Politik an den Parteien vorbei? Freie Wähler und Wählervereinigungen als Alternative

Politik an den Parteien vorbei? Freie Wähler und Wählervereinigungen als Alternative

Organisatoren
Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF), Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.04.2011 - 09.04.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Philipp Erbentraut / Jan Kette / Heike Merten, Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF), Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Email:

Unter dem Titel „Politik an den Parteien vorbei“ veranstaltete das Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF) am 8. und 9. April 2011 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ein zweitägiges Symposion. Rund 100 Teilnehmer aus Wissenschaft und der politischen Praxis sowie Medienvertreter und Studierende kamen dabei miteinander ins Gespräch. Im Zentrum der Tagung stand die Frage, ob Freie Wähler und kommunale Wählervereinigungen eine politische Alternative zu den etablierten Parteien darstellen können.

Historisch betrachtet bilden Wählergemeinschaften in Deutschland seit der Nachkriegszeit einen festen Bestandteil des politischen Systems. Wie die Vorträge von MARION REISER (Frankfurt am Main) und ANDREA DE PETRIS (Rom) deutlich machten, sind sie aber kein rein deutsches, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen mit wachsender Bedeutung. Zuletzt beteiligten sie sich in knapp drei Vierteln aller deutschen Gemeinden an den Kommunalwahlen. Die meisten Vereinigungen verstehen sich selbst als „Anti-Parteien-Parteien“, die jenseits des Schwarz-Weiß-Denkens der Etablierten vermeintlich ideologiefreie und überparteiliche Sachpolitik betreiben wollen. Indes: Organisatorisch und programmatisch unterscheiden sich die Wählergemeinschaften auf der kommunalen Ebene – so lautete ein Befund des Symposions – kaum von Parteien (so der durch Adrienne Krappidel vorgetragene Beitrag von EVERHARD HOLTMANN [Halle-Wittenberg] sowie die Analysen von MARCEL WINTER [Duisburg-Essen]). Daran ändere auch ihre weit verbreitete Antiparteienrhetorik im Wahlkampf nichts.

Populär sind Wählervereinigungen vor allem im Osten Deutschlands, wo die Organisationsdichte der etablierten Parteien geringer ist und viele Menschen nach den Erfahrungen der SED-Herrschaft offenbar nichts mehr mit Parteien zu tun haben wollen. Traditionell stark schneiden die Vereinigungen auch in Süddeutschland ab. In Baden-Württemberg etwa stellen sie seit 2009 rund 45 Prozent aller Gemeinderäte. Nach eigenen Angaben haben sie mit bundesweit 280.000 Mitgliedern inzwischen mehr eingetragene Anhänger als FDP, Grüne und Linke zusammen. In Bayern schafften die „Freien Wähler“ mit 10,2 Prozent der Stimmen 2008 sogar erstmals den Einzug in ein Landesparlament. Dabei fungieren sie laut THORSTEN FAAS (Mannheim) offenbar als eine Art Auffangbecken für frustrierte bürgerliche Wähler.

Mit der Beteiligung an Landtagswahlen stehen die unabhängigen Listen jedoch vor einem Dilemma. Verlassen sie die kommunale Ebene, gewinnen sie zwar politischen Einfluss, riskieren aber ihre Bürgernähe und damit Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig wird durch diesen Schritt die juristische Frage drängend, welchem institutionellen Rahmen die Wählergemeinschaften eigentlich unterliegen. Die Teilnahme an Landtags- und Europawahlen verstärkt die Bedeutung der Wählergemeinschaften innerhalb des demokratischen Systems. Sie sind im gleichen Aufgaben- und Funktionsbereich tätig wie politische Parteien. Und tatsächlich zeigt der Befund des auf die Wählergemeinschaften angewendeten Rechts eine unter dem Druck der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entstandene deutliche Angleichung an das Recht der politischen Parteien. Im Bereich der Rechenschaftspflichten sind sie aber weiterhin besser und im Bereich des Bestandsschutzes schlechter gestellt. HEIKE MERTEN (Düsseldorf) plädierte deshalb dafür, das Recht der politischen Parteien konsequenterweise in Gänze auf die Wählergemeinschaften anzuwenden. SEBASTIAN ROßNER (Düsseldorf) ergänzte, nicht das Selbstverständnis der Wählergemeinschaften als Nicht- oder Anti-Parteien sei entscheidend, sondern alleinig der Parteibegriff des Grundgesetzes. Dieser enthalte ausschließlich objektive Kriterien. Die Teilnahme an Wahlen, einschließlich der Kommunal- und Europawahlen, sowie die Erfüllung der weiteren überprüfbaren Merkmale, führe zur Parteieigenschaft auch gegen den ausdrücklichen Willen einer Vereinigung.

