HT 2023: Kontrafaktische Geschichte. Fake History oder methodische Innovation?

HT 2023: Kontrafaktische Geschichte. Fake History oder methodische Innovation?

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Bastian Vergnon, Regensburg

Die Frage „Was wäre gewesen, wenn ...?“ und die Methodik der kontrafaktische Geschichte weist in der deutschen Geschichtswissenschaft einen diffizilen Ruf auf. Sie kann als Methodik dienen, um beispielsweise bestehende Kausalitäten zu dekonstruieren. Gleichzeitig gilt sie in Zeiten von Verschwörungstheorien und populistischen Geschichtserzählungen als Arbeitsweise mit hohem Risiko für die Geschichtswissenschaft. Die hier zu besprechende Sektion diskutierte die Möglichkeiten und Herausforderungen von kontrafaktischer Geschichte. In der Podiumsdiskussion setzten sich die fünf Teilnehmer/innen und zwei Moderator/innen mit unterschiedlichen Aspekten der Methodik auseinander, beispielsweise den Perspektiven für Geschichtsvermittlung im Unterricht, in der Public History und der Literatur. Es zeigte sich, dass die kontrafaktische Geschichte von den gleichen Spannungsfeldern betroffen ist, wie die gesamte Geschichtswissenschaft und Geschichtsvermittlung in Bezug auf Faktizität und wie es im Motto des Historikertags „Fragile Fakten“ formuliert wurde. Eine Betonung der Diskussion lag auf der Trennung zwischen kontrafaktischer Fragestellung der Geschichtswissenschaft sowie der Ausformulierung von „kontrafaktischen Alternativen“ in der Literatur und Film.

Die Diskutant/innen deckten unterschiedliche Fachgebiete ab. FRITZ BACKHAUS (Berlin) war Mitentwickler der Ausstellung „Roads Not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“ des Deutschen Historischen Museums (DHM). Er vertrat den erkrankten DAN DINER (Jerusalem). KATHRIN KLAUSMEIER (Leipzig) befasste sich in der empirischen Geschichtsdidaktik mit kontrafaktischer Geschichte. ANNA LUX (Freiburg) erforschte im Wissensvermittlungsformat „89 goes Pop“ die kontrafaktische Literatur zu den Ereignissen des Jahres 1989. EVA-MARIA SCHNURR (Hamburg) als Ressortleiterin von SPIEGEL Geschichte brachte die Perspektive der journalistischen Public History ein. PIRMIN STEKELER-WEITHOFER (Leipzig) betrachtete kontrafaktische Geschichte aus der Sichtweise der theoretischen Philosophie.

Die Moderation begann mit der Frage nach den unterschiedlichen fachlichen Erwartungen an die kontrafaktische Methodik. Für Klausmeier spielt Kontrafaktizität in der Literatur eine große Rolle. Stekeler-Weithofer wies für die Wissenschaft daraufhin, dass Tatsachen nur im Kontext alternativer Möglichkeiten zu verstehen sind. Für die Geschichtsvermittlung im DHM stellt sie laut Backhaus eine Herausforderung dar, da Fehlinterpretationen die Glaubwürdigkeit der Institution beschädigen können. Für Journalist/innen sind Fakten entscheidend, weshalb Schnurr die Nutzung im Kontext der journalistischen Geschichtsvermittlung skeptisch betrachtete. Lux fasste die erste Diskussionsrunde zusammen, dass die kontrafaktische Methode neue Möglichkeiten für die Forschungsdiskussion bietet, während die Ausgestaltung von alternativen Welten eher in den Bereich der Literatur fällt.

Die Spannungsfelder der kontrafaktischen Geschichte sprach Lerg im nächsten Diskussionspunkt an: Die Methodik liegt im Spannungsfeld zwischen Fakten und Fiktion, Theorie und Praxis sowie Public History und Geschichtswissenschaft. Chatzoudis erklärte den Umgang damit am Beispiel des von beiden begründeten Podcasts „Was wäre gewesen“ bei der Gerda-Henkel-Stiftung. Dieser weist eine Dreiteilung in die reale Geschichte, die kontrafaktische Geschichte und die abschließende theoretische Reflektion mit dem Nutzen für die Geschichtswissenschaft auf. Beispielhaft für die Diskussion hatte Lux in diesem Podcast besprochen, welchen Einfluss die Pressekonferenz von Günter Schabowski am Abend des 9. Novembers 1989 auf die Entwicklung der DDR hatte. Anhand der Frage, ob ein anderer Inhalt des „Schwabowski-Zettels“ Folgen für den Mauerfall gehabt hätte, ergab sich für Lux ein „spielerisches Abklopfen“ von Alternativen, das in der theoretischen Reflektion zeigte, dass die Pressekonferenz eine sehr dynamische Entwicklung beschleunigte.

