HT 2014: Verlorenes und Gewonnenes. Geschlechterverhältnisse und der Wandel des Politischen in der ‚langen Geschichte der Wende’ in Ostdeutschland 1980 bis 2000

HT 2014: Verlorenes und Gewonnenes. Geschlechterverhältnisse und der Wandel des Politischen in der ‚langen Geschichte der Wende’ in Ostdeutschland 1980 bis 2000

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
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Von
Thomas Kasper, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„Lieschen Müller wird politisch“. Unter diesem gendergeschichtlichen Slogan wurde bereits 2007 in München über die politische Partizipation von Frauen im 20. Jahrhundert diskutiert, ihre Rolle im Realsozialismus der DDR dabei aber weitestgehend ausgespart. Zum Abschluss des 50. Deutschen Historikertages wurde versucht, diese Leerstelle zu füllen. Der Idee einer „langen Geschichte der Wende“ folgend, sollten die gesellschaftlichen Transformationsdynamiken der Wiedervereinigung betrachtet und nach Kontinuitäten, Ursprüngen oder langfristigen Prozessen bis zur Jahrtausendwende gefragt werden. Dabei betrachtete das Panel „Verlorenes und Gewonnenes. Geschlechterverhältnisse und der Wandel des Politischen in der ‚langen Geschichte der Wende’ in Ostdeutschland 1980 bis 2000“ die Systemtransformation aus längerfristiger geschlechtergeschichtlicher Perspektive und zwei Fragerichtungen: welche Rolle Geschlechterverhältnisse im Umbruch spielten und welche Wirkung dieser Umbruch im Gegenzug auf Geschlechterverhältnisse hatte.

Zu Beginn legte ANNETTE LEO (Jena) dar, wie die „Wunschkindpille“ seit 1965 als Teil der SED-Familienpolitik deren Essenz widerspiegelte: die Befähigung der Frauen, ihre familiären und beruflichen Pflichten zu vereinbaren. An Entwicklung und Einführung dieser hormonellen Verhütungsmethode waren unterschiedliche Akteure aus Medizin, Politik und Gesellschaft mit unterschiedlichen Motivationen beteiligt. Unterschiedlich waren aber auch die Erfahrungen, die ostdeutsche Frauen mit der „Pille“ verbanden. Leo führte dazu mit ihrem Kollegen Christian König mehr als 50 qualitative Interviews mit drei verschiedenen Altersgruppen von Frauen, die einen jeweils anderen lebensgeschichtlichen Zugang zu dem Hormonpräparat hatten. In ihrem Vortrag konzentrierte sie sich auf die Generation der „Babyboomerinnen“, also jene Frauen, die zwischen 1962 und 1965 geboren wurden und mit der „Wunschkindpille“ in Berührung kamen, als diese längst im DDR-Alltag angekommen war. Dabei bescheinigt LEO diesen Frauen fast durchweg „Stehaufmännchen“-Qualitäten, die sie in Zeiten radikaler Veränderungen, angesichts des Verlustes gewohnter Sicherheiten und des Erlebens zahlreicher Rückschläge an den Tag legten. Nachdem für viele die Folgen der Wiedervereinigung mit beruflichen Rückschlägen verbunden waren, wendeten sie große Energie für berufliche Neuanfänge auf, da sie im wiedervereinigten Deutschland mit Ängsten konfrontiert wurden, die der DDR-Sozialstaat bisher weitestgehend aufgefangen hatte. Ein weiteres Motiv dürfte allerdings der Wille, den einmal erworbenen Platz in der Arbeitswelt zu behaupten und damit auch das Selbstverständnis als berufstätige Frau an sich, gewesen sein. Bemerkenswert laut Leo ist auch die Tatsache, dass es den Frauen unabhängig von der Mutterschaft vielmehr um ihr kulturelles Kapital, ihren Bildungsgrad und die im Berufsleben erworbenen Kompetenzen ging.

