Der Kult des großen Plans um 1910. Gestaltung von Metropolregionen in historischer Perspektive

Der Kult des großen Plans um 1910. Gestaltung von Metropolregionen in historischer Perspektive

Organisatoren
Arbeitskreis Planungs- und Städtebaugeschichte der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU); Center for Metropolitan Studies (CMS) der TU Berlin; Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.11.2010 - 26.11.2010
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Von
Harald Engler, Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS), Erkner

Vor ziemlich genau einhundert Jahren wurden für zahlreiche Städte auf der ganzen Welt umfassende Städtebauvisionen erarbeitet, die in ambitionierter Form als „große Pläne“ mit hohem publizistischem Aufwand als PR-Kampagne der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Die grundlegenden stadtplanerischen Aufgaben der Zeit umfassten die Gestaltung der Transformation der Altstädte zu Großstadt-Cities, die urbane Steuerung von Stadterweiterungen zum Beispiel durch den Bau neuer Gartenvorstädte und die Schaffung zukunftsträchtiger stadtplanerischer Gesamtvisionen für die jeweilige Stadt. Diese in mehrfacher Hinsicht „großen“ und ambitionierten Pläne gerieten im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts angesichts einer eher funktionalistisch und sektoral ausgerichteten Planungspraxis bald in Vergessenheit, rücken gegenwärtig aber durch den Bedeutungsgewinn der Metropolregionen wieder in den Fokus der planerischen und geschichtswissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Um diesen Impuls auch für die Forschung wirksam werden zu lassen, veranstaltete die Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU) mit ihrem Arbeitskreis Planungsgeschichte zusammen mit dem Center for Metropolitan Studies (CMS) der Technischen Universität Berlin (Harald Bodenschatz, Celina Kress, beide Berlin) und dem Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner (Christoph Bernhardt, Erkner/Berlin) in den Räumen der TU Berlin eine international besetzte Tagung zum Thema „Der Kult des großen Plans um 1910“. Die von Celina Kress (CMS) organisierte Veranstaltung bildete das wissenschaftliche Begleitprogramm einer Ausstellung zu „Stadtvisionen 1910/2010“ im Architekturmuseum der TU Berlin, zu der ein instruktiver Katalog mit zahlreichen umfassenden Hintergrundartikeln erschienen ist.1

In seiner Einführung in das Themenfeld der Tagung erläuterte HARALD BODENSCHATZ (Berlin), warum es sich bei den Plänen aus der Zeit um 1910 um „große Pläne“ handelt und inwiefern ihre öffentlichkeitswirksame zeitgenössische Inszenierung als „Kult“ einzuordnen ist. Groß waren die Pläne in viererlei Hinsicht: Zum einen erfassten sie teilweise ein Planungsgebiet, das weit über die Kernstadt hinausreichte und die gesamte Region einschloss. Zum anderen sind sie auch konzeptionell als groß einzuschätzen, weil sie Stadtplanung disziplinär umfassend definierten und auch die Sektoren Geschichte, Wirtschaft, Grünplanung und Architektur in den Planungsprozess integrierten. Außerdem sollten die großen Pläne eine moralische Größe transportieren, in der ideale Ziele von „civic center“ und „civic art“ ausgedrückt und auch soziale Fragen wie gutes Wohnen für alle Klassen der Bevölkerung thematisiert wurden. Und schließlich waren sie groß, weil zur ihrer öffentlichkeitswirksamen Präsentation die schiere Monumentalität ihres Großformats gehörte (Wolfgang Sonne). Die großen Pläne waren für die neu auf das Feld tretenden „Architekten-Planer“ hilfreich, um sich als professionelle Stadtplaner zu etablieren und sich auf diese Weise von den „Ingenieur-Planern“ alter Schule abzugrenzen, die sich eher auf die Planung von Infrastruktursystemen der wachsenden Städte des 19. Jahrhundert beschränkt hatten. „Groß“ gestaltet wurden die neuen Pläne der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts auch als dezidiertes stadtplanerisches Signum der Moderne im internationalen Konkurrenzkampf der Großstädte mit konkurrierenden Konzepten der Moderne, die in der intendierten städtebaulichen Qualifizierung der Planungen gleichzeitig durch Austauschbeziehungen der Akteure auf internationale Allianzen und Zusammenarbeit setzten. So wurden die Planungen für Zürich 1915 von einer Ausstellung der Düsseldorfer Planungen von 1912 inspiriert, die wiederum von den Berliner und Chicagoer Erfahrungen von 1908 bzw. 1910 direkt beeinflusst waren. Groß und „kultig“ wurden die Pläne schließlich, weil sie öffentlichkeitswirksam inszeniert wurden und auch auf große Resonanz stießen – allein die Ausstellung innerhalb des Wettbewerbs Groß-Berlin von 1910 zählte 60.000 Besucher, der Propaganda-Ausschuss in Chicago umfasste etwa 1.000 Mitglieder – und von einer intensiven öffentlichkeitswirksamen Vor- und Nachbereitung begleitet waren, in die – wie im Beispiel Berlin mit Käthe Kollwitz – auch bekannte Künstler einbezogen wurden.

