Die Partizipation ostmitteleuropäischer Akteure in den frühen internationalen Organisationen (1850-1918)

Die Partizipation ostmitteleuropäischer Akteure in den frühen internationalen Organisationen (1850-1918)

Organisatoren
Katja Naumann, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.10.2010 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefan Guth, Historisches Institut, Abteilung für Neueste Allgemeine Geschichte, Universität Bern

Internationale Organisationen entwickelten sich nicht erst im 20. Jahrhundert zu Arenen, in denen nationale Akteure und transnationale Interessengruppen um Einfluss rangen. Vielmehr galten sie in einer Welt, die von zunehmender Vernetzung gekennzeichnet war, seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts als adäquate Antwort auf Herausforderungen, welche die Möglichkeiten einzelner Staaten überforderten und nach grenzüberschreitender Kooperation und Abstimmung verlangten. Dabei lag es indes in der Logik einer nationalbewegten Zeit, dass grenzüberschreitende Kontakte zunehmend auf national verfasste Akteure eingeschränkt wurden. Zu kurz kamen auf der internationalen Bühne paradoxerweise in der Regel jene Akteure, die ohne nationale Bindung mit übernationalem Geltungsanspruch und internationalen Anliegen auftraten – etwa die Arbeiter- und Frauenbewegungen. Unter diesen Umständen wurden internationale Organisationen und Konferenzen zur Bühne, wo nationale Emanzipationsbewegungen um Anerkennung warben. Eine herausgehobene Rolle spielten dabei Akteure aus Ostmitteleuropa, die ihre nationalen Ansprüche gegen die traditionellen Vielvölkerreiche – das Habsburgerreich, das Russische Reich und, in eingeschränktem Sinne, auch das Deutsche Reich – geltend machten. Die Verquickung supranationaler Anliegen und national-emanzipatorischer Aspirationen verlieh dem internationalen Engagement von Akteuren aus dieser Region eine besondere Vielschichtigkeit. Die Projektgruppe „Ostmitteleuropa Transnational“ am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig1 nahm diese Beobachtung zum Anlass, auf einem von Katja Naumann organisierten Workshop nach den Bedingungen und Konsequenzen dieser Konstellation zu fragen.

Einleitend äußerten KATJA NAUMANN und MATTHIAS MIDDELL (beide Leipzig) die Hoffnung, durch den Blick auf Ostmitteleuropa ein differenziertes Verständnis transnationaler Phänomene zu entwickeln. Allzu oft seien Generalisierungen bisher am nordamerikanischen, britischen oder deutschen Beispiel gewonnen worden, wobei in der Regel Nationalstaaten oder Kolonialimperien den Untersuchungsrahmen gebildet hätten. Dagegen biete die ostmitteleuropäische Großregion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Gelegenheit, transnationale Phänomene am Beispiel von Gesellschaften zu untersuchen, die sich damals mitten im dynamischen Prozess der Nationalisierung befanden. Zwei Thesen dienten als Ausgangspunkt für die anschließenden Beiträge: Erstens wurde Ostmitteleuropa vom Prozess der Internationalisierung keinesfalls links liegen gelassen, sondern hatte daran ebenso Teil wie andere Weltregionen, zweitens wurden internationale Organisationen hier vor dem Hintergrund „verspäteter Nationalstaatsbildung“ für Nationalbewegungen zur Hintertür in die internationale Politik.

