Den Krieg denken: Kriegswahrnehmung und Kriegsdeutung in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts

Den Krieg denken: Kriegswahrnehmung und Kriegsdeutung in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts

Organisatoren
Thorsten Busch / Nina Fehrlen-Weiss / Miriam Régerat / Emese Tömösvári, Eberhard Karls Universität Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.09.2014 - 20.09.2014
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Von
Thorsten Busch / Nina Fehrlen-Weiss / Miriam Régerat / Emese Tömösvári, Eberhard Karls Universität Tübingen

Vom 18. bis 20. September 2014 fand der internationale und interdisziplinäre Doktorandenworkshop „Den Krieg denken: Kriegswahrnehmung und Kriegsdeutung in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts“ an der Eberhard Karls Universität Tübingen statt, organisiert von Doktoranden von Prof. Dr. Anton Schindlung und Prof. Dr. Matthias Asche.

In ihrem einleitenden Vortrag wiesen NINA FEHRLEN-WEISS und MIRIAM RÉGERAT (beide Tübingen) auf die inhaltliche und methodische Bezugnahme der Tagung auf den von 1999 bis 2008 an der Universität Tübingen angesiedelten Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ hin. Dieser hatte nach den Erfahrungen, der Wahrnehmung, der Deutung und der Sinnstiftung von Kriegen gefragt. Dies sollte nun auf die Kriege der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts angewandt werden – unter besonderer Berücksichtigung des Langen Türkenkrieges (1593-1606) und des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648). Dabei orientierte sich der Workshop an folgenden Fragestellungen: 1) Wie wurden individuelle und kollektive Kriegswahrnehmungen durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen, territorialen, kulturellen und konfessionellen Gruppen beeinflusst? 2) Welche Unterschiede in der nationalen Historiographie zu den Kriege des 17. Jahrhunderts sind in verschiedenen europäischen Ländern mit ihren jeweils eigenen Forschungstraditionen auszumachen? 3) Welche Rolle spielt diese Phase der Geschichte für das gegenwärtig im Entstehen begriffene europäische Gedächtnis? 4) Welche Chancen eröffnen sich für die geschichtswissenschaftliche Forschung zu diesem Themenkomplex durch die neuen Medien?

In der ersten Sektion des Workshops wurde nach den verschiedenen Akteuren der Kriege gefragt. Dabei wurden die unterschiedlichen sozialen und funktionalen Gruppen mit ihren jeweils spezifischen Bewertungen und Interpretationen des Kriegsgeschehens betrachtet. Im ersten Vortrag stellte STEFFEN LEINS (Tübingen) die kriegsunternehmerische Tätigkeit des letzten Befehlshabers der kaiserlichen Truppen im Dreißigjährigen Krieg, Peter Melander von Holzappel, vor. Damit zeichnete er den Lebensweg eines überkonfessionell agierenden Kriegsprofiteurs nach. Doch verdiente Melander nicht nur beträchtlich am Krieg, so dass er einen bemerkenswerten sozialen Aufstieg erlebte. Er trat auch als eigenständiger politischer Kopf auf, der zuletzt ein geeintes Reich unter Führung des Kaisers anstrebte. OLEG RUSAKOVSKIY (Tübingen) untersuchte die Reintegration abgedankter Söldner in die Zivilgesellschaft nach dem Westfälischen Frieden. Dabei zeigte er am Beispiel der beiden württembergischen Ämter Besigheim und Bietigheim, dass diese Eingliederung zwar an bestimmte Bedingungen geknüpft war, jedoch auf lokaler Ebene durchaus vollzogen wurde. ZOLTÁN BORBÉLY (Eger/Ungarn) lenkte den Blick auf Ungarn und den Langen Türkenkrieg. Dabei stellte er die Forschungsdebatte um die Bewertung der Bewegung hinter István Bocskai vor. Er vertrat die Auffassung, dass es sich hierbei um einen Aufstand handelte, der auf die Wahrung sowohl adlig-ständischer Interessen, als auch religiöser Freiheiten abzielte.

