Kommunikationsraum Straße. Vom Kirchplatz zur Montagsdemonstration: neue Perspektiven

Kommunikationsraum Straße. Vom Kirchplatz zur Montagsdemonstration: neue Perspektiven

Organisatoren
Institut für Zeitungsforschung, Dortmund; Fachgruppe Kommunikationsgeschichte, Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK), Bonn; Juniorprofessur Kommunikations- und Medienwandel, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft, Universität Leipzig; Verein zur Förderung der Zeitungsforschung in Dortmund e.V.
Ort
Dortmund
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
27.04.2023 - 28.04.2023
Von
Patrick Berendonk, Institut für Zeitungsforschung, Dortmund

Fridays for Future, Last Generation, Montagsdemos oder Graffitis haben eine Gemeinsamkeit: Sie führen uns vor Augen, dass die Straße ein vielgenutzter Kommunikationsraum ist, der von unterschiedlichsten Gruppen, Akteuren und Institutionen für die Artikulation mannigfaltiger Interessen genutzt wird. Die diesjährige Fachtagung des Instituts für Zeitungsforschung bot ein interdisziplinäres Forum, um diesen Kommunikationsraum und dessen Nutzung auszuleuchten.

EVELYN ZIEGLER (Duisburg-Essen) konstatierte, dass Straßen als Lebensadern der Städte physische, multifacettierte Räume mit immateriellen Qualitäten darstellen. Die Straße sei ein staatlich und öffentlich genutzter sowie kontrollierter Raum, der physische, soziokulturelle, temporale, sensorische und affektiv-ästhetische Dimensionen vereint.

In einem weiteren systematisierenden Zugriff attestierte auch EBERHARD WOLFF (Basel) der Straße eine multifunktionale kommunikative Nutzung. Er blickte auf den Boden der Straße, der ebenfalls eine Kommunikationsfläche darstelle: als Repräsentationsfläche, Erinnerungs- und historische Verweisfläche, Aktions- und Protestfläche, Appell- bzw. Aufforderungsfläche, ideell-ideologische Referenzfläche und Werbefläche. Ebenso finden sich hier Regelungs-, Ordnungs- und Orientierungszeichen. Diese vielfältige Nutzung des Bodens und die daraus resultierenden Einwirkungen auf die Gesellschaft fasste Wolff in der These zusammen, der Boden sei eine zunehmende Fläche von Bewusstseinsmodellierung, Bewusstseinsmarketing und kollektiver ideologischer Selbstverortung.

Unterschiedliche Akteure und deren Einwirkung, Formung und Nutzung der Straße wurden diskutiert. KATRHIN MEISSNER (Berlin) erörterte die stadtplanerischen Aspekte aus der Perspektive des Staates. Sie versteht Straße „in ihrer Wechselwirkung als verräumlichte Praktik von Kommunikation und Aneignung durch repräsentative Öffentlichkeit und gesellschaftliche (Teil-)Öffentlichkeit(en)“. Mit Blick auf die Protokollstrecke Greifswalder Straße in der DDR wies sie darauf hin, dass planerische und bauliche Maßnahmen die Straße formen. Die spezifische Ausformung der Straße als Kommunikationsraums manifestiere sich im Zusammenspiel mit auf der Straße ausgeübten Praktiken der Staatsideologie für jeden sichtbar im öffentlichen Raum.

GERHARD KIENAST (Kassel) blickte ebenfalls auf die planerischen Aktivitäten des Staates für die Ausgestaltung der Straße (als Kommunikationsraum). Er thematisierte mild-subversive Protestformen und deren Konsequenzen für die Stadtplanung. Critical Mass, Wanderbaumallee, Park(ing) Day oder Green City hätten für grünere und straßenfreundliche Städte protestiert. Mit der Zeit seien die Protestformen ritualisiert worden. In den letzten beiden Jahrzehnten hätte sich zuerst die Kommunikation über die Nutzung der Straße im Sinne der oben genannten Protestbewegungen verändert, und inzwischen begänne teilweise zaghaft, teilweise kontrovers der Umbau. Hier zeige sich, wie ein Protest auf der Straße artikuliert wird, der auf die Transformation des (staatlich angelegten) physischen Raumes Straße zielt, und wie die Wandlung letztlich realisiert wird.