Kontrastiert wurden die Ausführungen zur „Wunschkindpille“ durch MICHAEL SCHWARTZ (Berlin / München), der über die Abtreibungspolitiken in beiden deutschen Teilstaaten sowie im wiedervereinigten Deutschland referierte. Dabei führte er die weitreichenden, das Abtreibungsrecht regelnden deutsch-deutschen Reformpolitiken der 1970er-Jahre auf konvergente systemübergreifende Strukturveränderungen zurück, die von sozioökonomischen Transformationen bis zum kulturellen Wertewandel reichten. Zudem habe in beiden deutschen Gesellschaften ein wachsender Reformdruck sowohl von unten als auch von außen eine tragende Rolle gespielt. So habe sich die DDR laut Gesundheitsminister Max Sefrin dem Verfahren in den anderen Volksdemokratien anschließen müssen, wo eine legale Schwangerschaftsunterbrechung längst liberalisiert sei. Den Reformdruck „von unten“ sieht Schwartz dabei maßgeblich mit dem wachsenden politischen Einfluss der Frauen in beiden deutschen Staaten verbunden. 1971 sorgten 374 Frauen mit ihrem öffentlichkeitswirksamen Bekenntnis „Wir haben Abgetrieben“ in der Bundesrepublik für Aufmerksamkeit und vielfältige, oftmals schrille Aktionen einer links-emanzipierten Frauenbewegung stärkten auch gemäßigte Reformbefürworter/innen im parlamentarischen Spektrum und fanden ein breites, weitestgehend positives Medienecho. Auch in der DDR entstand der Reformdruck durch jüngere Funktionärinnen und selbstbewusster werdende Frauen. Gleichzeitig mobilisierten die Debatten um den Schwangerschaftsabbruch auch religiös gebundene Menschen in Ost und West, die jedoch ebenfalls ein recht heterogenes Meinungsbild zeigten. Gerade während des Vereinigungsprozesses spitzten sich die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Konfliktlinien zu und besonders auf protestantischer Seite wurden der Ost-West-Gegensatz deutlich sichtbar: während die westdeutsche evangelische Kirche nicht ihre ostdeutschen Glaubensbrüder, sondern vielmehr die bundesdeutschen Katholiken zum Schulterschluss suchte und eine Beratungspflicht für eine künftige gesetzliche Neuregelung forderte, sprach sich der DDR-Kirchenbund gegen eine Strafverfolgung betroffener Frauen aus. Im Rahmen der Wiedervereinigung trafen somit zwei gegensätzliche Praktiken des Umgangs mit Abtreibung aufeinander, da sie in der DDR legale Praxis war. Trotz aller religiösen Implikationen war der „Kulturkampf“ der zwischen 1990 und 1992 in Sachen Schwangerschaftsabbruch ausgetragen wurde allerdings vor allem ein Kampf der Frauen in der Politik, deren Einfluss Schwartz als Indikator für die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in Deutschland sieht – die sich allerdings nicht nur mit dem Ost-West-Gegensatz erklären lassen.

Einen Ost-West-Gegensatz macht auch ANJA SCHRÖTER (Potsdam) beim Ehescheidungsverhalten in der Systemtransformation aus, die einen Blick auf die von einer hohen Scheidungsrate geprägte DDR-Gesellschaft wirft, welche im Zuge der Wiedervereinigung auf „fremde“ Normen und Strukturen des bundesdeutschen Rechts- und Gerichtssystem traf. Das Selbstbewusstsein, das DDR-Frauen durch die auf Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausgerichtete Politik und sozioökonomische Unabhängigkeit entwickelt hatten, – eine Art „innere Emanzipation“ – spiegelte sich auch im Scheidungsverhalten wider: da Frauen auch ohne Partner ökonomisch unabhängig und sozial abgesichert agieren konnten, war die Auflösung der Ehe nicht in dem Maße an den Versorgungsgedanken gekoppelt, wie dies in der Bundesrepublik der Fall war. Während die Einmischung des gesellschaftlichen Umfeldes bereits seit den 1970er-Jahren weniger Akzeptanz bei den Bürgern fand, zeichnete sich in den 1980er-Jahren eine deutliche Veränderung in der Verhandlungspraxis ab. Sowohl Scheidungswillige als auch Richter zeigten eine geringere Bereitschaft zu ausgedehnten Verhandlungen und Diskussionen über die private Beziehung. Die Richterinnen und Richter verkürzten die Verhandlungen zunehmend. Schröter macht daran auch einen Mentalitätswandel der Juristen fest, der schließlich in den Forderungen der Rechtswissenschaften nach einem vereinfachten Procedere kulminierte. Mit der Wiedervereinigung sahen sich ostdeutsche Scheidungswillige erneut mit einem neuen Rechtssystem konfrontiert, deren Fokus im Scheidungsrecht allerdings nicht mehr auf Verlauf und Sinnverlust der Ehe selbst, sondern auf den Scheidungsfolgen lag. So hat in der DDR der Ehegattenunterhalt nur in Ausnahmefällen eine Rolle gespielt, da er aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen nur selten relevant war. Im Rechtssystem der Bundesrepublik sollte hingegen auch die nicht voll erwerbstätige Frau ihren Lebensstandard nach der Scheidung aufrechterhalten können, so dass Ehegattenunterhalt zu den gängigen Regelungstatbeständen zählte. Im Zuge der gesamtdeutschen Transformationsprozesse stieß der westdeutsche Scheidungshabitus auf das ausgeprägte und von Selbstbestimmtheit gekennzeichnete Selbstverständnis der DDR-Bürgerinnen, woraus sich bei der Anwendung des nachehelichen Unterhalts eine spezifische Praxis im ostdeutschen Rechtsalltag der 1990er-Jahre ergab. Dass nur in den wenigsten Fällen ein Anspruch auf Zahlungen des Ex-Partners erhoben wurde, lässt sich laut Schröter auf drei Faktoren zurückführen: So machte in der DDR die sozioökonomische Absicherung von Frauen das Versorgermodell obsolet. Gleichzeitig setzte das Recht enge Grenzen, um nachehelichen Unterhalt überhaupt durchzusetzen. Schließlich führte die „innere Emanzipation“ zu einem Selbstverständnis, welches von finanzieller Unabhängigkeit und Gleichberechtigung geprägt war und somit keine Gedankenspiele über Unterhaltszahlungen zuließ. Auch in Zeiten wirtschaftlicher Anspannung zeigten Frauen wenig Bereitschaft, diesen Habitus abzulegen – obwohl die nacheheliche Versorgung in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre durchaus zugenommen hat, bleibt die geringe Bedeutung des Ehegattenunterhalts in Ostdeutschland auffällig.