Zum Abschluss des ersten Tages stellte MAIK REICHEL (Leiter der Landeszentrale für poltische Bildung des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg) in einem Abendvortrag mit der Gustav-Adolf-Gedenkstätte in Lützen einen zentralen Erinnerungsort des Dreißigjährigen Kriegs vor. Neben der Darstellung der langen Erinnerungstradition an Gustav II. Adolf, der 1632 dort den Tod fand, war ein weiterer Kernaspekt des Vortrags die Aufarbeitung von Kriegsschauplätzen für die Nachwelt. Aufgrund des 2011 entdeckten Massengrabes in Lützen muss sich der Historiker nämlich der steigenden Relevanz der Schlachtfeldarchäologie stellen. Diese Frage illustrierte Reichel anhand der ethischen und musealen Herausforderungen, die das 2011 entdeckte Massengrab auf dem Schlachtfeld von Lützen mit sich brachte.

Die zweite Sektion des Workshops widmete sich am Morgen des folgenden Tages dem Thema „Krieg und Kriegswahrnehmung in der Stadt und auf dem Land“ und wandte sich damit stärker als die erste Sektion der Zivilbevölkerung zu. Dabei zeigte SUSANNE HÄCKER (Tübingen) zunächst die erheblichen Auswirkungen, die der Dreißigjährige Krieg für die konfessionell jeweils ganz unterschiedlich geprägten Universitäten in Tübingen (lutherisch), Heidelberg (reformiert) und Freiburg (katholisch) hatte. An allen drei Hochschulen zogen die politischen und militärischen Entwicklungen nach dem Prager Fenstersturz im Laufe der 1620er- und 1630er-Jahre eine spürbare Dezimierung der Professoren und Studenten nach sich. Außerdem führten Einquartierungen und Kontributionszahlungen zu finanziellen Verwerfungen, die die Universitäten nur durch Kreditaufnahmen auffangen konnten. Dass die Kriegsläufte damals häufig mit demographisch nicht minder einschneidenden Seuchenzügen korrelierten, strich THORSTEN BUSCH (Tübingen) am Beispiel der Pestepidemie heraus, die 1629/30 das südfranzösische Aix-en-Provence heimsuchte. Vor dem Hintergrund, dass diese Epidemie nicht auf dem See-, sondern durch Truppen auf dem Landweg verbreitet wurde, plädierte Busch für eine zukünftige Verzahnung von Militär- und Seuchengeschichte. Dabei nannte er vor allem die verschiedenen Modi der Seuchenübertragung durch Söldnerheere, die qualitativ durchaus vergleichbare Wahrnehmung von Kriegen und Pestwellen sowie aus Soldaten gebildete Sanitätskordons als potentielle Forschungsfelder. ANDRÁS PÉTER SZABÓ (Budapest/Ungarn) rückte schließlich wieder stärker den Langen Türkenkrieg in den Vordergrund, indem er den Spuren nachging, die dieser und der Dreißigjährige Krieg in der deutschsprachigen Chronistik der freien königlichen Stadt Leutschau (Levoča/Slowakei) hinterließen. Hierbei bestätigte sich erneut die stark konfessionell geprägte Sicht der Zeitgenossen auf die Kriege der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Denn die evangelischen Leutschauer Chronisten missbilligten die militärischen Aktionen der Siebenbürger Fürsten Gábor Bethlen und György Rákóczi durchweg als Aufstand gegen das Haus Habsburg und verglichen die beiden mit den Türken, während sie István Bocskai als Vorkämpfer des Protestantismus in einem deutlich günstigeren Licht sahen.

