Aspekte von Kriegskindheiten: transgenerational und europäisch

Aspekte von Kriegskindheiten: transgenerational und europäisch

Organisatoren
Forschungsgruppe „Weltkrieg2Kindheiten“: Hartmut Radebold, Kassel; Insa Fooken, Universität Siegen; Barbara Stambolis, Universität Paderborn/TU Darmstadt
Ort
Hofgeismar
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.10.2009 - 30.10.2009
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Von
Barbara Stambolis, Universität Paderborn/Technische Universität Darmstadt

Die Forschungsgruppe „Weltkrieg2Kindheiten“ nahm auf ihrem Jahrestreffen 2009 in der Evangelischen Akademie Hofgeismar Fragen auf, die nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern auch in anderen Disziplinen, in der Entwicklungspsychologie etwa, an Bedeutung gewinnen: Es geht um „Generationalität“ und „Generativität“, und das wiederum für ein weites Forschungsfeld: Kriegskindheiten des Zweiten Weltkriegs und ihre nicht nur lebenslangen Folgen für die Betroffenen, sondern auch für Kinder und Enkel – und das wiederum in allen am Krieg beteiligten europäischen Ländern.

Den Auftakt der Veranstaltung bildete nach Einführung des Altersforschers und Mitgründers der Forschungsgruppe Hartmut Radebold (Kassel) die zweiteilige Dokumentation „Der Hamburger Feuersturm 1943“ – im Beisein des Regisseurs Andreas Fischer, der bereits mit seinem Film „Söhne ohne Väter“ zur öffentlichen Wahrnehmung des Themas „Vaterlosigkeit“ als Kriegskindererfahrung beigetragen hatte. Die Dokumentation lebt nicht zuletzt von der Spannung der Berichte der Erlebensgeneration des „Feuersturms“ und der Wahrnehmungen von Seiten der „Nachgeborenen“. Der Film stellt eine wichtige Ergänzung der vorausgehenden breit angelegten Pilotstudie zum Feuersturm dar, deren Ergebnisse – unter intensiver Beteiligung der daran Arbeitenden – in die Diskussion einflossen.

Über Ergebnisse des „Münchner Kriegskinderprojekts“ unter der Leitung von Michael Ermann berichteten CHRISTA MÜLLER, MANUEL KRINNER und SUSANNE LOTZ (München). Forschungsleitend war nicht zuletzt die Frage nach der „Integration“ der Kriegskindheit in spätere Lebensentwürfe, ihre Auswirkungen und Spätfolgen. Stichworte waren in diesem Zusammenhang: Mutter-, Vater- und Selbstbild; „Opfer“- und „Täter“-Diskurse und andere mehr. Befragte betonen bezeichnenderweise noch heute Ängste angesichts belastender Erlebnisse und die mit den Erinnerungen an dieselben verbundenen, oft beunruhigenden Gefühle. HARALD KAMM (München) verdeutlichte dies am Beispiel seines Befragungsprojekts mit Psychoanalytikern der Jahrgänge 1938 bis 1945.

BERTRAM VON DER STEIN (Köln) legte anhand von Fallbeispielen aus seiner psychoanalytischen Arbeit späte Auswirkungen von Kriegskindheitserfahrungen auf die Nachfolgegenerationen jüdischer Kontingentflüchtlinge dar. Traumata, Essstörungen, Depressionen, Integrations- und Identitätsprobleme, Aggressions-, Sucht- und Gewalterfahrungen, Suizidversuche, Adoleszenzkonflikte oder Parentifizierungen deuteten bei seinen Patienten auf verschiedene familiäre Problematiken mit Krieg und Kriegskindheit hin. Bei den Nachgeborenen der dritten und vierten Generation seien die traumatischen Erlebnisse noch deutlich zu erkennen. Gerade im Umgang mit diesen Patienten sei auch für Therapeuten historisches Wissen unabdingbar, um wirkungsvolle therapeutische Ansätze zu finden.

