen Stellen zuhauf überliefert wird.

Mit diesem alltagsgeschichtlichen Interesse reagieren die Initiatoren nicht nur auf die lange Tradition, dass Geschichte vor allem aus offiziellen Quellen geschrieben wird, sondern sie wollen darüber hinaus eine maximale Perspektivenvielfalt im gesammelten Material archivieren, indem auch Erinnerungen von denjenigen gesammelt werden, deren Stimmen bisher eher unterrepräsentiert waren. Beispiele sind hier das Projekt „Deine LSBTIQ-Corona-Story!“ (https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/gesucht-deine-lsbtiq-corona-story/) in Kooperation mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, die explizit Pandemieerfahrungen der LSBTIQ-Community einholen will, oder die Mitmach-Aktion „Geschichte für morgen. Unser Alltag in der Corona-Krise“ in Zusammenarbeit mit der Körber Stiftung, die sich explizit an Kinder und Jugendliche wendet und ihre Eindrücke der Pandemie sammeln möchte (https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/kinder-und-jugendliche-im-lockdown/). Die Materialien gehen dann in eine eigene Sammlung innerhalb des coronarchivs ein und lassen sich separat durchsuchen. Während die Sammlung LSBTIQ lediglich sechs Beiträge enthält (Stand: März 2023), gingen bei der Mitmach-Aktion für Kinder aus dem Mai 2020 beinahe 1000 Medienbeiträge ein.

Inwiefern der Anspruch eines möglichst vielfältigen Spektrums der Corona-Erfahrungen eingelöst werden kann, hängt also letztlich nicht nur vonseiten der Partizipationsmöglichkeiten ab: Die Schwelle kann so niedrig wie möglich sein, Partizipation kann dennoch nicht erzwungen werden. Am Angebot des coronarchivs liegt es jedenfalls nicht.


Abb. 3: „Staypride Hamburg 2020“. Poster zur Pride-Week in Hamburg. Die CSD-Parade fand als Fahrraddemo statt. Hamburg, 13.08.2020
Fotograf:in: Catha. Quelle: coronarchiv, https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/item/?id=7623 (27.03.2023), CC BY-SA 4.0

An zahlreichen Stellen der Website wird immer wieder die Möglichkeit zum Einreichen von Material über einen Call-to-Action-Button angeboten. Einmal darauf geklickt, ist der Nutzer/die Nutzerin bereits beim ersten von vier Schritten zum Einreichen einer Datei angelangt. Die strukturierte Nutzer:innenführung und das Video-Tutorial unterstützen hier bestmöglich. Es sind einige zum Teil verpflichtende Angaben (Titel, Beschreibung, Text, Online-Name, Pseudonym, Klarname, E-Mail-Adresse, Wohnort sowie freiwillige Metadaten) beim Upload anzugeben, allerdings sind diese überschaubar, nicht ermüdend und damit niedrigschwellig genug. Der besondere Ansatz dieses Archivs zeigt sich hier: Die Exponate, also die Erinnerungen und Eindrücke der Menschen während der Pandemie manifestiert als Bild, Video, Audio oder Text, sollen unmittelbar mit den ihnen zugehörigen Bedeutungen der Beitragenden verknüpft oder zumindest kontextualisiert werden. Dies kann über den Titel und/oder die Beschreibung der Mediendatei geschehen. So hat zum Beispiel ein Nutzer ein Foto aus einem Supermarkt hochgeladen, das einen Gang mit leeren Regalen zeigt. Erst die Überschrift „Wo ist das Klopapier?“ weist darauf hin, dass hier sonst Toilettenpapier angeboten wird. Die Beschreibung ergänzt dies um die Information, dass das Foto zu Beginn der Pandemie aufgenommen wurde und damit die sogenannten Hamsterkäufe dokumentiert.


Abb. 4: „Wo ist das Klopapier?“ Leeres Regal im Rewe Center zu Beginn der Pandemie, 17.03.2020 (Ort unbekannt)
Fotograf:in: qwack. Quelle: coronarchiv, https://www.coronarchiv.de/item?id=16346 (27.03.2023), CC BY-SA 4.0

Die Nutzer:innen übernehmen hier sozusagen die Rolle als unmittelbare Zeitzeug:innen. Ein großer Vorteil besteht darin, dass Metadaten wie Herkunft, Entstehungskontext und ggf. persönliche Bedeutung bereits in der Sammlungsphase an das Objekt gekoppelt werden und nicht im Nachgang erst rekonstruiert werden müssen. Ein Objekt kann von dem Nutzer/der Nutzerin beim Hochladevorgang auch einer bestimmten regionalen oder institutionellen Sammlung eines Archivs, mit dem das coronarchiv kooperiert, zugeordnet werden (z.B. dem des Deutschen Roten Kreuz oder einigen regionalen Archiven). Anschließend werden die eingereichten Dateien geprüft und freigegeben.

