'Normalisierung'. Politische, soziale und kulturelle Hintergründe eines 'realsozialistischen' Paradigmas

'Normalisierung'. Politische, soziale und kulturelle Hintergründe eines 'realsozialistischen' Paradigmas

Organisatoren
ZZF-Projektbereich "Sozialismus als soziale Frage"
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2002 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Jennifer Schevardo, Potsdam

Nicht ganz ein Jahr nach der letzten Einladung des Projektbereiches "Sozialismus als soziale Frage" des ZZF begrüßte dieser am 23. September 2002 erneut Gäste zu einem Workshop, der sich diesmal dem Begriff "Normalisierung" widmete.

Dieser entstammt eigentlich der tschechoslowakischen Geschichte und bezeichnet dort die Phase, die der als "Prager Frühling" legendär gewordenen Reformzeit und deren abruptem Ende durch die sowjetische Invasion folgte. Doch nicht nur in der Tschechoslowakei, so der Einladungstext zum Workshop, sondern auch in weiteren sozialistischen Ländern zeichnete sich 1970/71 eine wirtschafts- und sozialpolitische Zäsur ab, die, zumeist untermauert von einem Personalwechsel, den Abbruch der Reformpolitik bedeutete. Statt dessen sollte die Industrie mit Investitionen modernisiert werden, während gleichzeitig versucht wurde, gezielt die Lebenslage der Bevölkerung zu verbessern und dadurch Legitimität zu "erkaufen". Ziel des Workshops war es, die so verstandene "Normalisierung" in ihren politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen auszuleuchten und die Tauglichkeit des Begriffes als allgemeinere Forschungskategorie zu prüfen.

Die erste Sektion "Historische Kontexte des Normalitäts-Paradigmas in der Wirtschafts- und Sozialpolitik" leitete Gastgeber Peter Hübner (Potsdam) mit einigen Ausführungen zu "Norm, Normalität, Normalisierung: Quellen und Ziele eines gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsels im sowjetischen Block um 1970," ein. Hübner widmete sich besonders der Frage nach der sozialpolitischen Orientierung und Intention der wichtigsten Akteure -der Reformer sowie der "Normalisierer"- in den drei Ländern CSSR, Polen und DDR. Dazu präsentierte er eine biographische Analyse der Generation, aus der beide Akteursgruppen stammten. Größtenteils in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg geboren und in einfachen, proletarischen oder kleinbürgerlichen, Verhältnissen aufgewachsen, erlebten diese mit Wirtschaftskrise, Zerfall der traditionellen, gesellschaftlichen Milieus sowie des politischen Systems stürmische Zeiten, in denen das Erstarken der Kommunistischen Partei neue Karrierechancen und der Aufstieg der Sowjetunion ideologische Hoffnung boten. Einen Unterschied innerhalb dieser Generation machte Hübner zwischen den Älteren, zu denen die Reformer gehörten und den Jüngeren, zu denen die "Normalisierer" gehörten, aus. Während die Erstgenannten in ihren sozialpolitischen Vorstellungen den Gegebenheiten der Vorkriegszeit verhaftet blieben, paßte sich die zweite Gruppe den aktuellen Ansprüchen der Bevölkerung an, und das waren ab Mitte der sechziger starke Konsumbedürfnisse mit westlicher Orientierung.

