Kontextualisierung des kaufmännischen Rechnungsbuches (Spätmittelalter – Frühe Neuzeit) / Contextualiser les comptabilités marchandes (fin du Moyen Âge – époque moderne)

Kontextualisierung des kaufmännischen Rechnungsbuches (Spätmittelalter – Frühe Neuzeit) / Contextualiser les comptabilités marchandes (fin du Moyen Âge – époque moderne)

Organisatoren
Vincent Demont; Mission Historique Française en Allemagne
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.06.2007 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Vincent DEMONT, Mission Historique Française en Allemagne

Am 2. Juni 2007 veranstaltete die Mission historique française en Allemagne (Vincent Demont) mit der Unterstützung des Forschungslabors „Identités – Cultures – Territoires“ der Universität Paris 7-Denis Diderot einen Workshop, der die Kontextualisierung des kaufmännischen Rechnungsbuches im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit zum Gegenstand hatte. Ziel des Arbeitstreffens war es, französische und deutsche Forscher, die mit ähnlichen Dokumenten arbeiten, ihre Arbeitsergebnisse aber kaum gegenseitig wahrnehmen, in einem lockeren wissenschaftlichen Rahmen (eine Publikation war und ist nicht vorgesehen) zu versammeln, um so den Weg für mögliche wissenschaftliche Kooperationen freizumachen. Dabei ging es eher darum, anhand von Beispielen und von Quellendokumenten konkrete Forschungspraktiken zu diskutieren, als Resultate zu präsentieren oder geschichtswissenschaftliche Thesen zu erörtern. Der Call for papers legte Wert auf diese Perspektive und gab deshalb keine ausdrücklichen Richtungen vor, sondern unterstrich im Gegenteil die Vielzahl möglicher Fragestellungen. Vorgeschlagen wurden u.a. die Reflexion über eine Chronologie, die der Lektüre dieser Quellen angemessen ist und die es erlaubt, sowohl die individuellen (oder familiären) Geschichten ihrer Autoren, die Handelsrhythmen und die längerfristigen Fluktuationen der Konjunktur sichtbar zu machen, die Konstruktion eines Untersuchungsraums, der imstande ist, der Analyse sowohl lokale Plätze wie Netzwerke zugänglich zu machen, oder auch die Definition einer produzierenden Instanz dieser – sowohl Kaufmann wie Unternehmen, Individuum und Kollektiv zurechenbaren – Quellen, in der sich die Normen der Rechnungsführung mit den aus ihr resultierenden konkreten Gebrauchsweisen verbinden lassen. Der Workshop beabsichtigte schließlich, sich aus einer teleologischen Sichtweise zu befreien, die jede Lektüre von Quellen der Rechnungsführung in die Perspektive der Durchsetzung der doppelten Buchführung stellt – an ihre Stelle wollte er eine komplexere Chronologie setzen, die es erlaubt, den präzisen Gebrauch und den spezifischen Kontext jeder Quelle zu rekonstruieren. Der Erfolg des Workshops beruhte also auf einer Herausforderung: Die Teilnehmer sollten nicht von der ihnen gelassenen Freiheit und dem offenen Rahmen Gebrauch machen, um sich in Einzelheiten zu verlieren und Einzelfallstudien nebeneinander zu stellen, sondern um sich gemeinsam Fragen nach der hochgradigen Spezialisiertheit ihrer Quellen zu stellen und, mehr noch, um sich im Nachdenken über einen gemeinsamen historischen Gegenstand zusammenzufinden.