Schon in der Frühen Neuzeit wirkten Obrigkeiten auf die Straße als Kommunikationsraum ein. TERESA SCHRÖDER-STAPPER (Duisburg-Essen) sprach über Sicherheits- und Krisendiskurse, die in urbanen, frühneuzeitlichen Inschriften manifest sind. Sie sollten den Menschen Sicherheit und Trost spenden. Die Setzung der Inschriften sei jedoch rechtlich normiert und gesellschaftlichen Konventionen unterworfen gewesen. Die Straße sei ein herrschaftlich limitierter Kommunikationsraum. KATHARINA KRAUSE (Marburg) konstatierte für die Londoner und Pariser Straßen des 19. Jahrhunderts ebenfalls die obrigkeitliche Begrenzung des Kommunikationsraumes. So habe die Obrigkeit selbst die Straße zum Plakatieren genutzt, dieses jedoch zugleich mittels Plakatierverboten für andere Akteure eingeschränkt, was wiederum die Visualität des Raumes bedinge. Schröder Stapper erklärte, dass innerhalb der obrigkeitlichen Grenzen die Möglichkeit bestanden habe, Inschriften so anzubringen, dass nur gewisse gesellschaftliche Gruppen diese überhaupt sehen konnten, sodass Informationen gezielt an gewisse Gruppen distribuiert worden seien und zugleich diese Gruppen mit konstruierten und -konstituierten.

JOACHIM SCHARLOTH (Tokyo) widmete sich dem Protest auf der Straße. Er legte einen Raumbegriff an, der Stadt und Straße als offenen Raum begreift. Dieser offene Kommunikationsraum sei der Ort für demokratische Öffentlichkeiten schlechthin – hier können sie Dissens anzeigen, performativ und partizipatorisch handeln oder protestieren. Der Vorteil der Straße als öffentlicher Raum sei die allgemeine Zugänglichkeit, die Ermöglichung von Rollenvielfalt und Verhaltensoffenheit sowie schließlich die Ermöglichung von Anonymität. So lassen sich dann auch mannigfaltige Protestformen finden, mit denen Menschen ihren Dissens anzeigen.

Auch HORST PÖTTKER (Dortmund) widmete sich dem Thema Straße als Kommunikationsraum für demokratische Öffentlichkeiten. Mit Blick auf revolutionäre Flugblätter aus dem Jahre 1848 konstatierte er, dass die Straße die Qualität eines Propagandaraumes besitze. Es gebe mithin ein „erkennbares Bemühen aus den revolutionären Schichten, beim breiten Publikum anzukommen und optimale Öffentlichkeit herzustellen“. Hier handele es sich nicht um eine demokratische Nutzung der Straße. Mit diesem Punkt markierte Pöttker normativ die Distinktion zwischen demokratischer Nutzung und eben jener Propaganda, welche die Revolutionäre von 1848 artikuliert hatten.

BENJAMIN SCHIWY (Dortmund) stellte den ökonomischen Aspekt der Straßenkommunikation von 1848 in den Vordergrund. Die Flugblätter wurden nicht einfach verteilt, sondern waren häufig käuflich zu erwerben, sodass auch finanzielle Interessen bei der Analyse von Flugblättern zu berücksichtigen seien.

Den Aspekt der Straße als Werbefläche und Marketingraum führten Katharina Krause am Beispiel der Stadtbilder von Londons und Paris im 19. Jahrhundert und Evelyn Ziegler im Hinblick auch auf das Selbst-Marketing aus. Krause zielte in ihren Ausführungen stärker auf die visuelle Prägung des Raumes. Der Einzelhandel habe im 19. Jahrhundert Präsentationsformen höfischen und sakralen Ursprungs für die Bewerbung eigener Produkte genutzt. Daneben träten die Schaufenster der Verlage. Hier stellt das Fenster, durch das man in einen geschlossenen Raum blickte, zugleich eine Grenze dar. Der öffentliche Raum der Straße endete hier, und der private Innenraum begann, der durch das Fenster der Öffentlichkeit sichtbar gemacht wurde. Damit einhergehend konnte man Plakatierverbote umgehen und die Möglichkeiten der Kommunikation erhöhen.

Zwei Vortragende wiesen darauf hin, dass auf der Straße auch via Gewalt kommuniziert wurde und wird. MARVIN GEDIGK (Karlsruhe) führte aus, dass in der Frühen Neuzeit die Straße seitens der Studentenschaft territorial gedacht wurde und studentische Gruppen mittels Lärmens und Schwärmens den Raum besetzten, wobei es auch zu gewaltsamen territorialen Konflikten unter den studentischen Gruppen kommen konnte. Diese nutzen die Straße zugleich, um sich mittels habitueller Praktiken von der Stadtgemeinschaft abzugrenzen.