PETER SCHULZ-HAGELEIT (Berlin) befasste sich aus psychohistorischer Sicht mit der Verflechtung und Entflechtung zweier Erfahrungsstränge: Kriegsgeschehen und NS-Kindheit. Im Fokus seiner Überlegungen stand die Metapher der "Vergiftung" als Begriff einer psychohistorischen Diagnose, die sich im Schweigen sowie in übertragenen Denkweisen zeige. Erfahrungen müssten "durchgearbeitet" und reflektiert werden.

Das Amfortas-Syndrom bei Psychotherapeuten behandelte MICHAEL FROESE. Anhand von Fallbeispielen zeigte er, wie innerhalb ostdeutscher Familien mit dem Zweiten Weltkrieg und möglichen Kriegstraumata, aber auch mit DDR-Repressionen sowie Mauerfall umgegangen wurde. Vor allem die Auswirkungen der gewaltvollen politischen Vergangenheit in späteren psychischen Prozessen sowie die unbewusste Weitergabe dieser Erfahrungen an nachfolgende Generationen seien nicht zu unterschätzen. Aus historischer Sicht stelle sich die Frage, ob eine Reflexion und Behandlung psychischer Folgen aus den DDR-Repressionen und des Mauerfalls aufgrund des geringen zeitlichen Abstandes überhaupt schon möglich seien.

INGRID MEYER-LEGRAND (Berlin) stellte die Frage, ob auch Kinder der Kriegs- und Flüchtlingskinder in gewisser Weise immer noch auf der "Flucht" seien. Jobwechsel und häufige Umzüge etwa verwiesen auf die Schwierigkeit der Nachfolgegenerationen, sich relativ sorglos auf ihr Leben einzulassen. Es handele sich gewissermaßen um ein „ein Verbot des Ankommens“, das sich nur aus der generationellen Problematik heraus deuten lasse.

Den Zusammenhang zwischen Kriegserfahrungen und aktuellen Alternsprozessen verdeutlichte GUDRUN SCHNEIDER (Münster) anhand zweier Münsteraner Stichproben des Teilprojekts „Zeitgeschichtliche Erfahrungen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche Teilhabe alter Menschen“ an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Münster im Rahmen des Programms „Geisteswissenschaften gestalten Zukunftsperspektiven“. Gegenstand der Untersuchung sind der Gesundheitszustand, die Behinderung in Alltagsaktivitäten, das Kohärenzgefühl, das subjektive Wohlbefinden, psychische und körperliche Symptomatiken, Depressivität und Ängstlichkeit, die gesundheitsbezogene Lebensqualität sowie die Auswirkungen traumatischer Ereignisse bei Probanden der Jahrgänge 1929 bis 1945. Dabei fanden sich vielfach ähnliche Kriegs- und Kindheitserfahrungen, unter anderem. Bombardierungen oder Beschuss, die Wiederkehr des Vaters, Hunger, Kälte und Krankheit, Flucht und Heimat- bzw. Wohnungslosigkeit. Der methodische Ansatz jedoch geriet in die Kritik aufgrund zu vieler Variablen, unklarer Interaktionsverhältnisse und einem zu linearen Erklärungsmodell.

Außerhalb des wissenschaftlichen Programms vermochte es PETER-ULRICH SCHEDENSACK (Kassel) durch einen szenischen Monolog mit dem Titel „Ungeschriebene Briefe“ den Konflikt zwischen Kriegserlebnis- und Nachfolgegeneration in literarisch eindringlicher Form darzustellen.