Die Zäsur des Jahres 1970, die Hübner mit den Unruhen in Polen begründete, die auf die gesamten Länder des Ostblocks wie ein Katalysator des Unwohlseins wirkten, führte zu einem entscheidenden Wechsel in der Sozialpolitik. Anders als in der Reformzeit wurden nun soziale Leistungen erst einmal großzügig verteilt, wobei die neuen Parteiführungen hofften, die Menschen dadurch an den Staat zu binden und moralisch zur nachträglichen Erfüllung der staatlichen Leistungserwartungen zu verpflichten. Innerhalb des Wirtschaftsapparates sei jedoch sehr bald klar gewesen, daß diese Politik die wirtschaftliche Substanz auffressen würde. Zwar versuchten die Parteiführungen, nicht nur den sich entwickelnden Konsumwünschen der Bevölkerung hinterher zu laufen, sondern statt dessen die favorablen Lebensbedingungen des Sozialismus - Arbeitsplatzsicherheit, Versorgung über gesellschaftliche Einrichtungen oder kulturelle Dienste - anzupreisen, doch diese Propaganda lief fast völlig ins Leere. Die "Normalisierer" beugten sich immer mehr dem Erwartungsdruck der Bevölkerung. Ironischerweise scheint es, als hätten sie selbst immer weniger an die Modernisierungs- und Mobilisierungsfähigkeit ihres Systems geglaubt. Sie setzten soziale Boni nicht mehr - wie zuvor die Reformer - als Leistungsanreiz ein, sondern zielten auf die gesellschaftliche Befriedung im Dienste einer idealisierten sozialistischen Harmonie.

Christoph Boyer (Frankfurt a.M.) betonte in seinem anschließenden Kommentar zunächst die Vorzüge einer, eventuell gerade entstehenden Normalisierungsforschung, die die bislang eher statisch-etikettierenden Ansätze der Sozialismusforschung um ein dynamisches, historisch-genetisch orientiertes Konzept bereichern könnte. Die Bezeichnung als "Paradigmenwechsel" lehnte er für die drei vorliegenden Fälle des Übergangs von der Reformpolitik zur "Normalisierung" jedoch ab. Auch schien ihm der generationelle Aspekt bei Hübner überbewertet, da ein Führungswechsel nur auf der obersten Ebene, aber kaum auf den mittleren oder unteren Ebenen stattgefunden habe.

Weiterhin machte Boyer Vorschläge zu einer möglichen Typologie von "Normalisierung", wobei er für die drei Länderbeispiele als gemeinsame Merkmale die Rezentralisierung der Lenkung und die Instrumentalisierung des Sozialen benannte. Bei der Konstituierung verschiedener Typen spielten außerdem weitere Elemente eine Rolle, nämlich der restaurative Aspekt der Normalisierung aufgrund der Rücknahme von Reformen, der Einsatz sozialpolitischer Maßnahmen primär zur Machtsicherung, die geräuschlose und flächendeckende Installation von Kontrollsystemen ("Stasi-Syndrom") und das Abhandenkommen des visionären Gehalts in den politischen Zielen.

In der anschließenden Diskussion wurde nach der Originalität der betrachteten Entwicklung in den drei Ländern bzw. der Einfluss des sowjetischen Modells hierauf gefragt. Außerdem wurde kritisiert, dass der Begriff "Normalisierung" bereits zu stark normativen Gehalt habe, um als Forschungsbegriff zu dienen. Peter Hübner relativierte selbst die Bedeutung seines biographischen Ansatzes, den er nicht als Erklärung des zu betrachtenden Phänomens verstanden wissen wollte. Er beharrte aber auf der Interpretation der "Normalisierung" als Paradigmenwechsel, da während dieser Zeit die Parteiführungen zum ersten Mal von dem Anspruch der völligen Durchplanung von oben abgewichen seien und die Wünsche der Bevölkerung zur Orientierung genommen hätten - wodurch auch die Lancierung eigentlich systemfremder Projekte wie der Förderung des Eigenheimbaus oder des Individualverkehrs überhaupt erst möglich geworden sei.

In seinem Beitrag "Die Politik der ‚Normalität' als Reaktion auf die Globalisierungsbestrebungen innerhalb der sozialistischen Länder?" beschrieb Jörg Roesler (Berlin) die in den sozialistischen Ländern gültige Interpretation der Weltwirtschaft und deren Wandel von den Fünfzigern zu den Siebzigern. Während in den sechziger Jahren angesichts der als überraschend wahrgenommenen Prosperiät der westlichen Marktwirtschaften die Systemkonkurrenz erstmals von östlicher Seite ernst genommen worden sei und zur Inangriffnahme der "wissenschaftlich-technischen Revolution" geführt hätte, habe der Machtwechsel zu Honecker eine Rückkehr der DDR zur isolationistischen Sicht der Fünfziger Jahre und zur Vernachlässigung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bedeutet.