JOHANNA LANGENBRINCK (Berlin) thematisierte die antijüdische Gewalt in der Weimarer Republik. Die Täter*innen hätten jüdische Personen auf der Straße an äußeren Merkmalen erkannt, wobei der Identifikationsprozess auf antijüdische Stereotype rekurriere. Mit ihren Gewalthandlungen wollten die Angreifer Botschaften senden. Langenbrinck wies in diesem Kontext darauf hin, dass Gewalt allein keine Aussagen treffe. Sie begleitende kommunikative Handlungen externalisierten Aussagen. Die Ambiguität der kommunikativen Handlungen ermögliche es dabei verschiedenen Akteuren, unterschiedliche Aussagen zu artikulieren, wobei die Öffentlichkeit die Gewalt- und kommunikativen Handlungen wahrnahm und ihrerseits den Aussagegehalt bestimmte.

Die multikulturelle, kommunikative Besetzung der Straße eruierte Evelyn Ziegler. Im Rekurs auf ihre eigene Linguistic-Landscape-Forschung konnte sie aufzeigen, dass visuelle Kommunikation auf der Straße neben referentiellen, auf Objekten bezogenen Bedeutungen auch indexikalische Bedeutungen aufweise. Die Zeichen seien ebenfalls Ausdruck der gesellschaftlichen Diversität. In Stadtteilen von größeren Städten im Ruhrgebiet mit multikultureller Prägung bildeten die Zeichen die Mehrsprachigkeit der dort lebenden gesellschaftlichen Formation ab. Das faktische Auftauchen falle z.B. für die türkische Sprache geringer als das geschätzte aus.

Während in den meisten Beiträgen die Straße als visueller Raum im Vordergrund stand, erweiterte HEINER STAHL (Siegen) diesen um die akustische Dimension. Drei Aspekte seien dabei von besonderer Bedeutung. So betrachtete Stahl Phonotope, die er mit Peter Sloterdijk als akustische Inseln definierte. Ein Straßenzug oder eine Fabrik stelle ein solches Phonotop dar, wobei dieses nicht als isolierte Einheit zu betrachten sei. Vielmehr interagieren diese Phonotope miteinander, da einzelne Menschen sich von einem Phonotop ins nächste bewegen. Generell seien Bewegungen auf der Straße in dieser Perspektive geprägt von dem Betreten und Verlassen unterschiedlicher Phonotope. Daneben stellte Stahl den Begriff des Hörweges. Mit Eugen Rosenstock-Huessys blickte er darauf, wie Menschen miteinander kommunizieren und wie sich darin ein Machtgefüge ausdrückt. In Anlehnung an Helmut Plessner führte Stahl schließlich den Begriff der akustischen Stoffe ein. Demnach verändert sich Akustik im Rahmen der Kommunikation ausgehend vom Kommunikator hin zum Rezipierenden. Ebenso wirkt der Kommunikationsraum auf die Akustik ein.

NIKLAS VENEMA (Leipzig) und ERIK KOENEN (Bremen) reflektierten im Rekurs auf die Tagung „Von Emanzipation zu Desinformation? Gegenöffentlichkeiten und ihre Bewertung im Wandel“ den Blick der Kommunikationswissenschaften auf Gegenöffentlichkeiten. Sie konstatierten, dass sich die Aufmerksamkeit des Faches für Gegenöffentlichkeiten in der Vergangenheit verschoben habe, diese Verschiebung aber nicht zwangsläufig einer Transformation des Phänomens entspreche. Sie plädierten für eine stärkere Selbstreflexion des Faches in Bezug auf den Umgang mit und die Erforschung von Gegenöffentlichkeiten.

In der Abschlussdiskussion stand die von der Tagung aufgeworfene Frage nach neuen Perspektiven im Mittelpunkt. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Erforschung der Straße als Kommunikationsraum multiperspektivisch und interdisziplinär realisiert werden muss. So kamen auf der Tagung die Geschichtswissenschaft, die Kommunikationswissenschaft, die Kunstgeschichte, die Soziologie und die Germanistik ins Gespräch. Damit gibt die Tagung den Weg zur weiteren Erforschung der Straße vor. Gerade die dezidierte Multiperspektivität erhellte den Kommunikationsraum und indizierte, wie sehr die weitere Erforschung von interdisziplinären Ansätzen profitieren könnte. Die Straße wird in ihrer Komplexität erst durch jene Multiperspektivität ersichtlich, die die visuelle, auditive, auch olfaktorische Beschaffenheit des Raumes ergründet und nebeneinanderstellt und die den visuellen Raum kunsthistorisch, soziologisch und germanistisch ergründet.

