Aktuelle Studien zur historischen Konfliktforschung. 1. Arbeitstreffen des DFG-Netzwerks Gelehrte Polemik

Aktuelle Studien zur historischen Konfliktforschung. 1. Arbeitstreffen des DFG-Netzwerks Gelehrte Polemik

Organisatoren
Kai Bremer, Justus-Liebig-Universität Gießen; Carlos Spoerhase, Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.10.2011 - 05.10.2011
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Von
Svenja Ilona Hahn, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

„Wir sind in der bemerkenswerten Situation, dass unsere erste Publikation bereits beim ersten Netzwerk-Treffen vorliegt“, freute sich Kai Bremer (Gießen) zu Beginn des 1. Arbeitstreffens des DFG-Netzwerks „Gelehrte Polemik“ im Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) in Gießen. Pünktlich zum ersten Treffen des Netzwerkes, das Bremer gemeinsam mit Carlos Spoerhase (Berlin) leitete, erschien der gemeinsame Sammelband.1 Dies ist der Tatsache geschuldet, dass sich das Netzwerk in Folge der Tagung „Typen und Techniken wissenschaftlicher Konfliktführung in der respublica litteraria des 17. und 18. Jahrhunderts“ aus dem Oktober 2009 gründete.2

Auf diesem Fundament aufbauend, diente das erste Arbeitstreffen primär der Ausrichtung der weiteren Zusammenarbeit, dem gegenseitigen Kennenlernen der Forschungsvorhaben und Verknüpfen der verschiedenen Fachgebiete. Ergänzt wurde dies durch die Diskussion aktueller Forschungsliteratur sowie durch Fachvorträge.

Grundgedanke aller Projekte ist die intensive Beschäftigung mit der historischen Wahrnehmung von Polemik, den Begründungsmodellen von Streit und dem rhetorischen und literarischen Stil des Polemisierens. Mit der Einbindung von Wissenschaftlern aus der germanistischen Literaturwissenschaft und Linguistik, der Anglistik, Romanistik, Komparatistik, Geschichte, Philosophie und Theologie soll der Komplexität der frühneuzeitlichen Streitkultur interdisziplinär und methodisch breit begegnet werden.

Die Vorstellungsrunde der Mitglieder begann MARK-GEORG DEHRMANN (Hannover), der sich dem Literaturstreit der frühaufklärerischen Kritiker zwischen 1720 und 1750 widmet. Mit der Funktion des Gelehrten beschäftigt sich auch CASPAR HIRSCHI (Zürich). Er wird die Rollenzuweisung von Kritikern und Experten in Gerichten und in Akademien in Frankreich und England untersuchen.

Einen thematisch gänzlich anderen Bereich nimmt sich ANDREA ALBRECHT (Freiburg) vor: die mathematische Streitkultur in der Frühen Neuzeit. Albrecht wird sich vor allem der Präsentationsart von Konflikten zwischen Mathematikern widmen, die fälschlicherweise weithin eher als Ireniker denn als ‚scharfe Polemiker’ gelten. Einen wissenschaftsgeschichtlichen Schwerpunkt haben auch IRIS BONS (Gießen) und KLARA VANEK (München) gewählt. Beide untersuchen Polemik in der Medizingeschichte. Bons interessiert sich für Kontroversen in der Medizin des 18. Jahrhunderts, insbesondere zwischen medizinischen Laien und Ärzten sowie für die Polemiken des Mediziners Albrecht von Haller. Vaneks Ziel ist die Kontextualisierung von Kontroversen in der Medizin im Zusammenhang mit der satirischen Schrift „Machiavellus Medicus“, die sich im 17. Jahrhundert dem Topos des schlechten Arztes widmete.

Einen kirchenhistorischen Beitrag wird CHRISTOPHER VOIGT-GOY (Mainz) liefern. Er beschäftigt sich mit dem weltanschaulichen Dissens in dem theologischen Journal „Unschuldige Nachrichten“ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Schwerpunkt der Untersuchung wird die Analyse von Rezensionen kritischer Schriften der Aufklärung sein. Die Thematik der Aufklärung beschäftigt auch ANITA TRANINGER (Berlin). Sie untersucht die Streitigkeiten und deren Organisation zwischen Gelehrten im Spanien der Aufklärung sowie die Transformation des spanischen Disputationswesens an europäischen Universitäten.