Dessen ungeachtet bekräftigte CORDULA BREITENFELLNER, die Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Freie Wähler, die Absicht künftig regelmäßig bei überregionalen Wahlen antreten zu wollen: „Ein kommunales Zölibat hat es nie gegeben“, sagte Breitenfellner: „Als bürgerliche Alternative können wir die Reform der Demokratie in Deutschland einleiten.“ Kritik an diesem Kurs gibt es nicht zuletzt aus den eigenen Reihen. Prominentester Gegner einer überregionalen Expansion ist der Landesvorsitzende der Freien Wähler Baden-Württemberg, HEINZ KÄLBERER, der ebenfalls in Düsseldorf anwesend war: „Wir sind keine Partei und wollen auch keine werden. Unsere Stärke liegt eindeutig auf der kommunalen Ebene, wo unsere Kandidaten persönlich bekannt sind und die Wähler ihnen deshalb Vertrauen entgegen bringen.“ Die gefühlte Bedeutung der Persönlichkeitswahl auf Seiten der Praktiker hatte zuvor JOACHIM BEHNKE (Friedrichshafen) aus der Sicht der Wahlforschung empirisch bestätigen können. Er stellte fest, dass das personalisierte Verhältniswahlrecht auf Landesebene den Freien Wählern die Möglichkeit gebe, ihre Stärke bei den Kandidaten auch entsprechend in das Wahlergebnis umzusetzen.

Was einen dauerhaften Erfolg der Wählervereinigungen jenseits der kommunalen Ebene betrifft, zeigten sich die anwesenden Politikwissenschaftler gleichwohl skeptisch. Aus der Sicht von ULRICH EITH (Freiburg im Breisgau) fehlt den Freien, aufgrund ihrer mangelnden Verankerung in den sozialen Milieus der Wählerschaft, schlicht der politische Markenkern. Die Parteienverdrossenheit, von der sie momentan profitierten, werde durch ihre eigene Orientierungslosigkeit letztlich nur noch verstärkt. In eine ähnliche Richtung argumentierte TORBEN LÜTJEN (Düsseldorf). Indem er die ideengeschichtlichen Wurzeln des Entideologisierungsversprechens frei legte, entlarvte er den Anspruch der Freien Wähler auf eine ideologiefreie Sachpolitik als Chimäre. Eine Politik jenseits aller Parteilichkeit könne es nicht geben.

Den Schlusspunkt des Symposions bildete ein Streitgespräch zwischen dem ehemaligen Bayerischen Ministerpräsidenten GÜNTHER BECKSTEIN und der bayerischen Landtagsabgeordneten JUTTA WIDMANN von den Freien Wählern. Beckstein warf den Freien Wählern politische Unzuverlässigkeit vor: „Sie wissen selbst noch nicht, wo sie stehen. Die Freien Wähler sind ein bunter Haufen. Ihnen fehlt sowohl ein politisches Programm als auch eine charismatische Führungsfigur.“ Zudem kritisierte Beckstein das uneinheitliche und unvorhersehbare Abstimmungsverhalten der Landtagsfraktion. Eine Regierungskoalition mit seiner CSU nach der Landtagswahl 2008 sei deshalb ausgeschlossen gewesen: „Wir brauchen einen Partner, von dem wir wissen, wie er abstimmt.“

Jutta Widmann verteidigte das freie Abstimmungsverhalten der Abgeordneten: „Wir haben einen neuen Politikstil im Landtag eingeführt. Wir wollen keine reine Oppositionspartei sein, sondern mitgestalten.“ Deshalb dürfe der einzelne Abgeordnete bei jeder Frage im Sinne der Sachpolitik selbst entscheiden: „Wir kommen direkt aus den Berufen. Es ist gut, dass praxisorientierte Leute in der Politik vertreten sind.“ Der Meinungsbildungsprozess bei den etablierten Parteien müsse reformiert werden. Die Regierenden hätten vergessen, die Menschen mitzunehmen. Gleichwohl räumte sie gemäß der Feststellung Becksteins ein, die Freie-Wähler-Fraktion habe sich im Bayerischen Landtag erst finden und organisieren müssen. Eine mögliche Regierungsbeteiligung sei von vornherein keine Option gewesen: „Eine Liebesheirat wäre es nicht geworden. Wir gehen nicht mit jemandem ins Bett, der dreimal schwerer ist als wir.“