Die Ausführungen des Vormittags wurden von Jürgen Schlumbohm (Göttingen) moderiert. Nach einer kurzen Einleitung (Vincent Demont) präsentierte Jacques Bottin (CNRS) am Beispiel eines Handbuches, das 1627 von Boyer in Lyon veröffentlicht wurde, die Darstellung eines fiktiven Unternehmens zu pädagogischen Zwecken. Mit der Unterstützung von schematischen Darstellungen, die das Ineinandergreifen der verschiedenen, bei der Eintragung einer Transaktion benutzten Konten illustrierten, machte sein Vortrag die Eigenart der Quelle verständlich: Mit einer mitunter wahrhaft meisterlichen Virtuosität repräsentiert diese eine formale Wiedergabe, die sich in besonderer Weise den Erfordernissen des Warenhandels anpasste, und eine Veranschaulichung der Gesamtheit des Unternehmens, wie man sie nur selten in den realen Rechnungsbüchern findet. Genau diese standen im Zentrum der folgenden Vorträge. Mit dem Beispiel der Handelsgesellschaft der Welser wurde von Peter Geffcken (München) erneut ein europäischer, ja sogar darüber hinaus ausgreifender Handelsraum vorgestellt. Die Analyse von Fragmenten der Buchführung der Welser zeigte auf, wie schwierig es ist, das Funktionieren einer sehr weit ausgedehnten Organisation zu verstehen, von deren pyramidenförmiger Buchführungsstruktur nicht alle Ebenen (beginnend mit der Spitze) erhalten geblieben sind und deren Form in Abhängigkeit von den ökonomischen Plätzen und Regionen variierte. Eine zusätzliche Schwierigkeit stellt dabei die Erfassung der sowohl allgemeinen wie lokalen Entwicklungen dar, die sich im Inneren einer solchen Makrostruktur vollzogen.

Die beiden letzten Vorträge des Vormittags zeigten den Nutzen der Kartographie für die Analyse solcher Quellen auf. Insbesondere der Beitrag von Anne Holtmann-Mares (Darmstadt), der zwei Bücher eines jüdischen Händlerkonsortiums aus Vesoul (1300-1318) vorstellte, machte eines deutlich: Karten können Dokumente einer nicht zu übersehenden Spezialisiertheit (ihre Lektüre verlangt nicht nur Kenntnisse der Paleographie und der Rechnungsführung, sondern auch Kompetenzen im Hebräischen) lesbar machen und ihnen einen hohen Wert für das Verständnis des Handels- und Verwaltungsbetriebes einer Region verleihen, indem sie z. B. die umfassende Kooperation von Gruppen (Juden und Lombarden) aufzeigen, von denen man bislang annahm, sie stünden sich gegensätzlich gegenüber. Mit den gleichen Methoden führte Matthias Steinbrink (München) in die Analyse des Tuch- und Wollhandels über lange Distanzen ein, wie ihn die 1493/1494 dem Basler Kaufmann Ulrich Meltinger gepfändeten Bücher dokumentieren. Steinbrink stellte dabei die Verbindungen von wirtschaftlicher Aktivität, die die Form eines domestic system hatte, und kommunalpolitischer Karriere dar. Beide Vorträge machten die Notwendigkeit deutlich, zwischen der eigenen historischen Fragestellung und einer detaillierten Rekonstruktion der Eigenperspektive des Kaufmanns, der seine Bücher nicht als eine formale Wiedergabe seines Unternehmens, sondern nur als eine Gedankenstütze benutzen konnte, hin- und her zu pendeln. Nötig ist es deshalb auch nicht, eine solche formale Struktur des Unternehmens wieder „aufzufinden“, sondern sie erst zu konstruieren – der Kaufmann selbst ging über die Details des von ihm betriebenen Handels nicht hinaus und vergegenwärtigte sich die Gesamtheit seiner Tätigkeiten nicht.

Die Moderation des Nachmittags übernahm Guillaume Garner (MHFA) – wie am Vormittag, standen auch jetzt Fallstudien im Mittelpunkt. Marie-Louise Pelus-Kaplan (Paris 7) stützte sich auf Lübecker Quellen vom Ende des 16. Jahrhunderts und stellte in ihrem Beitrag eine Buchführungsstruktur vor, die einen in ost-westlicher Richtung verlaufenden Handel abbildete, bei dem die Kaufleute zusammen mit ihren Waren reisten und der auf kleinen Unternehmen mit zersplitterten Strukturen beruhte sowie als Netzwerk funktionierte. Aus ihren Quellen schloss sie auf die Existenz eines eigenen, stark an einen Handelstypus und einen Wirtschaftsraum angepassten hanseatischen Buchführungssystems, welches, als Folge dieser starken Angepasstheit, nur sehr langsam der doppelten Buchführung Platz machte. Vincent Demont wies mit Nachdruck auf den gefährlichen und spekulativen Aspekt des Juwelhandels hin, wie ihn ein Frankfurter Quellenbestand aus den 1620er Jahren dokumentiert. In dieser Perspektive war die zentrale Buchführung ein Mittel, um die aus dem Handel resultierenden Schwierigkeiten – und hier insbesondere den Umlauf der Bezahlungen – zu bewältigen. Sie diente aber auch dazu, technische Kompetenzen und soziologisch sehr verschiedene Umfelder zusammenzuführen, und erscheint so als ein Machtort des Unternehmens.

