"Imperiale Emotionen" Zur Konzeptualisierung ost-westlicher Affektkulturen angesichts der Ukraine-Krise

"Imperiale Emotionen" Zur Konzeptualisierung ost-westlicher Affektkulturen angesichts der Ukraine-Krise

Organisatoren
Sebastian Cwiklinski / Matthias Schwartz, Zentrum für Literatur und Kulturforschung Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.12.2014 - 06.12.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Michael Jochem/Maria Rajer, Institut für Slawistik, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Aufstand des „Euromaidan“, die russische Annexion der Krim sowie der Krieg im Osten der Ukraine waren Anlass des Workshops, der zur Reflexion ost-westlicher Affektkulturen aus kultur- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive sowie des eigenen methodischen und begrifflichen Instrumentariums eingeladen hatte. Die Gründe für die teils von starken Emotionen geprägten, teils höchst ambivalenten Polarisierungen wurden auf dem Workshop anhand von unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren vornehmlich aus der Ukraine diskutiert.

In seiner Einführung zum Workshop rekapitulierte MATTHIAS SCHWARTZ (Berlin) die unterschiedlichen Zugänge, mit denen die postsozialistischen Gesellschaften und heterogenen kulturellen Zugehörigkeiten Osteuropas im Fall der Ukraine konzeptualisiert worden sind und wie diese Konzepte auch die gegenwärtigen Auseinandersetzungen prägen. ANDRIJ PORTNOV (Berlin) befasste sich in seinem anschließenden Vortag mit der Idee von den „zwei Ukrainen“, die vor dem Hintergrund des Krieges im Donbass zunehmend in den Vordergrund trete. Dieser Idee lägen zwei geografische und kulturelle Entitäten zugrunde, wobei die Ostukraine im Zuge einer „inneren Orientalisierung“ als sowjetisiert gedacht würde, während man die Westukraine hingegen als in der positiv konnotierten Tradition des Habsburger Reiches stehend aufwerte. Letztere Tendenz fasste Portnov unter dem von ihm geprägten Begriff des „Galizischen Reduktionismus“ zusammen, der durchaus auch Bestrebungen zur Trennung der Westukraine vom östlichen Teil des Landes beinhalte.

Auch TATJANA HOFMANN (Zürich) beschäftigte sich in ihrem Betrag mit der imaginierten Teilung der Ukraine und machte diese anhand dreier Werke der Gegenwartsliteratur deutlich, die publizistisch bzw. literarisch unterschiedliche Strategien zur identitären Verortung der Ukraine entwickeln. An dem Essay „Die reale und imaginierte Ukraine“ von Mykola Rjabčuk zeigte sie einen geschichtspolitischen Dualismus auf, den sie ähnlich bei Jurij Andruchovyč in Form einer seinen Texten inhärenten Kulturenhierarchie ausmachte. Als drittes Beispiel führte sie die Romane Oksana Zabužkos an, welche laut Hofmann an das sozrealistische Narrativ der Frau als Märtyrerin und Erretterin der Nation anknüpft.

ROMAN DUBASEVYCH (Wien) ging der These nach, dass der ukrainischen Erinnerungspolitik der letzten zwölf Jahre ein Kanon zugrunde liege, der die gegenwärtige Gewalteskalation in der Ukraine begünstigte, da in dessen Zentrum die kompromisslose Freiheitsliebe der Kosaken, der nationalistischen UPA-Armee sowie die Idee einer nationalen „Wiedergeburt“ stehen. Anhand von popkulturellen und journalistischen Beispielen verdeutlichte Dubasevych die Bezugnahme auf diesen Erinnerungskanon, der im gegenwärtigen Diskurs beispielsweise von der Rockband „Tartak“ aktualisiert wird, indem sie sich mit Bezug auf den Krieg im Osten der Ukraine der Symbolik der UPA-Armee bedient.