In einem Keynote-Beitrag öffnete FRIEDRICH LENGER (Gießen) in beeindruckender, weil transnational vergleichender Weise, den sozial- und kulturgeschichtlichen Kontext, in dem zahlreiche Städte ihren „großen Plan“ etablierten. Er unterstrich dabei die wachsende internationale Verflechtung der Städte bei gleichzeitig vorhandenen großen regionalen und nationalen Unterschieden in der weltweiten Entwicklung der Städte vom Eigenheimbau in Detroit bis zu Gorkis Kellerlöchern und „Nachtasylen“ im zaristischen Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In insgesamt fünf großen Themengruppen mit 15 Vorträgen wurden im Anschluss verschiedene Facetten des Themas „Stadt und großer Plan“ beleuchtet. In der ersten Themengruppe demonstrierte WOLFGANG SONNE (Dortmund) anhand des Chicago-Plans des amerikanischen Stadtplaners Daniel Hudson Burnham (1846-1912) systematisch die „Größe“ und den „Kultstatus“ dieses Planwerkes.

Im zweiten großen Themenblock wurden mehrere internationale „große Pläne“ als Fallbeispiele vorgestellt, analysiert und diskutiert. Der Schweizer Historiker DANIEL KURZ (Zürich) unterstrich in seinem Vortrag, wie beim Wettbewerb Groß-Zürich 1915-1918 während des Ersten Weltkriegs ein Konzept entwickelt wurde, dessen Leitsätze nach 1918 für die Stadt- und Regionalplanung der größten Stadt der Schweiz maßgeblich blieben und in dem soziale Ausgleichsmaßnahmen städtebaulich bereits vorbeugend berücksichtigt wurden.

In der dritten Themengruppe, in der lokale und internationale Akteure und deren Netzwerke unter die Lupe genommen wurden, diskutierte CELINA KRESS (Berlin) das Zusammenwirken von Staat, Kommunen und privatem Terrainkapital. CHRISTOPH BERNHARDT (Erkner/Berlin) untersuchte am Beispiel der beiden Stadtplaner Josef Brix und Felix Genzmer von der Technischen Hochschule Berlin, welche Rolle die deutschen Technischen Hochschulen bei der Entwicklung und Vermittlung städtebaulicher Leitbilder sowie der professionellen Etablierung der neuen Disziplin des Städtebaus im Konkurrenzkampf mit dem bis dahin deutlich dominierenden Ingenieurwesen spielten.

In der vierten Themengruppe, die sich mit spezifischen Gestaltungselementen der Stadtregion um 1910 befasste, untersuchte SONJA DÜMPELMANN (College Park/USA) international vergleichend Grün- und Parkplanungen in Chicago, Berlin und Rom mit dem Ergebnis, dass zu Beginn des 20. Jahrhundert in vielen Großstädten ein sich international befruchtendes System von Grünplanungen etabliert wurde, die als qualitative Symbole einer besser geordneten und grüneren Zukunft von Städten wahrgenommen wurden. Am Beispiel der Hundertjahrfeier des Burnham-Plans für Chicago, dem ersten umfassenden Stadtplan für die zukunftssichere Expansionssteuerung einer nordamerikanischen Großstadt und der „Inkunabel des großen Plans“ (Wolfgang Sonne) rekapitulierte die amerikanische Forscherin KRISTEN SCHAFFER (Raleigh/USA) in einem herausragenden Vortrag die Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Impulses bei der Entstehung des Plans sowie seine mediale Verbreitung und Wahrnehmung. Sie unterstrich vor allem die Langzeitwirkung und Nachhaltigkeit der Planungen Burnhams auch für die Herausbildung des „spirit of Chicago“ und des Mythos der Stadt am Michigansee.