HELÉNA TÓTH (München) beschäftigte sich in einem ersten Fallbeispiel mit Emigranten-netzwerken, die sich als Folge der gescheiterten Revolution(en) von 1848 über Europa ausbreiteten und bis in die Vereinigten Staaten reichten. Ebenso, wie die Revolutionäre 1848 dank effektiver Kommunikationsmittel Ansätze zu einer gesamteuropäischen Bewegung entwickelt hatten (Langewiesche), trug auch das anschließende Exil Tausender von politischen Aktivisten aus Ostmitteleuropa pan-europäische Züge. Wie die Netzwerke beschaffen waren, die den Emigranten unter diesen Umständen materielle und ideelle Unterstützung zuteil werden ließen, und vor allem: inwieweit sie nationale Identitäten transzendierten oder im Gegenteil festschrieben, stellte Tóth ins Zentrum ihrer Ausführungen. Am Beispiel ungarischer Revolutionäre, die über Istanbul nach Frankreich, Großbritannien und bis in die Vereinigten Staaten emigrierten, konnte sie zeigen, dass die Exilanten ganz unterschiedliche Anlaufstellen nutzen konnten: angefangen bei internationalen Verwandtschaftsbeziehungen über Netzwerke früher emigrierter Landsleute bis hin zu spontan gegründeten Solidaritätskomitees breiterer Gesellschaftskreise, die etwa in den USA die gescheiterten Revolutionäre euphorisch willkommen hießen und sie zur Projektionsfläche amerikanischer Freiheitsvorstellungen machten. Solche Bewegungen erwiesen sich, so Tóth, allerdings als kurzlebig. Vor allem aber habe die Emigrationswelle von 1948 die transnationalen Solidaritäten bestehender Emigrantenorganisationen auf eine harte Probe gestellt; unter dem Eindruck des Ansturms hätten sie in aller Regel dazu geneigt, ihre Unterstützung auf Angehörige der eigenen Nationalität zu beschränken und sich gegenüber Andersnationalen abzuschotten. Als Ausschlusskriterium habe dabei in der Regel die Sprache gegolten, was sich am Umstand gezeigt habe, dass zahlreiche ungarische Emigranten dank ihrer Verbundenheit mit der deutschen Kultur beim deutschen Arbeiterbildungsverein in London Aufnahme fanden. Ungeachtet solcher Besonderheiten habe das Emigrantenmilieu letztlich den Eindruck der Fragmentierung und nationalen Separierung hinterlassen, das vereinigende Wir-Gefühl der gesamteuropäischen Revolutionsbewegung sich im Rückblick als kurzlebig und wenig tragfähig erwiesen. Eine Ausnahme habe allenfalls die hier nicht weiter thematisierte Bewegung um Giuseppe Mazzini gebildet.

IWONA DADEJ (Berlin) nahm Internationale Frauenkongresse zum Anlass, nach der Beteiligung von Polinnen an der transnationalen Frauenbewegung um 1900 zu fragen. Ausgerichtet wurden diese Kongresse von Dachorganisationen wie dem International Council of Women (ICW) und der International Alliance of Women (IAWS), die sich den grenzüberschreitenden Kampf um politische und soziale Rechte für Frauen auf die Fahnen geschrieben hatten. Den Kongressen kam bei der Herausbildung und Pflege einer internationalen und multilingualen Bewegungskultur große Bedeutung zu. Unter anderem entwickelten die Akteurinnen die Strategie, den symbolischen Raum mit der Wahl aufsehenerregender Versammlungsorten in Besitz zu nehmen. Als unbestritten gilt in der Forschung die herausragende Rolle der deutschen Frauenbewegungen auf internationaler Ebene. Dagegen haben die internationalen Aktivitäten polnischer Frauenrechtlerinnen bisher wenig Beachtung gefunden. Das liegt, so Dadej, nicht zuletzt daran, dass polnische Frauenverbände wie der Zwiazek Równouprawnienia Kobiet oder die Czytelnia dla Kobiet auf den Kongressen kaum in Erscheinung traten. Einzelne polnische Akteurinnen wie Paulina Kuczalska-Reinschmit und Zofia Daszyńska-Golińska hätten hingegen durchaus eine herausgehobene Rolle gespielt. Erklären ließe sich dieses Spannungsverhältnis damit, dass den Kongressen zunehmend ein Schema nationaler Repräsentationen zugrunde gelegen habe, in deren Rahmen die Polinnen in Ermangelung eines eigenen Staates zumindest institutionell auf Randpositionen verwiesen wurden. Damit hätten die Kongresse das Paradoxon augenfällig gemacht, dass die Nationalisierung auf dem Wege über internationale Organisationsstrukturen auch von Bewegungen Besitz ergriff, deren Interessen grundsätzlich grenzüberschreitenden Charakter trugen. Susan Zimmermann ergänzte, dass sich der Bedeutungsschwund transnationaler Akteure ohne nationale Bindung auf die Jahre zwischen 1890 und 1914 datieren lässt. Darin sei die Entwicklung der Frauenbewegung mit jener der Internationalen Arbeiterbewegung vergleichbar, die im Übergang von der Internationalen Arbeiterorganisation zur Zweiten Internationale den gleichen Wandel durchmachte. Diese Phase des nationalen Internationalismus sollte in den folgenden Jahrzehnten bestimmend bleiben, um erst seit den 1970er-Jahren allmählich an Bedeutung zu verlieren.

