Zucht und Ordnung: Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive

Zucht und Ordnung: Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive

Organisatoren
Michael Mayer, Akademie für Politische Bildung; Stefan Grüner, Ludwig-Maximilians-Universität München; Markus Raasch, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Ort
Tutzing
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.11.2015 - 15.11.2015
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Von
Christiane Hoth, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Obgleich sich die rechtliche Ächtung und soziale Missbilligung von Gewalt gegenüber Kindern in den westlichen Industriestaaten zunehmend durchsetzen, ist diese Entwicklung doch als eine sehr junge zu bezeichnen. Vor allem das ausgehende 20. Jahrhundert ist von entscheidender historischer Relevanz – die UN-Kinderrechtskonvention stellt nur einen wichtigen Meilenstein dar. So intensiv Öffentlichkeit, Politik, Medien und Wissenschaft das Thema seit einigen Jahren diskutieren, so rudimentär erfolgte zudem bisher seine historische Kontextualisierung. Wenig wissen wir über die soziale Praxis der Gewalt, Rechtfertigungsstrategien und Ansätze des Kinderschutzes im geschichtlichen Wandel. Ziel der Tagung war es daher, Gewalt gegen Kinder in ihrer sozialen und kulturellen Bedingtheit in den Blick zu nehmen und dabei nach (Dis-)Kontinuitäten, Prozessen und Brüchen zu fragen. Unter bewusster Auslassung der Ausnahmesituation Krieg wurden alltägliche Formen, Räume, Auswirkungen und Diskurse von Gewalt gegenüber Kindern auf der dreitägigen Veranstaltung beleuchtet.