SABINE VON LÖWIS (Berlin) eröffnete das erste Panel am zweiten Konferenztag zur Interferenz zwischen Trauer und Topographie mit Blick auf deren identitätsstiftende Funktion. In ihrem Vortrag ging sie der Frage nach, wie das im Forschungsprojekt „Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa“ geprägte Konzept der Phantomgrenze zum Verständnis verräumlichter Identifikationen beitragen kann. Dieses geht von der Hypothese aus, dass ehemals existierende politisch-administrative Grenzen in heutigen Infrastrukturen, Repräsentationen und Imaginationen als Phantomgrenzen weiterhin Bestand haben. Am Fallbeispiel ihrer eigenen Feldforschung in einer Kleinstadt in dem ehemaligen Grenzgebiet zwischen dem Russischen und Habsburger Reich zeigte sie anhand von Bauwerken, symbolischen Orten, sozialem Verhalten, kultureller Repräsentation und vorherrschenden Diskursen, dass solche ehemals russisch-österreichischen bzw. bis 1939 sowjetisch-polnischen Trennungslinien durchaus noch auffindbar sind. Gleichzeitig stellte sie unter anderem anhand von noch erhaltenen sowjetischen Monumenten und neu errichteten Bandera-Denkmälern heraus, dass deren Symboliken nur scheinbar eindeutige Identifikationen erzeugen, sondern vielmehr durch ambivalente lokale und private Erfahrungen der Menschen geprägt sind, die nur bedingt eine gesamtukrainische kollektive Identifikation erkennen lassen.

Einen anderen Fall lokaler Identitätsbildung untersuchte SEBASTIAN CWIKLINSKI (Berlin), der in seinem Beitrag das gemeinschaftsstiftende Moment der Deportation in der Erinnerung der Krimtataren vor dem Hintergrund des 70. Jahrestages ihrer Deportation nach Mittelasien diskutierte. Dieses Gedenken war insofern von erhöhter politischer Brisanz, da es nur wenige Wochen nach der Annexion der Krim durch die Russische Föderation im März 2014 stattfand, was sich auch in den Stellungsnahmen der neu eingesetzten politischen Vertreter und deren Versuch äußerte, einen geplanten Trauerumzug gänzlich zu verbieten. Dem sich in diesem Vorgehen äußernden Generalverdacht der Illoyalität der Krimtataren gegenüber den neuen Machthabern stand das Verhalten der Betroffenen entgegen, in deren Gedenkveranstaltungen vielmehr die persönliche Trauer und Formen des Reenactments der traumatischen Deportationserfahrungen dominierten, wohingegen der Kampf für die nationalen Rechte der Krimtataren während des Jahrestags eine eher untergeordnete Rolle spielte.

Das letzte Panel des Workshops war den postutopischen Imaginationen und den darin wirksamen literarischen Mythifizierungen und Rekodierungen des Imperialen gewidmet, denen in zwei Beiträgen zu ukrainischer russischsprachiger wie russischer Literatur nachgegangen wurde. NINA WELLER (Berlin) untersuchte in ihrem Vortrag die Aktualisierungen des imperialen Mythos in der russischen Gegenwartsliteratur und eine damit einhergehende Politisierung des literarischen Feldes. Diese äußert sich Weller zufolge in einem Boom an (anti-)utopischen Entwürfen, die nicht zuletzt geprägt sind von nationalistischen und imperialen Diskursen. So legte Weller ihren Fokus auf Michail Jur’evs „Das dritte Imperium. Russland wie es sein soll“ und betonte die russisch-nationalimperiale Weltsicht, die Jur’ev in diesem Roman entfaltet. Gerade angesichts des Krieges im Osten der Ukraine habe dieses Buch, so Weller, über den Kampf zwischen einem amerikanischen Westen und einem russischen Osten ungeahnte Aktualität bekommen, proklamiert Jur’ev doch die russisch-orthodoxe Leitkultur auch für das ukrainische Staatsgebiet.