Gleichwohl blieben und bleiben bisher Perspektiven außen vor. So wies Krause darauf hin, dass die Forschung die Perspektive marginalisierter Nutzungsgruppen der Straße nicht einnimmt; außerdem werde primär auf den westeuropäischen, demokratischen Norden geblickt. Die Nutzung von Straßen in Afrika oder Südamerika beispielsweise wurde in keinem der präsentierten Vorträge berührt. Hier gibt es immer noch Leerstellen.

Die Konzentration der Tagung auf den physischen Kommunikationsraum ließ keinen näheren Blick auf dessen Einzug in die digitale Welt zu. In der Abschlussdiskussion wurde gleichwohl die Berührung der physischen und der digitalen Welt diskutiert. Fridays für Future oder Last Generation besprechen und bereiten ihre Straßenaktionen auch in den Sozialen Medien vor, begleiten die stattfindenden Proteste und nutzen sie dort nach. Die Straße wird hier stärker zur Bühne, auf der die Protagonisten handeln, während das eigentliche Publikum nicht mehr direkt vor der Bühne sitzt, sondern vor Bildschirmen und über diesen Weg die Proteste wahrnimmt. Ebenso wurde erst in der Abschlussdiskussion über die digitale Erweiterung der Straße durch Augmented Reality diskutiert. Die Möglichkeit, über Smartphones digitale Objekte in die physische Welt der Straße einzubinden, wie es Pokémon Go macht, sowie die Nutzung von Sozialen Medien sollte bei der Erforschung der Straße als Kommunikationsraum eine prominentere Rolle zugesprochen bekommen.

Konferenzübersicht:

Astrid Blome (Dortmund); Erik Koenen (Fachgruppe Kommunikationsgeschichte, Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Bonn): Begrüßung

Evelyn Ziegler (Duisburg-Essen): (Un-)autorisierte Aneignungsformen des Kommunikationsraums Straße

Marvin Gedigk (Karlsruhe): Lärmen und Schwärmen, Wetzen und Protestieren „ad gassatum“ – Studentische Kommunikation, Repräsentation und Ritual in frühneuzeitlichen Universitätsstädten

Heiner Stahl (Siegen): Das Phonotop der Kundgebung und die erschossenen Arbeiter der Gussstahlfabrik. Zur akustischen Straßenpolitik während des Ruhrkampfes und der Besatzungszeit in Essen 1919-1925

Teresa Schröder-Stapper (Essen): Wasser, Feuer, Luft: Inschriften als Medien urbaner Gefahrenkommunikation in der Frühen Neuzeit

Katharina Krause (Marburg): Bilder, Objekte und Texte auf den Wänden der Straße des frühen 19. Jahrhunderts

Benjamin Schiwy (Dortmund): Die Flugblattsammlung von 1848/49 am Institut für Zeitungsforschung – Erschließung, Digitalisierung, Forschungsperspektiven

Horst Pöttker (Dortmund): Propagandainstrumente oder Medien urbaner Öffentlichkeit? Literarische Flugblätter 1848/49

Benjamin Schiwy (Dortmund): Führung durch die Ausstellung „Die Revolution auf Papier“

Thomas Birkner: Grußwort des Vereins zur Förderung der Zeitungsforschung Dortmund e.V.

Niklas Venema (Leipzig) / Erik Koenen (Bremen): Von Emanzipation zu Desinformation? Gegenöffentlichkeiten und ihre Bewertung im Wandel

Joachim Scharloth (Tokyo): Straße als Protestraum

Johanna Langenbrinck (Berlin): Antijüdische Gewalt im Straßenraum als kommunikativer Akt. Der Berliner Kurfürstendamm 1918–1933

Gerhard Kienast (Kassel): Straßen als Anlass und Ort für bürgerlichen Protest in der lokalen räumlichen Planung

Kathrin Meißner (Berlin): „Hauptsache gut aussehen“ – Realitäten gesellschaftlichen und politischen Alltags in der DDR am Beispiel der Protokollstrecke Greifswalder Straße

Eberhard Wolff (Basel): Der Boden der Straße und seine Zeichensysteme. Die Kolonisierung eines öffentlichen Raums und die zunehmende Konvergenz von Öffentlichkeiten