Hochgeladene Beiträge verschwinden nicht hinter einer Signatur, sondern können betrachtet und durchsucht werden. Neben dem gesamten Fundus gibt es kuratierte Online-Ausstellungen wie z.B. #CoronaLetters, eine künstlerische Auseinandersetzung mit realen Erfahrungen (https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/coronaletters/) sowie die Rubrik „Editors Choice“ (https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/archiv/?item_set_id%5B0%5D=13138&per_page=12&sort_by=created&sort_order=desc&currentPage=1mp;currentPage=1), in der ausgewählte Objekte der Sammlung präsentiert werden. Laut Menü soll es auch eine Karte geben, auf der die Einreichungen geografisch dargestellt werden. Diese funktionierte beim Abfassen der Rezension im März 2023, auch unter Verwendung verschiedener Browser, leider nicht.


Abb. 5: Einblick in die digitale Ausstellung „#CoronaLetters“, in der die beiden Autorinnen Shida Bazyar und Rebekka Endler zwölf Objekte von Bürger:innen ausgewählt haben. Ausgehend von diesen Objekten ist der fiktive Briefwechsel zwischen Ida und Toni entstanden
Screenshot coronarchiv, https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/coronaletters/ (27.03.2023)

Seit Projektbeginn wurden innerhalb kürzester Zeit – auch dank zahlreicher Medienberichte über das coronarchiv – beeindruckend viele Dateien hochgeladen. Inzwischen zählt der frei zugängliche Bereich des Archivs über 6000 Bilder, Videos, Audios, Texte und sonstige Dateien (Stand: März 2023). Daneben gibt es noch Einreichungen, die aus verschiedenen Gründen nicht veröffentlicht werden, da sie sensible Inhalte enthalten (denkbar sind z.B. Persönlichkeitsrechtsverletzungen, Jugendschutzverstöße, Hatespeech etc.). Diese sollen jedoch trotzdem für Forschungszwecke zugänglich sein.2 Abseits von diesen expliziten Inhalten deutet sich grundsätzlich eine Problematik an, die den Datenschutz betrifft. Die geteilten Erinnerungen sind zum Teil sehr intim, und der angezeigte Name (eine frei zu wählende Bezeichnung) gleicht mitunter dem Namen der natürlichen Person hinter dem Objekt. Diese Problemstellung ist im Sinne einer Langzeitarchivierung noch zu klären.

Die Suche nach Schlagworten im gesamten Korpus funktioniert schnell und präzise und bietet die üblichen gelernten Funktionen einer Suche wie Filterung nach Medientyp, Sprache oder Sortierung. Dargestellt werden können die Beiträge entweder als Liste mit einer Textvorschau sowie als rein visuelle Kacheln. Mit Abstand am häufigsten vertreten sind hier – wie zu erwarten – Bilder, gefolgt von Textdateien. Videodateien fallen dagegen weit zurück in ihrer Anzahl (ca. 340) sowie Audiodateien (knapp 90). Die Darstellung der Archivgüter folgt hier dem Vorbild anderer Archive: Datum, Urheber:in, Ort, Rechte, Zitationsvorschlag und die Möglichkeit zum Teilen werden angezeigt.


Abb. 6: „Bildet Antikörper“. Graffiti an einer Hauswand in Berlin-Neukölln, 27.03.2020
Fotograf:in: Christian Marchlewitz. Quelle: coronarchiv, https://www.coronarchiv.de/item?id=1136 (27.03.2023), CC BY-SA 4.0

Das Nutzungserlebnis des coronarchivs ist beim Durchklicken der Beiträge im sehr positiven Sinne als nahezu addiktiv zu bezeichnen, da sich zum Teil verblüffende Einreichungen finden lassen, deren Bedeutung erst beim Lesen der Beschreibung verständlich wird. Nicht zuletzt wirkt hier auch das Prinzip der Identifikation mit dem Erlebten, da Nutzer:innen des Archivs die Erfahrungen anderer Menschen mit der eigenen Krisenerfahrung abgleichen können. Das coronarchiv macht jedenfalls Lust auf das Entdecken und die Beschäftigung mit den Hinterlassenschaften und Eindrücken der erlebten Zeit. Damit ist es bereits jetzt in hohem Maße wertvoll für z.B. Gesellschaftswissenschaftler:innen, aber auch für die zukünftige Geschichtswissenschaft wird dieses Zeitzeug:innenarchiv eine bedeutsame Quelle zur Pandemiebewertung darstellen. Diese Historiker:innen der Zukunft werden sicherlich sehr dankbar auf das Engagement der Initiatoren und aller Beitragenden zurückblicken.

Anmerkungen:
1 Christian Bunnenberg (Didaktik der Geschichte / Ruhr Universität Bochum), Thorsten Logge und Nils Steffen (Public History / Universität Hamburg), Benjamin Roers (International Graduate Centre for the Study of Culture / Justus-Liebig-Universität Gießen) sowie ein inzwischen neunköpfiges Team aus studentischen Mitarbeiter:innen.
2 So Thorsten Logge im Interview in Forschung und Lehre am 17.09.2020, online unter https://www.forschung-und-lehre.de/forschung/tausende-buerger-teilen-pandemie-erfahrungen-im-coronarchiv-3105/ (27.03.2023)