Im Mittelpunkt der ersten Sektion standen das Reden und Schweigen über kindbezogene Zucht- und Ordnungsvorstellungen. In einer diachronen Betrachtung gingen die Referentinnen und Referenten von der Antike bis ins 20. Jahrhundert der Frage nach, wo die Grenze zwischen Sag- und Unsagbarem, zwischen Akzeptiertem und Sanktioniertem lag. STEFANIE KIRSCH (Bonn) beschrieb die Veränderungen in der Sicht auf kindbezogene Gewalt im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Bis dahin dominierte der Legitimationsgedanke in der lateinischen Literatur – dies betraf Gewalt gegen Kinder durch den Vater, durch die Lehrperson und die sexuelle Gewalt. Kirsch zeigte auf, dass jedoch aus Sicht Quintilians der moralische und perfekte Redner nicht geformt werden könne, wenn er vor dem Rhetorikunterricht, d.h. vor dem 15. Lebensjahr, gezüchtigt würde. Quintilian nehme laut Kirsch in diesem Diskurs eine herausragende Stellung ein. THOMAS FRENZ (Passau) wagte einen kursorischen Längsschnitt durch das Mittelalter und erläuterte, dass undiszipliniertes Verhalten, Fehler und schlechte Leistungen in den Klosterschulen zumeist sub virga – unter der Rute – „gelöst“ wurden. Trotz der dünnen Quellenlage gäben einige Zeugnisse Auskunft über Wahrnehmung und Akzeptanzgrenzen kindbezogener Gewalt, etwa in Bezug auf grundloses Schlagen oder übermäßige Strenge. Frenz gab auch Beispiele für Gewalt von Kindern untereinander und gegenüber den Lehrern. Ebenso ging er auf rechtliche Perspektivierungen und den Aspekt verbaler Gewalt ein. Über Kindererziehung in der polnischen Renaissanceliteratur referierte JÁSMINA KORCZAK-SIEDLECKA (Leipzig). Sie erläuterte, dass im „goldenen Zeitalter“ Polens das Schlagen von Kindern als Erziehungsmittel auf der Tagesordnung stand, wobei dieses laut zeitgenössischen Pädagogen seinen Ursprung in der Liebe haben sollte. Sie machte anhand von Ratgeberliteratur deutlich, dass die Akzeptanzgrenze zwischen gewollter Bestrafung und aus Zorn motivierter, aber ungewollter Gewalt verlief. Am Beispiel Kursachsens exponierte ANNE PURSCHWITZ (Halle) mithilfe von Kriminalakten vor allem die Opferrolle von Kindern. Sie konstatierte eine zunehmende Thematisierung des Kinderschutzes ab etwa 1820 im Kontext der Schule und des Hauses und arbeitete eine Ambivalenz zwischen der Sanktionierung von kindbezogener Gewalt in der Öffentlichkeit und im privaten Raum heraus. Während also die Schutzwürdigkeit von Kindern im öffentlichen Raum ab den 1820er-Jahren zunahm, gestaltete sich die Normierung innerhäuslicher Verhaltensweisen als schwierig. Die Schutzwürdigkeit von Kindern im privaten Raum konnte erst allmählich durch die zunehmende Absicherung der Rechte von Frauen und Kindern erreicht werden. Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts war Untersuchungszeitraum von RUDOLF OSWALD (München), der die Gewaltdebatte in der katholischen Anstaltspädagogik untersuchte. Dass Züchtigung von der katholischen Kirche ausdrücklich und ausschließlich befürwortet wurde, konnte er durch gegenteilige Quellenbelege relativieren. Er postulierte auch für katholische Einrichtungen in der Zeit von 1900 bis 1933 erste reformpädagogische Ansätze, die sich im Normierungsdiskurs allerdings nicht durchsetzen konnten. Dem deutschen Rechtsdiskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wandte sich SACE ELIZABETH ELDER (Charleston) zu, indem sie den strafrechtlichen Begriff der „Misshandlung“ in Augenschein nahm. Im Besonderen ging sie auf die Rolle des kindlichen Leidens zwischen legitimen und illegitimen Gewaltformen ein. Die Rechtsprechung der 19. Jahrhunderts leugnete fast jede strafrechtliche Bedeutung der subjektiven Erfahrung des Opfers. Im frühen 20. Jahrhundert wuchs dann jedoch die Bedeutung der Innerlichkeit des Kindes als Rechtsgut dank des zunehmenden sozialen Einflusses von Kinderpsychologen, Reformpädagogen und Kinderschutzaktivisten. SVEN WERNER (Dresden) stellte in seinem Vortrag pädagogische Reforminitiativen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in ein Spannungsfeld zwischen Kinderschutz nebst dem Eintreten für eine gewaltfreie Schul- und Familienerziehung einerseits und Normierungspraktiken andererseits, zu denen auch körperliche „Abhärtung“, Drill und selbst Schläge gehörten. Er vertrat die These, dass normative Erziehungsordnungen im Kampf gegen „das Böse“, „das Kranke“ oder „das Unsittliche“ trotz wichtiger pädagogischer Innovationen bis weit ins 20. Jahrhundert Bestand hatten. Im letzten Sektionsvortrag verglich SARINA HOFF (Mainz) die Ächtung von körperlichen Schulstrafen in Hessen und Rheinland-Pfalz im Zeitraum 1945–1974, indem sie auf die Entwicklung der rechtlichen Lage, die Begründungen und Reaktionen auf diese Entwicklung sowie die Argumente gegen das Verbot der körperlichen Schulstrafen einging. Abschließend stellte sie die Muster der Debatte gegenüber und konstatierte, dass in Hessen die rechtliche Lage der „öffentlichen Meinung“ vorausging, während für Rheinland-Pfalz Gegenteiliges galt.