In der dritten Sektion wurde die Frage von Religion und Konfession im Dreißigjährigen Krieg behandelt. In ihrem Vortrag stellte EMESE TÖMÖSVÁRI (Tübingen) eine noch unedierte, an die ungarische Nation adressierte Propagandaschrift aus dem Jahre 1621 vor. Der „Ratschlag eines seine Heimat liebenden aufrichtigen Ungarn über den jetzigen Zustand Ungarns“ wurde ihres Erachtens vom späteren Palatin, Miklós Esterházy, verfasst und richtete sich gegen Gábor Bethlen, der in der Schrift als größter Verräter Ungarns und Türkenfreund dargestellt wurde. In seinem Vortrag mit dem Titel „Das Türkenbild in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges“ beschrieb KRISTÓF SZUROMI (Budapest / Ungarn) die Bestrebungen des kaiserlichen Hofes, die in Europa weit verbreiteten negativen Türkenbilder auf die protestantischen Kriegsgegner zu übertragen. Vom ungarischen Kriegsschauplatz lenkte DOMINIK SIEBER (Tübingen) den Blick auf die sepulkrale Memoria in den oberschwäbischen Reichsstädten. Er zeigte auf, wie die Tradition der intramuralen Bestattung im Dreißigjährigen Krieg vorübergehend reaktiviert wurde, wobei im Kirchenraum vor allem auswärtige Militärs, deren Angehörige und besonders verdiente Bürger nach einem „regelrechten reichsstädtischen Staatsbegräbnis“ ihre letzte Ruhe fanden. Als Beispiel führte Sieber die Bestattungen von Daniel und Valentin Heider in Lindau an. Anschließend referierte MARC HÖCHNER (Bern) über die Eidgenossenschaft im Dreißigjährigen Krieg, die zwar im Vergleich zu anderen europäischen Ländern friedlich und neutral erschien, entlang der konfessionellen Trennlinien aber von Zeit zu Zeit unter inneren Auseinandersetzungen zu leiden hatte. Dabei lief die Eidgenossenschaft immer wieder Gefahr, in den Dreißigjährigen Krieg hineingezogen und zum Schlachtfeld auswärtiger Mächte zu werden. Höchner verwies in diesem Zusammenhang besonders auf bedeutsame lokale Krisenereignisse wie den Matrimonial- und Kollaturstreit (1630-1632), den Kluserhandel (1632-1633) und den Kesselringhandel (1633-1635).

Die letzte Sektion war der Rezeptionsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges gewidmet. MIRIAM RÉGERAT (Tübingen) eröffnete sie mit einem Vortrag über die historiographiegeschichtliche Wahrnehmung der „Journée des Dupes“ in Frankreich, die im November 1630 die Entscheidung für den Kriegseintritt Frankreichs in den Dreißigjährigen Krieg brachte. Nach einer Schilderung der lückenhaften und problematischen Überlieferung durch die Zeitgenossen des Geschehens zeigte Régerat typische Mechanismen der nationalen Meistererzählungen des 19. Jahrhunderts auf, durch die dieser Sieg Richelieus über die Königinmutter, Maria von Medici, zu einem regelrechten Paradigmenwechsel hin zu einem stolzen und selbstbewussten Frankreich verklärt wurde. Anschließend beschrieb NINA FEHRLEN-WEISS (Tübingen) den etwa einhundert Jahre währenden Streit um ein Reiterdenkmal für den Feldherr Johann T’Serclaes von Tilly in Altötting, der 2005 mit der Errichtung des Standbildes endete. Dabei stand die Verbindung von bayerisch-nationalem und katholischem Gedenken in dieser konfessionell geprägten Verehrungskultur im Mittelpunkt. Die Brüche in der Rezeption Tillys und die Umdeutung seiner Person über die politischen Wechsel des 20. Jahrhunderts hinweg fanden besondere Berücksichtigung. FRANK BRITSCHE (Leipzig) untersuchte die didaktische Aufbereitung des Dreißigjährigen Krieges in Schulbüchern von 1945 bis in die Gegenwart. Dabei diskutierte er inhaltliche und formale Einflüsse geschichtspolitisch motivierter Wandlungen in den Lehrbüchern der Bundesrepublik und der DDR. Im Zeichen des Kalten Krieges wurde der Dreißigjährige Krieg in den Lehrwerken jeweils aus nationalstaatlicher Perspektive gewertet, nach der Wiedervereinigung dann zunehmend als gesamteuropäisches Ereignis. MARKUS MEUMANN (Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt, Gotha) beschäftigte sich schließlich mit der Darstellung des Dreißigjährigen Krieges im Internet. Er zeigte auf, dass es bislang hierzu nur vergleichsweise wenig wissenschaftliche Angebote gäbe und diese zudem (wie auch die Homepages von Museen und zu Ausstellungen) statisch bzw. abgeschlossen seien, es also an einem dynamischen und aktuellen Portal bislang mangele. Vor diesem Hintergrund stellte Meumann die von ihm betreute Plattform „Dreißigjähriger Krieg online“1 vor und warb um Mitarbeit, vor allem von Seiten der Nachwuchshistorikerinnen und -historiker.

