Antike Tragödie heute

Antike Tragödie heute

Organisatoren
SFB „Transformationen der Antike“, das Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin und das Deutsche Theater
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.03.2007 - 04.03.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Matthias Dreyer; Rafael Ugarte Chacón; Lore Knapp

Parallel zu den Aufführungen drei antiker Tragödien („Orestie“, „Perser“, „Medea“) am Deutschen Theater Berlin veranstaltete der Sonderforschungsbereich „Transformationen der Antike“, das Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin und das Deutsche Theater eine gemeinsame Konferenz mit philologischen, religionswissenschaftlichen und theaterwissenschaftlichen Beiträgen. Beleuchtet werden sollten die Relevanz und die Potentiale einer aktuellen Beschäftigung mit der antiken Tragödie. Im Mittelpunkt standen kritische Revisionen kultureller Ursprungskonstruktionen, die Frage des Tragischen, neue Lektüren antiker Tragödien und Erörterungen ihrer Aufführungsgeschichte in der Gegenwart.

VON DEN ANFÄNGEN

Oliver Taplin (Oxford) eröffnete mit einer Präsentation neuer Forschungsergebnisse zur antiken Vasenmalereien, aus denen er Rückschlüssen auf die Anfänge der Tragödienrezeption (4. Jahrhundert v. Chr.) zog. So zeigen die Malereien nur selten tatsächliche Aufführungen, wurden aber von den Aufführungstraditionen inspiriert. Hier zeigt sich, wie die Transformationen der tragischen Stoffe gleich nach ihrer Uraufführung begonnen haben. Ein Beispiel sind Darstellungen von Medeas Schlangen- bzw. Drachenwagen, der bei Euripides nur als Triumphwagen bezeichnet wird, so dass man annehmen muss, dass die Schlangen aus der Aufführungspraxis stammen. Ähnliches gilt für die Darstellung der Erinnyen als junge, schöne, geflügelte Frauen, die jedoch bei Aischylos als hässliche, flügellose Wesen beschrieben werden.

Susanne Gödde (Berlin) analysiert die Bildung moderner Wissenschaftsmythen anhand der Debatte um den Ursprung des antiken Theaters. Neben Nietzsches Rückführung der Tragödie auf einen Satyrchor und den Cambridge Ritualists unterzieht sie Walter Burkert These vom griechischen Opferritual als Wurzel des Theaters und Aristoteles’ Poetik eine Überprüfung: Die Annahme, dass die frühe Tragödie von Satyrn bzw. Tänzern in Bocksfellen aufgeführt wurde, die Gleichsetzung von Satyrn mit Böcken und die Übersetzung von tragôdia als „Gesang von Böcken“ erwiesen sich als nicht haltbar. Generell scheint bei wissenschaftlichen Ursprungs-Konstruktionen der Wunsch vorherrschend zu sein, diese als fremd, wild und naturverbunden erscheinen zu lassen.

Bernd Stegemann (Berlin) unterscheidet in seinem Vortrag zur „Tragödie der Kontingenz“ vier Haltungen zum Tragischen: das Tragische als Begründung für die Notwendigkeit menschlichen Leids, die Ablehnung dieser Begründung, die Zersetzung des tragischen Konflikts durch Kontingenz und das Bedauern dieser Abschaffung des Tragischen. Innerhalb dieser Haltungen versucht Stegemann die Tragödie und ihre Wirkung zu verorten, indem er Hegels Antigone-Analyse und Luhmanns Systemtheorie gedanklich verbindet: Die Kontingentsetzung, die dem Tragischen seine Unbedingtheit nimmt, und der damit verbundene Versuch der Aufdeckung sämtlicher „blinder Flecken“, resultieren in menschlicher Hybris. Mit einer Analyse des Dramas Die Zeit und das Zimmer von Botho Strauß illustrierte Stegemann seine These, dass jedes menschliche Handeln seine Negation in sich trägt. Die Darstellung von Handlung und dem aus ihr resultierenden Untergang in der Tragödie erzeugt das tragische Gefühl.