Ein Fazit der Tagung wurde in den abschließenden Statements und in der Schlussdiskussion gezogen. Erörtert wurde, weshalb einige Städte große Pläne anfertigen ließen und andere nicht wie zum Beispiel die Stadt Frankfurt am Main, die unter ihrem Bürgermeister Adickes andere Wege der Problemlösung suchte und fand. Notwendig waren die „großen Pläne“ vor allem in denjenigen Städten, in denen sich stadtplanerische Blockaden gebildet hatten, die für die angestrebte Verbesserung der kommunalen Entwicklung hinderlich waren, wobei die großen Pläne nicht notwendigerweise Gemeinwohlziele gegen private Interessen verfolgen mussten. Strittig interpretiert wurde die Relevanz der großen Pläne in ihrer Bedeutung primär als große und in der Öffentlichkeit wahr genommene Bilder von Städten oder vielmehr als bedeutsame Dokumente der Flächenaufteilung und -nutzung. Diskussionswürdig erschien auch die Frage, ob die großen Pläne eher Ausdruck der gesteigerten Bedeutung von Stadtplanern als Vertreter einer neuen Planungsdisziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren oder ob sie im Zeitalter der dominierenden Terraingesellschaften vielmehr auf den Mangel eines bis dahin nicht vorhandenen bzw. noch nicht wirksamen Städtebaus hinweisen (so Celina Kress). Demnach stünden sie für das Bedürfnis einer eher ohnmächtigen und bedeutungslosen Akteurs- und Berufsgruppe, die mit den großformatigen und mit großer Öffentlichkeitsmobilisierung inszenierten Plänen in der Auseinandersetzung mit den bis dahin dominierenden Bauingenieuren ein Zeichen gegen ihre strukturelle Machtlosigkeit sehen wollten, ganz so wie es Daniel Burnham als Schöpfer des Chicago-Plans formulierte: „Make no little plans. They have no magic to stir men's blood and probably will not themselves be realized. Make big plans; aim high in hope and work…Think big.“2 Letztlich, so Harald Bodenschatz, ist es bemerkenswert, dass uns heute die Probleme der Städte um 1910 wieder deutlich näher sind, als dies für derartige, noch vor wenigen Jahrzehnten im Verruf stehenden Stadtplanungen früher der Fall war.

Zum richtigen Zeitpunkt lieferte die Tagung somit insgesamt mit der Thematisierung der „großen Pläne“ vom Beginn des 20. Jahrhunderts eine weit gefächerte, spannende und kenntnisreich ausgerichtete Analyse eines bislang wenig beleuchteten, aber für die Konstituierung des Städtebaus als akademische und stadtplanerische Disziplin wichtigen Themenfelds der Planungsgeschichte. Der innovative Charakter der Konferenz zeigte sich vor allem durch den dezidiert transnational angelegten Fokus der Perspektive und der Vorträge, die mit Fragen der internationalen Kommunikation und des länderübergreifenden Diskurses über die „großen Pläne“ einem modernen konzeptionellen Ansatz folgte, der sich deutlich positiv auf die Erträge der Tagung auswirkte. Die Konferenz leistete einen wertvollen und längst überfälligen Beitrag zur Selbstreflexion zu den Wurzeln des modernen Städtebaus als Disziplin und aktivierte planungsgeschichtliche Expertise zu einem Thema, das nach einhundert Jahren wieder höchst aktuell geworden ist.