Das Stichwort der „spielerischen Möglichkeitsräume“ nahm Chatzoudis in Bezug auf den Umgang der Ausstellung „Roads Not Taken“ mit der Frage der Faktizität auf. Nach Backhaus wurde die Ausstellung mit Blick auf die entscheidenden Zäsuren der deutschen Geschichte und deren Alternativen konzipiert. Die Zweiteilung jeder Zäsur in reale Geschichte und den alternativen Möglichkeitsraum folgt dem Leitgedanken von Diner, „in der Wirklichkeit zu bleiben und sich ein bisschen über das Geländer zu lehnen“. Damit ist eine Trennung zwischen Fakten und Fiktion gewährleistet. In der Ausstellung im DHM ist beispielsweise die Zäsur des Untergangs der DDR in die reale Geschichte der „Montagsdemonstrationen“ im Oktober 1989 und eine diskutierte „chinesische Lösung“ getrennt. Die Ausstellung soll damit Besucher zum Denken und Urteilen anregen. Ein Erfolg sind zahlreiche Diskussionen mit dem Publikum. Die Besucher/innen wollen sogar mehr in die Möglichkeitsräume gehen. Dem erteilte Backhaus wiederum eine Absage, da der „kontrafaktische Raum“ mehr für Film und Literatur geeignet ist.

Eine weitere diskutierte Frage war, ob kontrafaktische Geschichte eine Methode für die Geschichtsvermittlung an unterschiedliche Zielgruppen darstellt. Die Diskussion zeigte die unterschiedlichen Voraussetzungen in Wissenschaft, Public History und Schulunterricht. Schnurr wies daraufhin, dass in der wissenschaftlichen Community ein hoher Kenntnisstand über Fakten vorausgesetzt werden kann. Für die Public History ist der Kenntnisstand der Zielgruppen ungesichert, was die Gefahr von alternativen Geschichtsverständnissen bedingt. Für den Schulunterricht sah Klausmeier andere Bedingungen. Bisher sei der Geschichtsunterricht linear wie eine „Perlenkette“ strukturiert. Kontrafaktische Geschichte böte das Potenzial, diese geschichtstheoretischen Vorannahmen zu reflektieren. Stekeler-Weithofer betonte, dass Geschichte bei allen Zielgruppen nur reflektiert wird, wenn Alternativen mitgedacht werden. Sonst bliebe es bei einer linearen Erzählung.

Der dritte Debattenpunkt konzentrierte sich auf die Frage, ob die aktuelle Diskussion über Fake News den Blick auf die kontrafaktische Geschichte verändert und die Methodik in Bezug auf die Faktizität in die Nähe einer Fake History rücken würde. Das Podium identifizierte eine klare Trennung. Schnurr sah eine größere Verantwortung für Geschichtswissenschaft und -vermittlung. Es müsse hinterfragt werden, welche Intentionen hinter kontrafaktischen Erzählungen liegen. Backhaus sah in fiktiven (Kriegs-)Spielen im Internet, die alternative Geschichtserzählungen anbieten, einen ernst zu nehmenden Faktor für das Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung. Daher sei eine Trennung zwischen kontrafaktischer Geschichte und Fake Geschichte notwendig. Nach Klausmeier ist diese Trennung realisierbar. Vor dem Hintergrund von Fake History kann kontrafaktische Geschichte in der Geschichtsvermittlung das Bewusstsein für Faktizität und methodische Sauberkeit sowie für Offenheit und Bedingtheit als zentrale Rolle für Entscheidungen historischer Figuren schärfen. Lux fasste die Trennung zusammen: Kontrafaktische Geschichte ist transparentes Nachdenken über Fakten und Alternativen. Fake History ist Verschleierung und komplette Neudeutung von Fakten ohne Alternativen.

Die anschließende Diskussion kreiste um die Möglichkeiten von kontrafaktischer Geschichte für verschiedene Fragestellungen der Geschichtswissenschaft. So würden kontrafaktischen Fragestellungen ein Potenzial bergen, bestehende Mythen, Narrative und Zäsuren zu dekonstruieren oder auch das Spannungsfeld zwischen individuellen Entscheidungen und kollektiven Strukturen sowie Prozessen offenzulegen. Am Beispiel der DHM-Ausstellung führte Backhaus aus, dass nur bestimmte Zäsuren für kontrafaktische Fragestellungen geeignet sind. Um als Alternativen in Erwägung gezogen zu werden, müssten sie Entscheidungssituationen mit individuell zugeordneter Verantwortung sein und die Alternativen müssten zu dieser Zeit diskutiert worden sein. Beispielsweise hätte ein erfolgreiches Stauffenberg-Attentat den Holocaust nicht verhindert, da diese Alternative zu diesem Zeitpunkt nie diskutiert wurde. Schnurr betonte die Rolle der Bedingtheit bei den Fragestellungen. Der historische Kontext muss in der kontrafaktischen Geschichte berücksichtigt werden. Backhaus gab zu bedenken, dass Strukturen nicht nur Alternativen verhindern, sondern auch kontrafaktische Fragestellungen gefährlich machen können. Beispielsweise ist die Geschichte der jüdischen Rothschilds als geheimnisvolle Weltmacht Teil von viel Fake History, die an „Was wäre wenn“-Fragen anschließt.