Die Erkenntnisse des Workshops erwiesen erneut die Fruchtbarkeit des erfahrungs- und wahrnehmungsgeschichtlichen Ansatzes in Bezug auf vormoderne Kriege. Als besonders ergiebig stellte sich dabei der internationale Austausch zwischen Doktorandinnen und Doktoranden aus Deutschland, Ungarn und der Schweiz heraus, der Einblicke in unterschiedliche, national bedingte Forschungsansätze und -perspektiven bot.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Kriegswahrnehmung im Heer
Moderation: Anton Schindling

Steffen Leins: Kriegswahrnehmungen des Militärunternehmers und Offiziers Peter Melander von Holzappel zwischen bewaffneter Neutralität, Reichspatriotismus und bellizistischer Rhetorik, 1635–1648
Jens Friedrich: Hans Ulrich Schaffgotsch (1595–1635): Ein adliger schlesischer Offizier im Dienste Wallensteins
Oleg Rusakovskiy: „Soldat aus dem Weg“: Die Integration von Militärangehörigen in die Zivilgesellschaft nach dem Westfälischen Frieden. Ein lokales Beispiel
Zoltán Borbély: Aufstand oder Freiheitskampf? Einige Bemerkungen zum gesellschaftlichen Hintergrund der Bewegung von István Bocskai

Abendvortrag von Maik Reichel: Lützen 1632 - Tod eines Königs. Die Kraft einer Erinnerung

Sektion 2: Krieg und Kriegswahrnehmung in der Stadt und auf dem Land
Moderation: Matthias Asche

Susanne Häcker: Studieren im Krieg: Der Alltag Tübinger, Freiburger und Heidelberger Universitätsangehöriger während des Dreißigjährigen Krieges
Thorsten Busch: Stadt, Krieg, Pest: Ein bislang weithin unterschätzter Zusammenhang in der europäischen Geschichte des 17. Jahrhunderts
András Péter Szabó: Ein verschonter Schauplatz des Krieges: Der Lange Türkenkrieg und der Dreißigjährige Krieg in den Zipser Chroniken

Sektion 3: Religion und Konfession im Krieg
Moderation: Márta Fata

Emese Tömösvári: Ein „anonymer“ Ratschlag von Miklós Esterházy an die ungarische Nation zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges
Kristóf Szuromi: Das Türkenbild in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges
Dominik Sieber: „[...] und wurde mit gebührenden Ceremonien in der Pfarrkirche im Chor beygesetzt“: Sepulkrale Memoria des Dreißigjährigen Krieges in den oberschwäbischen Reichsstädten
Marc Höchner: Paradies mit Rissen: Die Eidgenossenschaft und der Dreißigjährigen Krieg

Sektion 4: Erinnerung an die Kriege des 17. Jahrhunderts heute
Moderation: Joachim Knape

Miriam Régerat: „La journée des Dupes“: Der Eintritt Frankreichs in den Dreißigjährigen Krieg im Spiegel der französischen Geschichtsschreibung
Nina Fehrlen-Weiss: „O Tilly, leicht hast Du es nicht, zu der Ehre zu kommen, die Dir schon lange gebührt!“: Der steinige Weg zum Denkmal für einen katholischen Kriegshelden in Altötting
Frank Britsche: Schulgeschichtsbücher im Spannungsfeld von Wissensvermittlung und Politik – Der Dreißigjährige Krieg in deutsch-deutschen Lehrwerken von 1945 bis heute
Markus Meumann: Der Dreißigjährige Krieg im Internet

Anmerkung:
1 Vgl. <http://www.amg-fnz.de/dko> (19.03.2014).


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