Anschließend nahm SUSAN ZIMMERMANN (Budapest) die Sozialistische Fraueninternationale (1907-1917) zum Anlass, um Ungleichheiten in internationalen Entwicklungen nachzuspüren. Auf theoretischer Ebene plädierte sie dafür, stärker auf die Asymmetrien und Hierarchien zu achten, die internationalen Beziehungen in aller Regel einbeschreiben seien und daraus erwüchsen, dass sich die einzelnen Akteure hinsichtlich ihrer personellen, materiellen und symbolischen Ressourcen in der Regel stark voneinander unterschieden. Versuche, die daraus hervorgehenden Hierarchien herauszufordern oder das gegenläufige Bestreben, sie zu sichern, bilden, so Zimmermann, ein wesentliches Element der Dynamik internationaler Beziehungen. Unter diesen Umständen komme den Repräsentationsstrategien der Akteure entscheidende Bedeutung zu. Diese könnten etwa versuchen, ihre partikularistischen Ziele als universale Werte zu propagieren. Am Fallbeispiel der Sozialistischen Fraueninternationale zeigte Zimmermann sodann auf, dass die nationale Bindung von Akteurinnen bzw. das Fehlen einer solchen Anbindung seit den 1890er-Jahren eine entscheidende Quelle solcher Asymmetrien darstellte. Zwar waren die Führungsfiguren der Bewegung wie Clara Zetkin und Rosa Luxemburg anti-nationalistisch eingestellt, konnten den Vormarsch des nationalen Gedankens aber nicht verhindern. Ihr Widerstand gegen eine Entwicklung, die sie als immer weitergehende nationalistische Zersplitterung der sozialistischen (Frauen-)Bewegung wahrnahmen, sei etwa darin zum Ausdruck gekommen, dass sie Delegierte staatenloser Nationalitäten in der Regel nach ihrem Herkunftsland oder -ort definierten und damit konfliktträchtige nationale Bezüge vermieden. (So wurden polnischsprachige Abgeordnete beispielsweise als „preußisch“ oder als „aus Lodz“ stammend klassifiziert.) In der anschließenden Diskussion gab Middell zu bedenken, dass internationale Organisationen einen enormen Druck auf die in ihnen vertretenen Akteure ausübten, sich national zu definieren. Zimmermann entgegnete, dass dies in aller Regel auch dem erklärten Willen der jeweiligen nationalen Akteure entsprochen habe. Summierend könne man von einem dreistufigen Prozess sprechen: erstens Formalisierung internationaler Beziehungen, zweitens Ausdehnung der daraus hervorgegangenen Organisationen auf Ostmitteleuropa, drittens Anspruch der Polen, Ungarn, Tschechen etc. auf unabhängige Repräsentationen in diesen Organisationen. Einig waren sich die Diskutanten, dass zwischen mindestens drei Gruppen internationaler Organisationen zu unterscheiden sei: erstens solche zu Themen internationaler Politik (z.B. Friedensbewegung), die zwingend einer zwischenstaatlichen Regelung bedurften, zweitens solche zu sozialen bzw. Bürgerrechts-Anliegen, deren Umsetzung in der Regel auf nationaler Ebene zu erfolgen hatte (Arbeiter- und Frauenbewegung), sowie drittens Assoziationen der internationalen scientific community. Eine solche Gliederung lässt erkennen, dass der Rekurs auf den nationalen Bezugsrahmen in den ersten beiden Fällen auch der Natur der verfolgten Anliegen entsprang, während im dritten Fall oft ein kosmopolitischeres Vorgehen erfolgversprechender schien.

MARK D. PITTAWAY (Milton Keyne) stellte die ostmitteleuropäische Arbeiterbewegung in den Kontext einer globaler werdenden Wirtschaft und betrachtete dazu die vier Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg. In seinem Beitrag plädierte er dafür, eine neue Geschichte der sozialdemokratischen Bewegung in Ostmitteleuropa zu schreiben, die trotz des Umstands, dass auch sie nicht gänzlich von nationalen Anwandlungen verschont blieb, lange eine (wenngleich letztlich gescheiterte) Alternative zur nationalistischen Politik der Epoche dargestellt habe. Zu diesem Zweck sei es essentiell, die Konstruktion des Raums und die Konstruktion des Sozialen in ihrer Gleichzeitigkeit und gegenseitigen Verwobenheit zu analysieren. Dabei müsse materiellen und lokalen Bedingungen wieder vermehrte Aufmerksamkeit zuteil werden.