Konferenzübersicht:

Harald Bodenschatz (CMS/TU Berlin): Thematische Einführung – Der Kult des großen Plans

Friedrich Lenger (Justus-Liebig-Universität Gießen): Keynote – Europäische und nordamerikanische Großstädte um 1910. Sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte

Themengruppe I: Der große Plan und die neue Disziplin Städtebau

Wolfgang Sonne (TU Dortmund): Dokument des großen Plans. Der Chicagoplan in seiner Zeit

Harald Kegler (Bauhaus-Universität Weimar): Professionalisierung der Disziplin. Städtebau in Europa und USA um 1910

Zusammenfassende Diskussion: Großer Plan 1910 – Planung für Metropolregionen? (Moderation: Harald Bodenschatz, CMS/TU Berlin)

Themengruppe II, 1. Teil: Große Pläne – weltweit um 1910

Markus Tubbesing (ETH Zürich): Der Wettbewerb Groß-Berlin 1908-10

Carl Philipp Schuck (Universität Münster): Die Städtebau-Ausstellungen in Düsseldorf 1910 und 1912

Corinne Jaquand (School of Architecture Clermont-Ferrand): Das städtebauliche Werk von Léon Jaussely

Karin Wilhelm (TU Braunschweig): Die Bedeutung Wiens für den Städtebau um 1910

Zusammenfassende Diskussion: Wien als Vorbild oder Gegenbild? (Moderation: Celina Kress, CMS/TU Berlin)

Gemeinsamer Rundgang durch die Ausstellung „STADTVISIONEN 1910|2010. Berlin Paris London Chicago. 100 Jahre Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin“

Netzwerktreffen des AK Planungsgeschichte

Themengruppe II; 2. Teil: Große Pläne – weltweit um 1910

Ursula von Petz (Universität Dortmund): Der große Plan von Rom 1909

Daniel Kurz (Zürich): Wettbewerb Groß-Zürich 1915-1918

Hakan Forsell (School of Humanities, Education and Social Sciences Örebro): Stockholm and Tallinn. Große Pläne um 1910

Friedhelm Fischer (Universität Kassel): Gesamtpläne für Canberra und Neu-Delhi (ab 1912/13)

Zusammenfassende Diskussion: Internationale Modelle und Anpassung an lokale Bedingungen (Moderation: Gerd Kuhn, Universität Stuttgart)

Themengruppe III: Transfers und Akteure – lokal und international

Harold Platt (Loyola University Chicago): Daniel Burnham and the Trans-Atlantic Origins of Modern Urban Planning

Celina Kress (CMS/TU Berlin): Kooperierende oder konkurrierende Akteure? Öffentlicher versus privater Städtebau

Christoph Bernhardt (IRS Erkner/Berlin): Die Rolle der deutschen Technischen Hochschulen in der Entwicklung und Vermittlung städtebaulicher Leitbilder um 1910

William Whyte (University of Oxford): The RIBA Conference in London 1910

Zusammenfassende Diskussion: Akteurskonstellationen und Austauschmuster. Experten, Zivilgesellschaft, Stadtbewohner (Moderation: Dirk Schubert, HafenCity Universität Hamburg)

Themengruppe IV: Gestaltungselemente der Stadtregion um 1910

Dieter Schott (TU Darmstadt): Verkehr und Umwelt in der Stadt um 1910

Sonja Dümpelmann (University of Maryland): The Greater Green. Park system planning at the beginning of the twentieth century in Chicago, Berlin and Rome

Zusammenfassende Diskussion: Gestaltete und natürliche Umwelt in Metropolregionen (Moderation: Dorothee Brantz, CMS/TU Berlin)

Themengruppe V: Mediale Verbreitung und Wahrnehmung der großen Pläne

Kristen Schaffer (North Carolina State University): The Burnham Plan Centennial

Die Botschaften der großen Pläne. Abschließende Statements (Christoph Bernhardt, Harald Bodenschatz, Celina Kress)

Abschlussdiskussion (Moderation: Clemens Zimmermann, Universität des Saarlandes)

Anmerkungen:
1 Harald Bodenschatz u.a. (Hrsg.), Stadtvisionen 1910/2010. Berlin, Paris, London, Chicago. 100 Jahre Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin, Katalog zur Ausstellung Stadtvisionen 1910/2010 des Architekturmuseums der TU Berlin, 15. Oktober bis 10. Dezember 2010, Berlin 2010.
2 Charles Moore, Daniel H. Burnham. Architect, Planner of Cities, Bd. 2, Boston 1921.


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