Im Anschluss berichteten ULRICH LAMPARTER, CHRISTA HOLSTEIN und PHILIPP VON ISSENDORFF (Hamburg) über aktuelle Entwicklungen und Ergebnisse ihrer umfangreichen Pilotstudie zum Hamburger Feuersturm. In Zusammenarbeit mit Psychotherapeuten, Historikern und Analytikern wurden quantitative und qualitative Daten von Zeitzeugen anhand eines leitfadengestützten Fragebogens sowie Interviews erhoben. Von besonderem Interesse war in einem ersten Schritt die Frage nach traumatischen Folgen bei der Erlebnisgeneration. In einem zweiten Schritt wurden Interviews mit deren Kindern und Enkeln geführt, in seltenen Fällen auch Familieninterviews. Im Ergebnis ließ sich keine generelle Verarbeitung herauskristallisieren, die Verarbeitungsgeschichte zeige sich individuell verschieden, die Erzählung über den Feuersturm aber gestaltete sich als auffallend ähnlich und konsistent. Dabei wirkte der Feuersturm als Wendeerlebnis, verschobene Angst- und verdichtete Kriegserfahrung. Die Zeitzeugen zeigten insgesamt das Bedürfnis nach Anerkennung ihres Erlebens als negativ, auch wenn ihr retrospektiver Blick nicht trauernd wirkte, sondern von der Erinnerung an einen meist soliden beruflichen Aufstieg sowie eine allgemeinen Erzählung über die genutzten historischen Möglichkeiten überlagert war. Keiner der Befragten ziehe eine Parallele seines eigenen Leides zu Holocaust-Opfern, frage nach familiären Verwicklungen in den Nationalsozialismus oder aber nach den Hintergründen des Feuersturms – dieser erscheine vielmehr als globales „Unglück“.

Aus historischer Perspektive betrachtete LU SEEGERS (Gießen) die Kriegerwitwen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und stellte Ergebnisse ihrer kurz vor dem Abschluss stehenden Habilitation vor. Ihr Fokus galt hier vor allem dem Erleben von Kindheit und Jugendzeit bei vaterlosen Kriegskindern. Nach dem Ersten Weltkrieg zeigte sich ein gesellschaftliches Massenproblem erstmalig: Durch den Ausfall einer ganzen Männergenerationen gab es viele Kriegerwitwen, die nicht zuletzt um ihre finanzielle Sicherung bemüht waren. Galten Kriegsopfer im Nationalsozialismus noch als Ehrenbürger, wurde nach 1945 die Situation deutlich schwieriger: Durch Männermangel, eine wirtschaftlich düstere Lage, hohe Verluste von Haus und Vermögen, keinem privilegierten Platz mehr für Kriegsopfer und geringe Fürsorgeleistungen in West wie Ost drohte vielen Kriegerwitwen der soziale Abstieg. Hinzu kamen zeitgenössische Stimmen, die die Gefahren von Halbwaisen für die Gesellschaft betonten, da ihnen die Bipolarität von Mutter und Vater fehle, die zu einer Verweichlichung gerade der Jungen führe.

ALFONS KENKMANN (Leipzig) untersuchte – in vergleichender Perspektive – die Erinnerungen jüdischer Kinder an den Zweiten Weltkrieg. Fußend auf Interviews mit überlebenden Kindern aus Polen der Jahrgänge 1929 und folgende, die von der zentralen jüdischen Kommission ab 1944, kaum dass die östlichen Gebiete befreit waren, zusammengetragen wurden, zeigte er beispielhafte Kindheitsschicksale. Diese mehrseitigen, größtenteils auf polnisch verfassten Interviewprotokolle, innerhalb derer Kinder seit Beginn des Zweiten Weltkriegs und meist bis zum Tage des Interviews chronologisch ihre Überlebensgeschichten erzählen, vermitteln eine emotionale Dimension, die in anderen Quellen kaum auffindbar ist, und ermöglichen eine Erforschung auch der Psyche dieser Kinder.