Das fachliche Fazit der Tagung fiel sowohl aus politikwissenschaftlicher als auch juristischer Perspektive recht eindeutig aus. So wähnte der Parteienforscher THOMAS POGUNTKE (Düsseldorf), stellvertretender Direktor des PRuF, die Wählergemeinschaften am Scheideweg und zog historische Parallelen zur Entwicklung der Grünen: „Entweder die Wählergemeinschaften beschränken sich auf die kommunale Ebene oder sie werden eine Partei wie alle anderen auch.“ PRuF-Direktor MARTIN MORLOK (Düsseldorf) stellte klar: „Parteien haben kein Monopol auf politisch wirksame Aktivitäten. Auch andere Akteure dürfen die staatliche Willensbildung beeinflussen.“ Allerdings müssten für die Wählergemeinschaften dann nicht nur gleiche Rechte, sondern auch dieselben Pflichten gelten wie für Parteien.

Konferenzübersicht:

Martin Morlok (Düsseldorf): Eröffnung und Grußwort

Everhard Holtmann (Halle-Wittenberg): Einführung in die Thematik

Podium: Entstehungs- und Erfolgsbedingungen freier Wählervereinigungen I

Marcel Winter (Duisburg-Essen): Näher dran am Menschen – Freie Wählervereinigungen als Reaktion auf veränderte Bedürfnisse?

Marion Reiser (Frankfurt am Main): Freie Wählervereinigungen in Europa – Eine Typologie in vergleichender Perspektive

Abschließende Podiumsdiskussion
Diskussionsleitung: Thomas Poguntke (Düsseldorf)

Podium: Entstehungs- und Erfolgsbedingungen freier Wählervereinigungen II

Joachim Behnke (Friedrichshafen): Institutionelle Rahmenbedingungen – Der Einfluss des Wahlsystems

Heike Merten (Düsseldorf): Institutionelle Rahmenbedingungen – Der Einfluss der Parteienfinanzierung

Abschließende Podiumsdiskussion
Diskussionsleitung: Hans Hugo Klein (Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D.)

Podium: Partei oder Nicht-Partei?

Ulrich Eith (Freiburg im Breisgau): Sind Wählervereinigungen Parteien im politikwissenschaftlichen Sinne?

Sebastian Roßner (Düsseldorf): Sind Wählervereinigungen Parteien im rechtlichen Sinne?

Abschließende Podiumsdiskussion
Diskussionsleitung: Rudolf Mellinghoff (Richter des Bundesverfassungsgerichts)

Podium: Fremd- und Selbstwahrnehmung

Heinz Kälberer (Landesvorsitzender der Freien Wähler in Baden-Württemberg): Sachbezogen, unabhängig, bürgernah? Die Selbstwahrnehmung der Freien Wähler

Thorsten Faas (Mannheim): Warum wählen freie Wähler die Freien Wähler? – Die Wahrnehmung durch die Wahlberechtigten

Adrienne Krappidel (Halle-Wittenberg): Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung freier Wählervereinigungen in Kommunalparlamenten – Eine Fallstudie

Abschließende Podiumsdiskussion
Diskussionsleitung: Gerhard Vowe (Düsseldorf)

Podium: Der Sog des Systems

Cordula Breitenfellner (Bundesgeschäftsführerin der Freien Wähler): Erweiterung des politischen Tätigkeitsfeldes und Transformationstendenzen

Torben Lütjen (Düsseldorf): Politik jenseits der Parteilichkeit? – Überlegungen zum Anspruch der Freien Wähler auf eine ideologiefreie Sachpolitik

Andrea De Petris (Rom): Quo vaditis freie Wählervereinigungen? Fallbeispiel Italien

Abschließende Podiumsdiskussion
Diskussionsleitung: Dian Schefold (Bremen)

Politikerdiskussion

Günther Beckstein (Bayerischer Ministerpräsident a. D., MdL)

Jutta Widmann (Freie Wähler Bayern, MdL)

Moderation, Zusammenfassung und Schlusswort: Thomas Poguntke (Düsseldorf)


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