Auf einer vorwiegend theoretischen Ebene ging ROBERT BRIER (Warschau) der Frage nach, wie die Entwicklung internationaler Organisationen dem Leitbild vom souveränen Nationalstaat Vorschub geleistet habe. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildete die Beobachtung einer relativen Stabilität des modernen Staatensystems, die im „Wilsonian Moment“ – also der Erhebung des nationalen Selbstbestimmungsrechts zum amerikanischen Kriegsziel – ihren sinnfälligen Ausdruck fand.2 Vorangegangen war die Institutionalisierung grundlegender Rollenverständnisse und Identitäten im zwischenstaatlichen Verkehr, und mithin die Entstehung einer Kultur der internationalen Politik. Im Zentrum stand die These, dass eine entstehende internationale Ordnung, die darauf hinauslief, weltweit nur noch den souveränen Nationalstaat als einzig legitime politische Form zu akzeptieren, lokalen politischen Akteuren einen verbindlichen Sinnhorizont und Handlungsrahmen vermittelte. Diese Sinnressourcen wussten im ausgehenden 19. Jahrhundert insbesondere ostmitteleuropäische Exilanten zu nutzen, die das entstehende Geflecht internationaler Organisationen als „appellative Instanz“ (J. Requate/M. Schulze Wessel) entdeckten, mit deren Hilfe sie ihren nationalen Projekten Geltung und Wirkung verschafften. Gleichzeitig trugen sie wesentlich zur Herausbildung einer internationalen politischen Kultur bei, indem sie einer transnationalen Öffentlichkeiten die Existenz ostmitteleuropäischer Nationen überhaupt erst zu Bewusstsein brachten.

In einem letzten Beitrag zeichnete ADRIAN ZANDBERG (Warschau) die Verbindungen zwischen der internationalen Abstinenzbewegung und polnischen Prohibitionisten nach. Ausgehend vom angelsächsischen Raum, entfalteten Organisationen wie der Order of Good Templars oder die Woman's Christian Temperance Union im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine beachtliche internationale Ausstrahlungskraft, die in der Forschung auch gebührende Beachtung gefunden hat, soweit sie Nordamerika und Westeuropa betraf. Kaum untersucht wurde diese transnationale Bewegung jedoch im Hinblick auf Ostmitteleuropa. In Polen fand die Abstinenzbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wachsenden Anklang. Dem grenzüberschreitenden Austausch der prohibitionistischen Bewegung dienten internationale Kongresse , auf denen sich polnische Aktivisten mit französischen, schweizerischen und preußischen Antialkoholikern trafen. Zu ihren Führungsfiguren zählten Aktivisten wie der exzentrische Philosoph Wincenty Lutosławski, der sozialistische Schriftsteller Edward Abramowski und der angesehene Psychiater Rafał Radziwiłłowicz, die in Polen Abstinenzbewegungen gründeten und politische Verbündete für ihr Anliegen suchten. Der beachtliche Erfolg ihrer Bemühungen zeigte sich nach dem Ersten Weltkrieg im unabhängigen Polen, wo etliche Gemeinden und Landkreise lokale Prohibitionsgesetze verabschiedeten. Dazu beigetragen hatte der Umstand, dass etliche internationale Aktivisten der Prohibitionsbewegung nach 1918 zu Staatsbeamten im unabhängigen Polen aufstiegen. Die polnische Prohibitionsbewegung kann daher als Beispiel dafür gelten, wie die Ideen einer transnationalen Bewegung erfolgreich in den nationalen Kontext übertragen wurden.

MARCEL VAN DER LINDEN (Amsterdam) fiel die Aufgabe zu, in einem abschließenden Kommentar nach dem gemeinsamen Nenner der vorgelegten Beiträge zu fragen. Zum Ausgangspunkt nahm er die Beobachtung, dass die Historiographiegeschichte bis ins späte 20. Jahrhundert einer nationalgeschichtlichen Sichtweise verhaftet blieb, aus deren Warte alle geschichtlichen Entwicklungen gewissermaßen zwangsläufig auf den Nationalstaat zuliefen. Erst in den 1970er-Jahren gewannen vergleichende und beziehungsgeschichtliche Ansätze an Einfluss, die allerdings weiterhin vom Nationalstaat ausgingen. Dieser trat erst in den Hintergrund, als die Geschichtswissenschaft transnationale Forschungsgegenstände wie Migrationsprozesse, Grenzregionen und grenzüberschreitende immagined communities wie die panafrikanische Bewegung oder die nordatlantische Gemeinschaft entdeckte. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Blickerweiterung über den westeuropäisch-nordamerikanischen Rahmen hinaus, zu der unter anderem die New Colonial History beitrug.