Die beiden letzten Beiträge widmeten sich dem Geldwechsel und dem Umlauf der Bezahlungen. Daniel Velinov (Paris 1/Berlin) legte anhand einiger Beispiele, die aus der Buchführung des Antwerpener Bankiers La Bistrate (1666-1669) stammten, dar, wie die Wechselkreisläufe und die Übergänge zwischen den Möglichkeiten von Arbitrage und Gewinn des Kaufmanns und der Formalisierung der Transaktionen funktionierten – das Ganze bildete ein System, das sowohl anpassungsfähig als auch sehr sicher war. Stefan Gorissen (Bielefeld) zeigte schließlich mit seinen Erörterungen, die in seinen Forschungen zur Firma Harkort wurzelten, wie notwendig und beständig Barzahlungen auch an der Schwelle zur industriellen Revolution für ein Handelsunternehmen waren, das sich immer mehr industrialisierte und auf einer Achse, die die Grafschaft Mark mit dem Baltikum verband, auf die Metallurgie spezialisierte.

Präsentiert wurden von den Teilnehmern des Workshops also sehr unterschiedliche Akteure (vom Handelskonglomerat auf europäischer, ja sogar globaler Ebene bis hin zu lokalen Händlerzusammenschlüssen), die eine große Bandbreite an Graden und Typen der Spezialisierung abbildeten. Ganz so wie erwartet, ließ sich dieses Ensemble nicht in einfache chronologische Entwicklungen pressen. Allerdings hat es diese Vielfalt erlaubt, gemeinsame Probleme an die Oberfläche zu bringen. Die Kontextualisierung der einzelnen Quellen erschien so nicht als eine allgemeine Methode, sondern als eine unabdingbare Voraussetzung für ihre fallweise Interpretation. Entwicklungen, die zu offensichtlich auf der Hand liegen, wurden gerade durch diesen Schritt infrage gestellt. Einsichtig wurde so beispielsweise, warum die einfache Buchführung im Universum der Hanse oder die Barzahlungen im Handel mit metallurgischen Produkten nicht mit Anarchismus, sondern mit Effektivität gleichgesetzt werden müssen. Vor allem aber wurde zwischen französischen und deutschen Forschern eine große Übereinstimmung in der Perspektive deutlich – eine Übereinstimmung, die nur dann wahrnehmbar wird, wenn man den Blick weiter schweifen lässt. Im Unterschied zu den Situationen, die sich auf der iberischen oder italienischen Halbinsel oder in Holland und Belgien beobachten lassen, sind die Quellenbestände zu Frankreich und in Deutschland selten und fragmentiert. Der Informationsaustausch über den Rhein hinweg ist deshalb nicht nur willkommen, sondern wird durch die gemeinsam erfahrenen Schwierigkeiten auch erleichtert. Dass die Herausforderung, die am Beginn dieses Workshops stand, erfüllt werden konnte, liegt ohne Zweifel an der Intensität der Diskussionen und an den Forschungsperspektiven, die sich ihnen aus ihnen ergeben haben: Viele der deutschen Teilnehmer werden im Herbst 2007 eingeladen sein, auf einem in Paris abgehaltenen internationalen Arbeitstreffen die Ergebnisse ihrer Arbeiten einem französischen Publikum vorzustellen – und es ist zu hoffen, dass auch dieses Treffen Gelegenheiten eröffnet, neue und langfristig angelegte internationale Kooperationen aufzubauen.


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