NEUE LEKTÜREN

Drei Vorträge widmeten sich Neu-Lektüren der antiken Tragödien, die am Deutschen Theater aufgeführt werden. Anton Bierl (Basel) interpretiert Aischylos’ Perser als prädramatische Performance, welche nicht Zeitgeschichte darstellen, sondern vielmehr den Sieg Athens gegen die Perser anhand von Symbolen und Bildern der Klage, des Todes und des Opfers ins kulturelle Gedächtnis überführen soll. Eine Voraussetzung hierfür ist die Einbindung des Tragödienwettbewerbs in die Dionysien der Polis. Das Politische der Tragödie äußert sich in der Diskussion von Problemen und Handlungsoptionen der Polis auf der Folie des Anderen bzw. des Mythos. So wird auch das zeitgeschichtliche Ereignis der Schlacht von Salamis in eine mythisch-religiöse Matrix überführt. Die Wirkung der ritualisierten Sprache und der Gesten auf die Zuschauer steht im Vordergrund, nicht die Identifizierung oder Distanz vom politischen Gegner: So eröffnet die Tragödie Reflexionsräume und überführt die Ereignisses ins kulturelle Gedächtnis.

Michael Jaeger (Berlin) stellt den Zusammenhang von Blutopfer und Revolution dar und zeigt Aischylos’ Orestie als Modell für das Geschichtsbild der Moderne. So stellt Klytaimestra mit ihrem Handeln die Ordnung auf den Kopf: Sie negiert die Herrschaft des Mannes. Gleiches gilt für das Opfer, welches Orest an Klytaimestra und Aigisth vollzieht und welches wiederum einen politischen Umsturz bedeutet. Orest wird hier gleichgesetzt mit Perseus, welcher Medusa enthauptet. Parallelen hierzu finden sich in den öffentlichen Enthauptungen während der Französischen Revolution. Auch hier findet ein Opfer, ein politischer Umsturz inkl. Präsentation des abgeschlagenen Medusen-/Königshaupts statt. Dies geschieht im Sinne eines Vernunftprinzips (wie es bei der Orestie Apollo, Athene und Zeus verkörpern), welches aber paradoxerweise in einer archaischen Bluttat mündet. Dabei wird das Allerheiligste (Mutter, König) geopfert; dieser Frevel ist ebenfalls Voraussetzung für die Revolution. Ein weiterer Umsturz der bisher geltenden Rechtsverhältnisse findet sich in der Einsetzung des Aeropag, welcher seine Parallele im Konvent hat, der über den König abstimmt. So lässt sich das Opfer in der Tragödie mit der modernen Geschichtsphilosophie lesen: das Opfer erscheint als Voraussetzung für Erkenntnis („tun, leiden, lernen“).

Edith Hall (London) analysiert Medea im Kontext der Rechtsgeschichte. Die Faszination der Medea hängt mit der Herausforderung zusammen, dass jeder Regisseur grundsätzlich entscheiden muss, ob Medea zurechnungs- und schuldfähig ist, ob sie vorsätzlich mordet oder ob Gründe vorliegen, die Strafe zu mildern. Das Stück behandelt als erstes in der westlichen Theatergeschichte den Mord als Verbrechen. Der Zuschauer steht den gleichen rechtlichen und psychologischen Grenzbereichen gegenüber, die Richter und Geschworene heutzutage bearbeiten müssen. Die Auffassung, dass uns Euripides die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen vorsätzlichem und nicht vorsätzlichem Mord untersuchen lässt, wird gestützt von der Tatsache, dass diese Unterscheidung im Rechtsystem seiner eigenen Zeit anerkannt wurde. Im athenischen Gesetz war beispielsweise die Ermordung des Liebhabers der eigenen Frau unter gewissen Umständen legitim. Im Zuge der Übertragung dieses Rechts auf die Frau kann von einer Dekonstruktion der psychologischen Kategorien männlich und weiblich ausgegangen werden, die von Medeas maskuliner Sprache unterstützt wird. Euripides’ Tragödie untersucht die Geschlechtszugehörigkeit der Psyche Medeas und die Frage, wie weit sie als Frau zu moralischen Überlegungen im Stande ist. Faszinierend an der Tragödie ist ihr Widerstand gegen klare psychologische und gesetzliche Kategorisierungen.

150 JAHRE THEATERGESCHICHTE

Drei weitere Vorträge widmeten sich Aufführungen griechischer Tragödien von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Erika Fischer-Lichte (Berlin) zeigt, wie „Berliner Antikenprojekte“ das (Text-)Material des griechischen Theaters einsetzen, um neue Formen von Theater zu erproben oder ein neues Bild der griechischen Kultur zu entwerfen. Die Aufführung der Antigone von 1841 in Potsdam fungierte mit ihrem antikisierenden Konzept als kulturelles Gedächtnis. Das an Winckelmann angelehnte Griechenlandbild drückte ein neues Selbstverständnis des preußischen Staates aus. In Max Reinhardts Inszenierungen 1910/11 bewirkte die neue Wahrnehmung, die von der Beherrschung des Raums durch Massen und dynamische Körper geprägt war, eine Individualisierung der Mitglieder der Aufführungsgemeinschaft. 1936 präsentierte Lothar Müthels Orestie dem internationalen Publikum der olympischen Spiele Nazi-Deutschland als Nachfolger des antiken Griechenland.