Mit der Binnenperspektive von Gelehrten im theologischen Streit beschäftigt sich MARKUS FRIEDRICH (Frankfurt). Er nimmt an, dass der Gelehrten-Streit nicht nur einem rationalen Schema folgte, sondern auch von den Emotionen der Beteiligten bestimmt war. Der Schwerpunkt von KAI BREMERs (Gießen) Projekt über die Form des Streits im Pietismus ist die Analyse der Diskrepanz zwischen Polemik und dem pietistischen Anspruch der Sanftmütigkeit.

Eine Untersuchung der rhetorischen Finessen des Streits nimmt sich SIBYLLE BAUMBACH (Mainz) vor. Sie wird die Kommunikationsformen in Totengesprächen des 17. und 18. Jahrhunderts untersuchen. CARLOS SPOERHASE (Berlin) setzt ebenfalls bei der Rhetorik an. Er wird sich der Hermeneutik und den Stileigenschaften kritischer Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zuwenden.

Auch die assoziierten Netzwerksmitglieder hatten die Möglichkeit ihre Forschungsvorhaben vorzustellen. KERSTIN LUNDSTRÖM (Stockholm/Gießen) fragt im Rahmen ihrer Promotion nach der Systematisierung von Streitschriften und der Rolle von Laien im Reformationsdiskurs. Die Bedeutung von Laien interessiert auch ANDREAS PIETSCH (Münster). Er erforscht Methoden der Konfliktvermeidung und der Verstellung und Täuschung durch Polemik sowie die Diskussion zwischen Gelehrten und Laien. Die literarische Kommunikationsform der Polemik sowie ihre Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert ist Untersuchungsgegenstand des Habilitationsprojektes von DIRK ROSE (Bonn). MICHAEL MULTHAMMER (Gotha) wirft einen Blick auf die Schriften des jungen Lessings, in denen Autoren verbotener Schriften verteidigt wurden. Multhammer möchte so aufzeigen, dass Lessings polemischer Schreibstil bereits früh entwickelt war. Auch soll der Einfluss verbotener Schriften auf Lessing als Autor der Hochaufklärung thematisiert werden.

Die Vorträge eröffneten INES PEPER (Wien) und THOMAS WALLNIG (Wien). Peper thematisierte die Konkurrenzsituation unter Gelehrten am Beispiel der Kontroverse über den verantwortungsvollen Umgang mit Quellen zwischen dem Benediktinermönch Bernhard Pez und dem Präfekten der kaiserlichen Bibliothek in Wien J.B. Gentilotti von Engelsbrunn. Wallnig schilderte anschließend die konfessionelle Differenz in den Rezensionsjournalen der katholischen Aufklärung anhand eines Angriffs gegen den protestantischen Aufklärer Friedrich Nicolai in der katholischen „Banzer Zeitschrift“. Am Beispiel des Prozesses gegen den katholischen Theologen und Prager Professor Karl Heinrich Seibt, der indizierte Bücher empfohlen haben soll, sprach Wallnig ergänzend über die Verlagerung einer Gelehrtenkontroverse vor juristische Instanzen.

Die Kunsthistorikerin DORIS LEHMANN (Bonn) zeigte mit dem Streit zwischen dem Künstler Giovanni Battista Casanova und dem Archäologen Johann Joachim Winckelmann, dass Polemik nicht nur ein Mittel zur Durchsetzung, sondern auch zur Festigung der eigenen Kompetenz sein kann. Außerdem beschrieb Lehmann anhand des Streits zwischen diesen ehemaligen Kollegen, dass ein Streit über wissenschaftliche Kompetenz auch auf einer persönlichen Ebene geführt werden kann.