Zum Abschluss der Vorträge versuchte JENS GIESEKE (Potsdam) Geschlechterverhältnisse und die nicht-öffentliche ostdeutsche Volksmeinung zu rekonstruieren und danach zu fragen, was man über die Politisierung breiter Gesellschaftsschichten in den 1980er-Jahren erfahren kann. Grundlage dafür sind die Daten langfristig angelegter Infratest-Studien, die von 1968 bis 1989 westdeutsche Besucher zu den Ansichten in der DDR befragten. Daraus leitet Gieseke für die 1970er- und 1980er-Jahre zwei zentrale Trends ab. Zum einen fände man die geradezu klassische Geschlechterdifferenz, wie man sie auch aus anderen Gesellschaften kenne: So lägen die Männerwerte in Bezug auf das Interesse an politischen Ereignissen und dem „öffentlichen Leben“ stets ca. 20 Prozent über denen der Frauen. Zum zweiten, und dies ist der beachtenswerteste Befund, lässt sich trotz dieses „Gender-Gap“ ein zunehmendes Politikinteresse bei Männern und Frauen, wenn auch mit einigen Schwankungen, ausmachen. Von 1980 bis 1989 stieg sowohl bei Männern als auch bei Frauen das Interesse an Politik kontinuierlich, so dass im Jahr des Mauerfalls bei 45 Prozent ein starkes oder ziemlich starkes Interesse konstatiert werden konnte. Die Detailuntersuchungen zeigen allerdings auch, dass eben auch soziodemographische Faktoren wie Alter, Bildung oder Beruf ausschlaggebend für das Politikinteresse waren.

Während unklar ist, welche Art der Partizipation genau unter „politisch“ verstanden werden soll, zeigt sich, dass „Politik“ im engeren Sinne eher eine Sache von Männern als von Frauen, sowie von jüngeren und gebildeteren DDR-Bürgerinnern und Bürgern war. Zudem verband sie ein stark ausgeprägtes, nur scheinbar „unpolitisches“ Interesse an den als wesentlich relevanter als Ideologiefragen verstandenen Lebensverhältnissen der Bundesrepublik. Die Frauen der DDR, so konstatiert Gieseke, nahmen sich die Freiheit, während der Umbruchsphase begrenzt politisch aktiv zu werden und sich danach relativ schnell auf ein Repräsentationsmodell durch (vorwiegend) ältere Männer zu verlassen.