Anschließend gab Annette Wilczek (Mannheim) einige Einblicke in "Die Motivlage höherqualifizierter Beschäftigter in DDR-Großbetrieben während der 1970er Jahre." Vor dem Hintergrund eines notorischen Arbeitskräftemangels sowie eines partiellen Werbeverbotes sei ein "grauer" Arbeitsmarkt entstanden, auf dem sich die Arbeitssituation der Höherqualifizierten letztlich recht unruhig gestaltet hätte. Versorgung und Lohn wären zunehmend individuell und nicht mehr kollektiv geregelt worden, die persönliche Verantwortung und Sanktionierbarkeit auf einzelnen Posten sei immer unübersichtlicher geworden.

Einen interessanten Beitrag zu einer bislang in der deutschen Forschung eher unbeleuchteten Region leistete Ivo Georgiev (Hamburg) mit seinen Ausführungen zum Wandel der politischen Leitbilder von den sechziger zu den siebziger Jahren in Bulgarien. Im Unterschied zu Ländern wie der Tschechoslowakei, Polen oder der DDR seien die Nachkriegsjahre in Bulgarien die Zeit des "großen Sprungs" gewesen, in der die überwiegend agrarische Gesellschaft in erheblichem Maße mobilisiert wurde, es zu umfassender Migration und hoher Arbeitslosigkeit in den Städten kam. Der Aufbau der Industrie sollte diesen Druck mindern und wurde von Anfang an durch soziale Maßnahmen abgefedert. Für die andauernden wirtschaftlichen Probleme wurden in den sechziger Jahren zwei Lösungsansätze erwogen. Der eine sah die völlige Anpassung an die Sowjetunion, ja eventuell sogar eine Adoption als deren 16. Republik vor. Der andere, teilweise auch realisierte Ansatz bestand in der partiellen Dezentralisierung der wirtschaftlichen Lenkung nach dem Vorbild der Länder Ostmitteleuropas. Trotz der durchaus positiven Ergebnisse der Reformen wurden diese im Sommer 1968 abgebrochen, was Georgiev hauptsächlich auf Widerstände innerhalb der Verwaltung zurückführte, die sich gegen die Pluralität der Wirtschaftslenkung wehrte. In der folgenden Phase wurden die Reformen revidiert und gleichzeitig das Ziel der Konsumförderung in den Vordergrund gerückt. Besonders die landwirtschaftliche Produktion sollte gestärkt werden, weshalb die Kollektivierung rückgängig gemacht und privater Bodenbesitz wieder zugelassen wurde. Insofern könne, so Georgiev, im Falle Bulgariens von "Joghurtkommunismus" gesprochen werden.

In der zweiten Sektion "Arbeiter als soziales und kulturelles Leitbild von "Normalität" forderte Moderator Jürgen Danyel (Potsdam) die Teilnehmer dazu auf, die Stellung der "Normalisierung" im "realem Sozialismus" näher zu klären, sowie herauszuarbeiten, welche neuen Leitbilder die siebziger Jahre hervor gebracht hätten. In ihren folgenden Ausführungen konzentrierte sich Simone Barck (Potsdam) sehr stark auf die an Visionen recht arme Geschichte der Arbeiter-Literaturzirkel, die zudem ein Spezifikum der DDR und damit nicht ohne weiteres auf die anderen Ostblockländer übertragbar seien. Einleitend wies sie auf die - der Partei aus internen soziologischen Studien auch bekannte - generell geringe Aufgeschlossenheit der Arbeiter für kulturpolitische Mobilisierung hin. Bezüglich ihrer Freizeitgestaltung fanden die Arbeiter Spaß und Entspannung am wichtigsten, und ihre Einstellung zur Arbeit beruhte eher auf einer traditionellen Arbeitsethik als auf einer gesamtgesellschaftlichen Vision. Dies widersprach erheblich dem Ideal des allgemein gebildeten und politisch bewußten Arbeiters, wie er im Zentrum der kulturpolitischen Mühen von Partei und Gewerkschaft stand. Diese Diskrepanz prägte auch das Schicksal der "Bewegung der schreibenden Arbeiter", die in den sechziger Jahren in fast jedem Betrieb Literaturzirkel bildete und sich dennoch weder quantitativ noch qualitativ so entwickelte, wie die SED es sich gewünscht hatte. Dieses Scheitern verstärkte, so Barck, die Tendenz zur Aufspaltung zwischen Berufs- und Laienkunst, wobei letztere allmählich abflachte und diffundierte.