GERD FRITZ (Gießen) sprach, aufbauend auf seinen umfangreichen Forschungen zur frühneuzeitlichen Polemik, über die Kontroverse als ein Paradigma für die Geschichte von Kommunikationsformen. So hätten sich gewisse Makrostrukturen von Kontroversen entwickelt, die standardisiert wurden.

HERBERT GRABES (Gießen) referierte, den zweiten Tag abschließend, über die Entwicklung der Pamphletistik im England der Frühen Neuzeit. Diese Pamphlete beschäftigten sich vor allem mit den religiösen Differenzen zwischen Anglikanern, Katholiken, Puritanern und Presbyterianern, die teilweise auch mit politischen Problematiken verflochten waren. Besonders betonte Grabes die fehlende Konsensbereitschaft bei allen Parteien.

Die Vorträge zu verschiedenen Aspekten von Konflikten in der Frühen Neuzeit wurden durch die Diskussion einschlägiger Studien der historischen Konfliktforschung abgerundet. Die Thematisierung von unterschiedlichen Forschungsansätzen unterstrich den Anspruch der Tagungsteilnehmer, einen gemeinsamen Weg des wissenschaftlichen Arbeitens zu finden.3

Dass die Installierung des Netzwerkes erfolgreich gelaufen sei, war zum Schluss der Tagung allgemeiner Konsens. Ebenso die enorme Breite des Untersuchungsfeldes der frühneuzeitlichen Streitkultur, welches sich in der Weite der Projekte widerspiegelt. Als positiv wurden insbesondere die Diskussion über aktuelle Forschungsliteratur sowie die offenen Arbeitsmöglichkeiten empfunden. So wollten sich die Teilnehmer auch noch nicht auf eine bestimmte Publikationsform festlegen, sondern ergebnisoffen an ihren Projekten arbeiten und so stark wie möglich die unterschiedlichen Ansätze thematisch und fachlich verknüpfen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Eröffnung der Tagung durch Kai Bremer und Carlos Spoerhase

Projektvorstellung der Netzwerkmitglieder

Nachfragen/Aussprache
Moderation: Kai Bremer

Ines Peper, Thomas Wallnig: Monastische Aufklärung und gelehrte Polemik

Doris Lehmann: Von der Augenhöhe bis unter die Gürtellinie – Giovanni Battista Casanovas polemische Angriffe auf Johann Joachim Winckelmann

Projektvorstellung der assoziierten Netzwerkmitglieder
Moderation: Thomas Gloning

Gerd Fritz: Zur historischen Pragmatik der Kontroverse

Gemeinsame Lektüre von Studien der historischen Konfliktforschung

Herbert Grabes: Gelehrte Polemik im englischen Pamphlet

Gemeinsame Lektüre von Studien der historischen Konfliktforschung

Anmerkungen:
1 Kai Bremer, Carlos Spoerhase (Hrsg.), Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700 (Zeitsprünge, Forschungen zur Frühen Neuzeit, Bd. 15, 2/3), Frankfurt am Main 2011.
2 Siehe: Tagungsbericht Typen und Techniken wissenschaftlicher Konfliktführung in der respublica litteraria des 17. und 18. Jahrhunderts. 23.09.2009-25.09.2009, Gießen, in: H-Soz-u-Kult, 29.01.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2985>.
3 Die folgenden Texte sind besprochen worden: Barbara Bauer, Die Rhetorik des Streitens. Ein Vergleich der Beiträge Philipp Melanchthons mit Ansätzen der modernen Kommunikationstheorie, in: Rhetorica: A Journal of the History of Rhetoric. Vol. 14, No. 1 (Winter 1996), pp. 37-71. – Marcelo Dascal, Kontroversen und Polemiken in der frühneuzeitlichen Wissenschaft, in: Bremer, Spoerhase, Gelehrte Polemik, 2011, S. 146-157. – Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997, S. 21-37. – Joseph M. Levine, Streit in der Gelehrtenrepublik, in: Bremer, Spoerhase, Gelehrte Polemik, 2011, S. 125-145.


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