In ihren Kommentar lobte GUNILLA-FRIEDERIKE BUDDE (Oldenburg) die vier Beiträge, die gut gelungen seien, deutlich differenzierten und nach Ähnlichkeiten und Unterschieden der Frauen, den „Besten der DDR“, wie der Stern in den 1970ern titelte, vor und nach der Wende fragten. Sie unterstrich das Selbstbewusstsein und die empfundene Gleichberechtigung der weiblichen Bürger im Realsozialismus, denen viele Frauen der Bundesrepublik wegen dieser Einigkeit von Erwerbstätigkeit und Eigenständigkeit „neidische Blicke über die Mauer“ zuwarfen. Der von Jens Gieseke behandelten Frage nach der „Entstehung des Politischen“ in der DDR beschied sie spannende Befunde und sah einige Parallelen zu Westdeutschland, mahnte aber zugleich zu einer ausgiebigen Quellenkritik der angeführten Infratest-Studien, deren Ergebnisse differenziert betrachtet werden müssten. Zudem stellte sie die Frage, was „politisch“ genau bedeute, gerade in einer Zeit, in der man politisch eben keine Wahl hatte. Hier zog sie den Vergleich zu Angela Merkel, deren politisches Interesse wohl auch erst in den 1980er-Jahren erwachte, also in einer Zeit, in der politische Partizipation erstmals möglich schien. Es wäre nur logisch, dass Wandel in Denkmustern und -strukturen zu einem verstärkten politischen Interesse führe. Auch in den Diskussionen um die „Pille“ sah Budde Parallelen zwischen den Gesellschaften. So würde man in der Bundesrepublik ähnliche Ergebnisse bei den Befragungen erhalten, allerdings sei dort die Erwerbstätigkeit vom Kinderwusch eher abgekoppelt gewesen, aber die „Befreiungsaussagen“ und der sexuelle Druck seien auch bei bundesdeutschen Frauen nachweisbar. Den Beitrag von Michael Schwartz hebt sie vor allem wegen seiner dichten Beschreibung der Diskrepanzen hervor, der aber auch die starke Rolle der Kirchen innerhalb der gesamtdeutschen Diskurse unterstreicht – gerade in der vermeintlich säkularen DDR. Innerhalb der „bizarren Ökumene“ der Kirchen in Ost und West hätten sich die Debatten erstaunlich offen abgespielt. Der Blick auf die Kirchen böte hierbei eine neue Perspektive, allerdings dürfte der Einfluss von Medizinerinnen, allen voran der Gynäkologie, nicht unterschätzt werden. Eindeutige Unterschiede zwischen den beiden deutschen Gesellschaftsformen macht sie vor allem beim Scheidungsrecht aus, da die Ehe in der DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik weniger an den Versorgungsgedanken gekoppelt war. Zudem lobte sie den Zugang, der lange Zeit eine Leerstelle in der deutsch-deutschen Zeitgeschichtsforschung dargestellt hätte. Der rege Verzicht auf Unterhaltszahlungen sei beeindruckend. Schlussendlich hob sie positiv hervor, dass die Geschlechtergeschichte zumindest zum Ende des 50. Historikertags thematisiert wurde – vor allem für die Panels zu den 1970er- und 1980er-Jahren fand sie sonst wenig Berücksichtigung.

In der anschließenden Diskussion wurde unter anderem auf die in diesem Panel ausgesparte Männerperspektive Bezug genommen. So wäre diese gerade in Bezug auf Abtreibungs- und Scheidungspraktiken ein lohnenswerter Untersuchungsgegenstand, da sich nicht nur die Frage nach dem Sorgerecht und eventuellen Unterhaltszahlungen für die Kinder, sondern auch nach dem männlichen Standpunkt zur Verhütung und einem eventuellen Paradigmenwechsel nach der Wiedervereinigung aufdrängen. So sah sich deren Einstellung, durch Möglichkeiten der Verhütung und Abtreibung frei von ihrer eigenen Verantwortung zu sein, gerade von konservativer Seite mit der Kritik konfrontiert, die Frauen und Mütter alleine zu lassen. Schließlich sei das väterliche Sorgerecht erst im Verlauf der 1990er-Jahre zunehmend verbreitet, während bis dato Scheidungskinder fast ausschließlich in mütterlicher Obhut waren.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Jens Gieseke (Potsdam)

Jens Gieseke (Potsdam): Das Politische und das Private. Politische Partizipation als Geschlechterfrage. Vor, in und nach der Revolution von 1989

Annette Leo (Jena) / Christian König (Jena): Von der Wunschkindpille zum demografischen Knick. Verhütung und Bevölkerungspolitik

Michael Schwarz (München / Berlin): Zwei deutsche Abtreibungspolitiken und das vereinigte Deutschland

Anja Schröter (Potsdam): Die Liebe, das Geld und das Recht. Ehescheidungsverhalten in der Systemtransformation

Gunilla-Friederike Budde (Oldenburg): Kommentar


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