Die zweite Sektion nahm die Ausprägungen von Gewalt gegen Kinder auf der Alltagsebene in den Blick. Zeitlich ließen sich alle Analysen zwischen dem Ende des 19. und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verorten. SYLVELYN HÄHNER-ROMBACH (Stuttgart) sprach zu Gewalterfahrungen von Heimkindern in der Nachkriegszeit. Exemplarisch stellte sie Forschungsergebnisse eines Projekts vor, das die Aufarbeitung von Gewalterfahrungen in einer württembergischen Einrichtung mit diakonischer Trägerschaft zum Ziel hatte. 43 leitfadengestützte Interviews mit Betroffenen dienten als Quellen zur Rekonstruktion verschiedener Formen von physisch wie psychisch erlebter Gewalt. Ein System der Gewalt konnte Hähner-Rombach resümierend für das Heim jedoch nicht konstatieren. Wie Kinder und Jugendliche ihren Alltag in den psychiatrischen Anstalten des Rheinlandes nach 1945 erlebten, fasste SILKE FEHLEMANN (Düsseldorf) zusammen. Dazu dienten ihr Patientenakten und Selbstzeugnisse wie Zeichnungen, Briefe oder Tagebucheinträge als Quellen. Dass die Psychiatrie im Untersuchungszeitraum 1945 bis 1955 zum Auffangbecken für vor allem im Krieg traumatisierte und verstörte Kinder wurde, ist Fehlemanns zentrale These. „Schwachsinn“, „charakterliche Abartigkeit“ und „Überaktivität“ zählten zu den geläufigen Diagnosen, die fälschlicherweise gestellt wurden – nicht selten von Ärzten, die bereits im Nationalsozialismus praktiziert hatten. Die sozialistische Umerziehung erhellte ISABEL RICHTER (Veßra) am Beispiel der Jugendwerkhöfe zur Zeit des DDR-Regimes in Thüringen. Inwiefern die Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ zwischen Anspruch und Realität zu verorten ist, fächerte Richter auf, indem sie zwischen der politisch-ideologischen Erziehung, der Arbeitserziehung, der Erziehung zu Disziplin und Ordnung sowie Freizeiterziehung unterschied. Sie konstatierte für alle Bereiche neben den offiziellen Erziehungsmaßnahmen eine intendierte oder geduldete Ausnutzung der Jugendlichen für ökonomische Zwecke, verbotene Strafen verbaler und psychischer Art, das Überwachen der Jugendlichen, die Selbstjustiz oder einen militärischen Lebensstil. JOHANNA LAUFF (Hamburg) sprach abschließend über „körperliche Züchtigungen“ an preußischen Schulen im deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914. Mit Ludwik Flecks Begriff des „Denkstils“ theoretisch untermauert, ging sie zunächst auf zeitgenössische Diskurse ein, die sich vor allem um eine „Entkörperung“ der Erziehung drehten, da sich diese zunehmend auf das Geistige beschränkte. Sie konstatierte, dass körperliche Züchtigung als Körperverletzung wahrgenommen, aber dennoch in der Praxis geduldet wurde. Am Beispiel des Hamburger Johanneums zeigte Lauff, wie groß die Diskrepanz zwischen dem wahrzunehmenden Wertewandel respektive Körperverständnis auf der einen Seite und dem bestehenden Züchtigungsrecht und der Praxis auf der anderen Seite war.

In der dritten Sektion wurden Realität und Instrumentalisierung von sexueller Gewalt gegen Kinder in den Vordergrund gerückt. Die Analysen kreisten dabei um die Frage, welche Rollen jeweils Tätern und Opfern zugeschrieben wurden und wie je nach Kontext mit ihnen umgegangen wurde. DAGMAR LIESKE (Berlin) thematisierte den Umgang mit „Kinderschändern“ im Nationalsozialismus. Mithilfe von Akten der Kriminalpolizei zeigte sie anhand ausgewählter Beispiele, wie Täter im Nationalsozialismus zu Opfern werden konnten. Zuchthausstrafen, Sicherheitsverwahrung sowie Kastration und Sterilisation zählten zu den Instrumenten der sog. „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“. Zur Prekarität des Opferstatus bei sexueller Misshandlung referierte SONJA MATTER (Bern). Sie unterschied in Anlehnung an den zeitgenössischen Sprachgebrauch zwischen dem „unschuldigen“, dem „verdorbenen“ und dem „traumatisierten“ Kind. Ihre Erkenntnisse resultieren aus der Analyse zahlreicher Strafgerichtsakten des Kreisgerichts St. Pölten in Österreich. Die untersuchten 197 Fälle machten deutlich, wie breit die Spanne im Umgang mit den Opfern sexueller Misshandlung für die 1950er- bis 70er-Jahre zu sein scheint. Matter veranschaulichte, welche Rolle Emotionen, Geschlecht, Alter, familiärer Kontext oder gar ein sog. „seelischer Schaden“ in Bezug auf den Umgang mit den Opfern spielten und wie sich diese auf das Strafmaß auswirkten. Dass eine Emotion wie die Angst politisch genutzt wurde, um in den USA der 1950er-Jahre die „Sex Crime Panic“ zu konstruieren, veranschaulichte abschließend MICHAEL MAYER (Tutzing) vor allem mithilfe ausgewählter Bildquellen. In Zeiten zunehmend ins Wanken geratener sozialer Normen und intransparent gewordener Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, trug die „Sex Crime Panic“ das Potential in sich, eine Restauration der Geschlechterrollen zu fördern. Vor allem Homosexuelle wurden zu potentiellen Tätern ernannt. Im Kontext des Kalten Krieges wurde so das Bild eines homosexuellen und kommunistischen Feindbildes geschaffen, was mitunter zur Folge hatte, dass die wahren Täter indirekt „geschützt“ wurden. Mayer machte deutlich, dass der Kinderschutz in der Praxis nicht im Vordergrund stand, sondern vielmehr das Bedürfnis einer Gesellschaft nach Orientierung.