Als nützliche Analysekategorie und verbindendes Element aller vorgebrachten Beiträge betrachtete Van der Linden den Begriff des Internationalismus, der allerdings einer Differenzierung bedürfe. In diesem Sinne schlug er vor, vier Spielarten zu unterscheiden: erstens den Proto-Internationalismus als eine Form des transnationalen Austauschs, der nicht vom nationalen Rahmen bestimmt wird – etwa grenzüberschreitende Wanderungen von Handwerksgesellen oder saisonale Arbeitsmigration –; zweitens einen subnationalen Internationalismus, in dessen Rahmen grenzüberschreitende Kooperation auf lokalen Zweigstellen beruht (als Beispiel wäre die Erste Internationale zu nennen); drittens einen nationalen Internationalismus, dessen Kooperationsformen auf der zwischenstaatlichen Ebene angesiedelt sind. Die meisten nach 1880 entstandenen internationalen Organisationen waren nach diesem Muster verfasst, als Beispiel kann die Zweite Internationale dienen. Dominiert wurden diese Organisationen in der Regel von Westeuropäern, Ostmitteleuropa blieb unterrepräsentiert. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde diese Spielart des Internationalismus, viertens, allmählich durch supranationale Internationalismen abgelöst, in denen der souveräne Nationalstaat einen Teil seiner Entscheidungskompetenzen an übernationale Gremien abtrat.

Van der Lindens Anregungen stießen in der Abschlussdiskussion auf Zustimmung. Des Weiteren wurde dafür plädiert, gerade transnational angelegte Forschungsdesigns so zu fassen, dass auch weitreichende Zusammenhänge in den Blick genommen werden. So habe beispielsweise der Sieg Japans über Russland 1905 erstaunliche Fernwirkungen gezeitigt – etwa indem er der jungtürkischen Bewegung Aufschwung verliehen und die Unabhängigkeitsbewegung in Indonesien angestoßen habe. Einig waren sich die Diskutanten schließlich auch in der Forderung, „erfolglose“ transnationale Bewegungen nicht zu vernachlässigen. Oft mache die Geschichte visionärer „Träumer“ dem rückschauenden Betrachter Handlungsoptionen, die aus zeitgenössischer Sicht bestanden, durch den weiteren Verlauf der Geschichte aber gewissermaßen verschüttet wurden, überhaupt erst sichtbar. Ihre Erforschung könne die Geschichtswissenschaft deshalb vor teleologischen Zuspitzungen bewahren, die gerade im Hinblick auf nationalstaatliche Entwicklungen immer noch an der Tagesordnung seien.

Als Fazit des Workshops wurde festgehalten, dass die Erforschung Ostmitteleuropas von Historikern transnationaler Phänomene keinesfalls als Randerscheinung abgetan werden dürfe. Vielmehr könne der Blick auf diese Region dazu beitragen, ein differenziertes Verständnis transnationaler Zusammenhänge zu entwickeln und vorschnelle Generalisierungen in Frage zu stellen, die aus der Anschauung eines beschränkten Untersuchungsraums gewonnen seien. So könne die ostmitteleuropäische Perspektive letztlich auch einen Beitrag zur Konzeptionalisierung transnationale Phänomene leisten.

Konferenzübersicht:

Katja Naumann (GWZO Leipzig) / Matthias Middell (Universität Leipzig): Begrüßung und Einleitung

Heléna Tóth (Ludwigs-Maximilians- Universität München): Europäische Revolutionen – Europäisches Exil? Émigré-Organisationen und Netzwerke nach den Revolutionen von 1848

Iwona Dadej (Wissenschaftszentrum Berlin): Die Beteiligung von Polinnen an der transnationalen Frauenbewegung. Internationale Frauenkongresse als Fallbeispiele

Susan Zimmermann (Central European University Budapest): Die Sozialistische Fraueninternationale und Ungleichheiten in internationalen Entwicklungen. Ein Analyserahmen und zwei Beispiele aus Ostmitteleuropa

Mark D. Pittaway (The Open University, Milton Keyne): Überlegungen zur Entwicklung ostmitteleuropäischer Arbeiterbewegungen in einer sich globalisierenden Wirtschaft, 1873–1914

Robert Brier (Deutsches Historisches Institut Warschau): Internationale Organisationen und die Genese des „Wilsonian Moment“. Überlegungen zum Verhältnis lokaler und grenzübergreifender Faktoren für die Nationsbildung in Ostmitteleuropa

Adrian Zandberg (School of Political Science, Communication and International Relations, Warsaw): „Vorbereitung einer neuer neuen Welt“. Polnische Prohibitionisten und die frühe internationale Abstinenzbewegung

Marcel van der Linden (International Institute of Social History, Amsterdam): Kommentar

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 <http://www.uni-leipzig.de/gwzo/index.php?option=com_content&view=article&id=250&catid=78&Itemid=4078&Itemid=407> (03.01.2011).
2 Den Begriff prägte letzthin Erez Manela. Erez Manela, The Wilsonian Moment. Self-Determination and the International Origins of Anticolonial Nationalism, New York 2007.


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