In ihren Ausführungen zur betrieblichen Kulturarbeit vor 1970 verneinte Annette Schuhmann (Potsdam) die Frage nach spezifischen Elementen der Zeit der "Normalisierung" im Vergleich zur vorherigen Dekade. Die Kulturfunktionäre der Gewerkschaften hätten bereits seit Ende der Fünfziger Jahre gewußt, daß die intendierten Effekte der betrieblichen Massenarbeit sehr begrenzt waren. Und trotz der Kontinuität der Unzufriedenheit der Arbeiter mit den betrieblichen Kulturangeboten, hielten sie daran fest, dass der Betrieb der wichtigste Ort für Kulturvermittlung sei. Weder von unten noch von oben wurde die betriebliche Kulturarbeit als Ganze in Frage gestellt.

Die folgende Diskussion drehte sich vor allem um die formale und inhaltliche Ausgestaltung der Kulturpolitik. Es wurde ein Wandel der traditionalen Arbeiterkulturformen festgestellt, der nicht zuletzt dem Einfluß des Fernsehens und den Grenzen deren kollektiver Nutzung ab Ende der sechziger geschuldet sei. Weiterhin wurde diskutiert, ob der für die gesamte DDR in den siebziger Jahren charakteristische Wandel der Leitbilder vom Proletarischen zum Kleinbürgerlichen auch für die Literatur festzustellen sei und ob das, was als inhaltliche Verwestlichung im kulturellen Bereich aufgefaßt werde nicht eher einer Modernisierung gemäß des säkularen Trends entspräche. Es wurde vorgeschlagen, "Normalisierung" als die Hinwendung zu normalen, modernen Bedürfnissen zu interpretieren.

Die Abschlußdiskussion zeigte, wie auch die vorherigen Zwischenrunden, einige zentrifugale Tendenzen, die wohl auch einer gewissen Verwirrung bezüglich soviel Normalisierung, Normativität und Normalität geschuldet war. Peter Hübner bedauerte, daß der fragliche Begriff im Laufe der Diskussion an Ironie verloren habe, die der versuchsweisen Übertragung aus dem konkreten Kontext der Tschechoslowakei auf eine Ländergruppe entsprungen sei. Schließlich entstamme der Begriff der Empirie und sei keine Forschungskategorie. André Steiner (Potsdam) fügte hinzu, daß man unter Zugrundelegung eines zyklischen statt eines Phasenmodells in der Geschichte des Ostblocks mehrere Perioden der "Normalisierung" ausmachen könne.

Jürgen Danyel zog schließlich eine positive Bilanz des Workshops. Als gelungen bezeichnete er die Untersuchung der Kontinuität und Brüche rund um die Zäsur 1970/71, die Ausleuchtung einiger struktureller Merkmale des "realen Sozialismus" sowie die Bedeutung externer Einflüsse wie des Ost-West-Konfliktes oder der Massenmedien. Letztlich hielt er aber an der gemäß dem tschechoslowakischen Modellfall entwickelten Definition fest, die bereits der von ihm und Peter Hübner verfaßte Grundlagentext für diesen Workshop enthielt: "Normalisierung" als einen Gesellschaftsvertrag über den Tausch von sozialem Frieden gegen Konsummöglichkeiten. Ganz normal also.