Insgesamt konnte auf der Tagung konstatiert werden, dass die Grenze zwischen akzeptierter und sanktionierter Gewalt gegen Kinder in historischer Perspektive schwer zu fassen ist. Im Längsschnitt zeigte sich, wie wichtig die Berücksichtigung von Wertewandel und -verschiebungen sowie die Infragestellung des Fortschrittsparadigmas ist. Als problematisch erwies sich vor allem in Hinblick auf die Vormoderne, Kinder als Sprechende ausfindig und sie als Opfer „sichtbar“ zu machen. Der Blick auf die Differenzierung zwischen Realität und Konstruktion sowie auf Tat und Täter im privaten Raum und auf die Quellengattung der Selbstzeugnisse wurde geschärft.

Im Ganzen konnten auf der Tagung Ergebnisse der Forschung überzeugend bilanziert und neue Perspektiven eröffnet werden. So stellen Problemkreise wie die Rolle der Kirche, eine möglicherweise zu konstatierende deutsche Gewalttradition, Ansätze eugenischer Forschung nach 1945 und geschlechtsbezogene Spezifika kindbezogener Gewalt Felder dar, die zu weiteren wissenschaftlichen Debatten – nicht zuletzt aus transnationaler und globalhistorischer Perspektive – einladen.

Konferenzübersicht:

1. Sektion:

Stefanie Kirsch (Bonn), Kinder, Vasen, Tiere? Veränderungen in der Sicht auf kindbezogene Gewalt im ersten nachchristlichen Jahrhundert

Thomas Frenz (Passau), „Sub virga degere“ - Gewalt in der Schule und im Umfeld der Schule im Mittelalter

Jásmina Korczak-Siedlecka (Leipzig), Gewalt und Liebe. Kindererziehung in der polnischen Renaissanceliteratur

Anne Purschwitz (Halle), Die Schutzwürdigkeit des Kindes - Neuzeitliche Kriminalakten als Quellen (1680–1880)

Rudolf Oswald (München), „Der Stock ist doch wirklich nicht der Erziehung grösste Weisheit“: Die Gewaltdebatte in der katholischen Anstaltspädagogik, 1900–1933

Sace Elizabeth Elder (Charleston), Child Abuse, Corporal Punishment, and the Limits of Acceptable Violence in Nineteenth and Early Twentieth-Century Germany

Sven Werner (Dresden), Pädagogische Reforminitiativen zwischen Normierungspraktiken und Kinderschutz

Sarina Hoff (Mainz), Vom Ende der „Prügelpädagogen“. Der Weg zur Ächtung von körperlichen Schulstrafen in Hessen und Rheinland-Pfalz 1945–1974

2. Sektion:

Sylvelyn Hähner-Rombach (Stuttgart), „Es verging ja kein Tag, an dem nicht geschlagen oder geprügelt wurde.“ Gewalterfahrungen von Heimkindern in der Nachkriegszeit

Silke Fehlemann (Düsseldorf), Kindheit in der „totalen Institution“. Kinder und Jugendliche in den psychiatrischen Anstalten des Rheinlandes nach 1945

Isabel Richter (Veßra), Jugendwerkhöfe in Thüringen. Umerziehung zwischen Anspruch und Realität

Johanna Lauff (Hamburg), Gewalt gegen Kinder im Rahmen von „körperlicher Züchtigung“ an preußischen Schulen im deutschen Kaiserreich 1871–1914

3. Sektion:

Dagmar Lieske (Berlin), Der Umgang mit „Kinderschändern“ im Nationalsozialismus

Sonja Matter (Bern), Das „unschuldige“, das „verdorbene“ und das „traumatisierte“ Kind: Die Prekarität des Opferstatus bei sexueller Misshandlung

Michael Mayer (Tutzing), Gewalt gegen Kinder und gesellschaftlicher Wandel. Die Sex Crime Panic in den USA in den 1950er-Jahren


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