Anschließend beleuchtete SUSANNE FRANK (Berlin) in ihrem Vortrag die Reaktionen der russischsprachigen ukrainischen Lyrik auf die politische Krise. Dabei thematisierte sie insbesondere die Affektbeladenheit der russischen Sprache sowie von Sprache als solcher als einem zentralen Moment nationaler Identifikation. Sie verdeutlichte die Bedeutung des Russischen als Lingua Franca in der Sowjetunion, indem sie auf die besonders ausgeprägte Übersetzungskultur und das vorherrschende Konzept einer transnationalen literarischen Einheit verwies, um sich anschließend der Frage zu widmen, warum viele Autoren der ehemaligen Sowjetunion auch noch nach deren Zerfall auf Russisch schrieben. An ausgewählten Beispielen usbekischer, georgischer, belarussischer und ukrainischer Autoren zeigte sie die große Vielfalt möglicher Beweggründe auf. So würde das Russische als Zugang zur europäischen Moderne oder als Möglichkeit der kritischen Distanzierung von der eigenen Kultur genutzt. Die Sprachwahl zugunsten der Russischen müsse demnach keinesfalls Sowjetnostalgie bedeuten, sondern könne vielmehr auch eine Partizipation an der „großen“ russischen Literatur und eine Möglichkeit der Einschreibung in diese darstellen. Ebenso könne die Wahl der Sprache in Ländern wie der Ukraine – deren Sprachsituation per se eine der Bilingualität ist – aber auch ihre rein pragmatischen Gründe im Literaturbetrieb haben. Im Fall der Ukraine sei besonders auffällig, dass sich die Autoren in ihrer politischen Einstellung nicht anhand der Sprache, in der sie schreiben, unterscheiden ließen. Nichtsdestoweniger zwinge die Benutzung der russischen Sprache die Autoren zur Reflexion hinsichtlich der Bilingualität, der kulturellen Zugehörigkeit und des nationalen Selbstverständnisses.

In seinem Schlusskommentar zur Tagung fasste ZAAL ANDRONISHKAVILI (Berlin) noch einmal sehr differenziert die unterschiedlichen Zugänge und Beobachtungen des Workshops zusammen und stellte einige weiterführende Überlegungen zu imperialen Positionen Russlands im postsowjetischen Raum an. Diese leiteten über in die Abschlussdiskussion, in der auch die Rolle von Wissenschaftlern im öffentlichen Diskurs, der problematische Umgang mit dem Konflikt in Deutschland sowie die Möglichkeiten und Grenzen kulturwissenschaftlicher Intervention zur Sprache gebracht wurden.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Postimperiale Kulturmodelle: Affekte und Konflikte

Matthias Schwartz (Berlin), Einführung “Imperiale Emotionen”

Andrij Portnov (Berlin), Galician Reductionism, or Inner Orientalism of the Ukrainian pro-European Intellectual Discourse

Panel 2: Postkoloniale Zugehörigkeiten: Phantasmen und Obsessionen

Tatjana Hofmann (Zürich), Cultural Cringe. Postkoloniale Strategien essentialisierender Identitätsstiftung

Roman Dubasevych (Wien), Helden sterben nicht oder Schlafwandeln in einen Zusammenprall der Zivilisationen

Panel 3 Identitäre Phantomschmerzen: Trauer und Topographie

Sabine von Löwis (Berlin), Hybride Raumproduktionen: Phantomgrenzen als Konzept zur Erklärung ambivalenter Identifikationsräume in der Ukraine

Sebastian Cwiklinski (Berlin), Trauer und Reenactment: Die Erinnerung an die Deportation der Krimtataren als gemeinschaftsstiftendes Moment

Panel 4: Postutopische Imaginationen: Mythifizierung und Rekodierung

Nina Weller (Berlin), Fantastische Grenzerkundungen des (neo)imperialen Mythos in russischer Gegenwartsliteratur

Susanne Frank (Berlin), Reaktionen der russischsprachigen ukrainischen Lyrik auf die politische Krise

Abschlussdiskussion
Kommentar: Zaal Andronikashvili (Berlin)


Redaktion
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