Klaus Michael Grüber stellte 1974 mit den Bakchen die Unzugänglichkeit der griechischen Antike heraus und die Vorstellung einer kollektiven, kulturellen Identität in Frage, indem er zeigte, dass verschiedene Zuschauer den Elementen auf der Bühne nie dieselben Bedeutungen zusprechen. Diese enthüllen mehr über uns und unsere Gegenwart als über die vergangene Welt. Anhand der Inszenierung zeigt sich das Vorgehen des sogenannten Regietheaters, das den Text „opfern“ muss, damit eine Aufführung entstehen kann. Peter Stein zeigte 1980 wie sich im dritten Teil der Orestie aus dem Hörraum ein Schauraum ergab, wie die Inszenierung vom Wort zum szenischen Bild führt und setzte der mit der Antigone 1841 begonnenen Tradition der kulturellen Identifikation ein Ende.

Platon Mavromoustakos (Athen) thematisiert mit seiner „Europäischen Aufführungsgeschichte der Orestie“ ideologische Funktionalisierungen des theatralen Raumes. Er geht von vier Entwicklungsphasen aus: In der ersten Phase wurde beginnend mit L. Tiecks Antigone (1841) antikisierend inszeniert. Die Entscheidung, um 1900 im neuen Königlichen Theater in Athen, die Orestie aufzuführen, war Ausdruck des ideologisch-historischen Modells der Griechen, das den neugriechischen Staat als Erben der antiken Kultur darstellt. Die zweite Entwicklungsphase ist durch eine Ästhetik der Monumentalität gekennzeichnet. Sie beginnt mit den Aufführungen Max Reinhardts (König Ödipus und Orestie) 1910/11, in denen ein Massenchor das Volk verkörpert, und findet mit der Orestie während der Olympischen Spiele 1936 ihren Höhepunkt. Durch die Betonung eines monumentalen Stils hat ein großer Teil der Inszenierungen besonders in Deutschland, Griechenland und Italien die gefährliche Tendenz, zum Ausdruck der vorherrschenden Ideologie zu werden. Nach einer Übergangsphase der Nachkriegszeit können Aufführungen griechischer Tragödien in seiner vierten Phase durch die enorme Zahl der Aufführungen seit den 1970er Jahren als beispielhafter Erfahrungs- und Experimentierraum szenischer Entwicklungen betrachtet werden, die von Bezügen zum Ritual und von Dekonstruktionsversuchen geprägt sind.

Matthias Dreyer (Berlin) widmet sich dem Thema der historischen Distanz und den Möglichkeiten einer anderen Zeitvorstellung durch Aufführungen griechisch Tragödien. So lassen sich in den letzten 30 Jahren drei Aufführungsstrategien der Tragödie von Aischylos unterscheiden: Erstens sind die Perser im Kontext deutscher Vergangenheitsbewältigung inszeniert worden, indem jüngste Vergangenheit im Rahmen der antiken Tragödie wiederkehrt, etwa in der Stuttgarter Inszenierung von H. Heyme. Seit den 1990er-Jahren gibt es zweitens die Tendenz, die dem Drama eingeschriebene Differenz des Selbst und des Fremden in Hinblick auf kulturelle Grenzbereiche zu reinszenieren. Peter Sellars überblendet das Kriegsleid der Iraker mit dem Leid der (antiken) Perser; Theodoros Terzopoulos vereinte ehemals feindliche Kriegsparteien, repräsentiert durch türkische und griechische Schauspieler, gemeinsam in einem theatralen Erinnerungsprojekt. Als dritte Aufführungsstrategie kann die Annäherung an „offene Potentiale der Geschichte“ gelten. Heiner Müllers Übersetzung, die gerade durch ihre Nähe zur griechischen Vorlage die heutige Distanz zur Antike betont, sowie die Inszenierungen von Dimiter Gotscheff in Berlin und der experimentellen Gruppe theatercombinat in Genf und Wien lassen Abstand von der Gegenwart nehmen, öffnen historische Räume und Möglichkeiten einer „fremden Zeit“.

Eine Publikation der Tagung (hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Matthias Dreyer) ist bereits im Henschel-Verlag erschienen: 208 Seiten, 9 Euro, ISBN 978-3-89487-579-4


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