BARBARA STAMBOLIS (Paderborn) berichtete aus einem mit DFG-Mitteln geförderten Befragungsprojekt „Jahrgang 43 deutscher Historiker. Leben in und mit der Geschichte“; sie stellte Auswertungsergebnisse mit Blick auf prägende Horizonte zwischen Kriegskindheit und 1968 bei Historikern des Jahrgangs 1943 vor. Aspekte von Generationalität und Generativität erfragte sie über Erziehungsformen, Jugendgruppen, Lektürevorlieben oder auch den Bildungshintergrund. Generationszusammenhänge zeigten sich unter anderem darin, dass nur wenige sich explizit als „68er“ oder auch als Kriegskind bezeichneten, gleichwohl die Bedeutung von letzterem vielen in seiner Bedeutung erst gegen Ende der Berufslaufbahn deutlich werde.

In einer abschließenden Diskussion wurden für die weitere Forschung wichtige Aspekte betont. Notwendig erschienen eine Standardisierung der Interviews sowie die Erhöhung der Repräsentativität der Daten durch eine Erweiterung der Befragungen auf alle Bevölkerungsschichten. Betont wurde auch, dass es bei den weit gespannten Forschungen zur Kriegskinderthematik nicht um eine „Bewältigung der Vergangenheit“, auch nicht um die Illusion einer Milderung oder Auflösung der Vergangenheit gehe, sondern vielmehr um einen Umgang mit Ambivalenzen, die sich in einer gleichermaßen von Täter- und Opferschaft geprägten Erinnerung etwa niederschlage. In „Opferkonkurrenzen“ dürften Diskussionen keinesfalls abgleiten. Vor allem seien für Therapeuten zeithistorische Kenntnisse notwendig, nicht zuletzt um die Unterschiede zwischen Vertriebenen, Nomaden, Flüchtlingen Deserteuren, Widerständlern, Migranten und deren Herkunftsorte sowie die damit einhergehenden Problematiken wie Verlust(ängste), Rastlosigkeit, Unsicherheit zu erkennen. Auch Einzelaspekte müssten noch weitaus differenzierter betrachtet werden, als dies bisher möglich gewesen sei: familiäre Weitergabeprozesse von Erinnerung und Erfahrung etwa sowie die psychotherapeutische Behandlung älterer Menschen. Besonders deutlich wurde, dass bei der Untersuchung von Kriegskindheit eine transdisziplinäre Ausrichtung nicht nur wünschenswert, sondern unabdingbar ist.

Konferenzübersicht:

Christa Müller, Manuel Krinner, Susanne Lötz (München): Das Münchner Kriegskinderprojekt.

Harald Kamm (München): Kriegskinder als Psychoanalytiker.

Bertram von der Stein (Köln): Psychoanalysen mit jüdischen Kontingentflüchtlingen.

Peter Schulz-Hageleit (Berlin): Kriegsgeschehen und NS-Kindheit. Psychohistorische Überlegungen zur Verflechtung und Entflechtung von zwei Erfahrungssträngen.

Michael Froese: Das Amfortas-Syndrom bei Ostdeutschen Psychotherapeuten.

Ingrid Meyer-Legrand (Berlin): Die Kinder der Kriegs- und Flüchtlingskinder – immer noch auf der Flucht?

Gudrun Schneider (Münster): WK2-Kriegserfahrungen und aktueller Alternsprozess in zwei Münsteraner Stichproben – Belastungen und Ressourcen.

Peter-Ulrich Schedensack (Kassel): Szenischer Monolog „Ungeschriebene Briefe“.

Ulrich Lamparter, Christa Holstein, Philipp von Issendorff (Hamburg): Das „Hamburger-Feuersturm-Projekt“: aktuelle Entwicklungen und Ergebnisse.

Lu Seegers (Gießen): Kriegerwitwen nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg.

Alfons Kenkmann (Leipzig): Quellen revisited: frühe Zeugnisse zu Kindern des Holocaust.

Barbara Stambolis (Paderborn): Historiker Jahrgang 43. Prägende Zeithorizonte zwischen Kriegskindheit und 68.


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