Die Frage der Faktizität bestimmte die weitere Diskussion. Klausmeier sprach von einem „Henne-Ei-Problem“, da kontrafaktische Geschichte Sachkenntnisse voraussetzt. Gleichtzeitig aber breche sie durch ihre Fragestellungen ahistorische Narrative auf und führe zu Sachkenntnis über reale geschichtliche Entwicklungen. In der begrenzten Zeit des Geschichtsunterrichts sei eine umfassende Vermittlung dessen aber nicht leistbar. Lux schlug daher als Lösung vor, Sachkenntnis im Geschichtsunterricht und kontrafaktische Geschichte im Literaturunterricht als Möglichkeit zu betrachten. Wichtig für eine solche Vermittlung sind Objekte und Quellen. Lux prägte als Quelle einer kontrafaktischen Geschichte den Begriff der „vergangenen Zukunft“ für Zukunftsvisionen, die existierten, aber nicht Realität wurden. Beispielsweise hatte Oskar Lafontaine alternative Lösungen für die Wiedervereinigung schriftlich dargelegt. Eine Gefahr für die Faktizität sah das Podium in kontrafaktischen Erzählungen, die im öffentlichen Raum kursieren. Erzählungen wie in der Serie „Bonn“ können laut Schnurr einen „Sog der Narrative“ auslösen und das öffentliche Geschichtsbild prägen. Daher muss es Orte geben, an denen es keine kontrafaktische Geschichte und nur verlässliche Informationen über die realen Fakten gibt. Lux hielt dem entgegen, dass kontrafaktische Geschichte methodisch transparent sei. Populärkultur mit historischen Hintergründen spiegele Faktizität vor, die nicht vorhanden sei. Historische Fakten sind dort „Kulisse oder Labor“.

Chatzoudis sah ein weiteres Spannungsverhältnis für die kontrafaktische Geschichte in der Verantwortung von Fachhistoriker/innen, die Komplexität von Geschichte einem Laienpublikum trotzdem als „sicheres Geländer“ zu vermitteln. Klausmeier sah dies als ein Problem der gesamten Geschichtsvermittlung. Sie forderte, dass die Geschichtswissenschaft „raus aus der Komfortzone“ und sich mit Citizen Science an den Adressaten orientieren muss. Backhaus führte als Beispiel Computerspiele an.

Die generellen Spannungsverhältnisse der Geschichtswissenschaft prägten die letzten Diskussionspunkte. Chatzoudis stellte die Frage, ob eine Umformulierung der Fragestellung von „Was wäre wenn“ zu „Was hätte sein können“ die kontrafaktische Geschichte weniger deterministisch erscheinen lässt. Stekeler-Weithofer betonte, dass bei Geschichtswissenschaft und -vermittlung nicht „Allwissen“, sondern Möglichkeiten im Vordergrund stehen. Die Kanonisierung eines Wissens „Wie es gewesen ist“ muss immer in Frage gestellt werden. Laut Backhaus wollen viele Besucher/innen der DHM-Ausstellung über die Auseinandersetzung mit kontrafaktischen Fragestellungen aber Orientierung finden. Da die Ausstellung dies bewusst nicht liefert, empfinden die Besucher diese Nicht-Erfüllung als Dilemma. Kontrafaktische Geschichte steht nach Chatzoudis so vor den Fragen der Teleologie und der Unausweichlichkeit von Geschichte. Schnurr bemerkte den entsprechenden Wunsch nach klarer Einordnung von Geschichte bei vielen Ausgaben.

In der Publikumsdiskussion fragte ECKART CONZE (Marburg) nach dem revanchistischen Potenzial von kontrafaktischen Erzählungen. Als Beispiel nannte er die Diskussion um die Förderung der Nationalsozialisten durch Kronprinz Wilhelm, bei der kontrafaktische Fragestellungen mit politisch-juristischen Absichten verknüpft werden. Für Backhaus ist dieser Fall ein Beispiel für die Vermischung unterschiedlicher Fragestellungen. Historisches Denken muss Möglichkeitsräume öffnen. Juristische Fälle hingegen konzentrierten sich auf die Beantwortung einer Ja/Nein-Frage. MISCHA HONEK (Kassel) betonte den politischen Kontext von kontrafaktischer Geschichte. Diese habe emanzipatorisches Potenzial. Nicht zuletzt waren die Skepsis der deutschen Geschichtswissenschaft gegenüber kontrafaktischer Geschichte sowie die Verantwortung der Vermittlung von (kontrafaktischer) Geschichte gegenüber „unbekannten Zielgruppen“ und angesichts zunehmender Fiktionalisierung von historischen Personen Thema der Diskussion.

Sektionsübersicht:

Charlotte Lerg (München) / Georgios Chatzoudis (Düsseldorf)

Fritz Backhaus (Berlin)

Kathrin Klausmeier (Leipzig)

Anna Lux (Freiburg)

Eva-Maria Schnurr (Hamburg)

Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig)

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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