Transferprozesse propositionalen und nicht-propositionalen Wissens in der Antike: Theorie – Übung – Praxis

Transferprozesse propositionalen und nicht-propositionalen Wissens in der Antike: Theorie – Übung – Praxis

Organisatoren
Almut-Barbara Renger / Alessandro Stavru, Forschungsprojekt C02 „Askese in Bewegung. Formen und Transfer von Übungswissen in Antike und Spätantike“, Sonderforschungsbereich (SFB) 980 „Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit“, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.06.2015 -
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Von
Nicola Nicodemo, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin; Alessandro Stavru, Institut für Religionswissenschaft / Sonderforschungsbereich (SFB) 980 „Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit“, Freie Universität Berlin

Der Workshop brachte am 18. Juni 2015 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Philosophie und Geisteswissenschaften, Kultur- und Geschichtswissenschaften zusammen. In einem Einleitungsvortrag zeichnete Günter Abel den theoretischen Rahmen einer Topologie der Wissensformen vor. In fünf daran anschließenden Einzelvorträgen wurde dieser theoretische Zusammenhang anhand von konkreten Beispielen aus der griechischen Antike thematisch erläutert.

Im Zentrum des Workshops standen Gilbert Ryles Unterscheidung zwischen propositionalem Knowing-That und nicht-propositionalem Knowing-How sowie die wechselseitigen Beziehungen zwischen diesen beiden Wissensformen. Ziel war es aufzuzeigen, inwiefern jedem Wissen ein Können vorausgeht und Wissensbestände mit normativ-präskriptiver Funktion (wie zum Beispiel Gesetze und Konventionen) einer praxisimmanenten Fähigkeit bedürfen, Regeln zu befolgen (wie zum Beispiel beim Sprechen, Denken und Handeln). Auch sollte ermittelt werden, inwiefern jede praktische Fähigkeit auf einer Einübung von Wahrnehmungs- und Handlungsmustern beruht, die mit vorbegrifflichen, vortheoretischen und vorpropositionalen Erkenntnisprozessen einhergeht.

Vor diesem theoretischen Hintergrund wurden Texte von Herodot, Platon, Xenophon, Oreibasios und Simplikios nach Transferprozessen zwischen propositionalen und nicht-propositionalen Wissensformen befragt. Dabei richtete sich das Augenmerk auf antike Auffassungen von Theorie, Übung und Praxis, die ineinanderwirken und sich wechselseitig bedingen, sowie auf den bei diesen Wechselbezügen wirksamen Wissenswandel. Dieser Wissenswandel wurde in seinen vielfältigen Ausprägungen systematisch und in chronologischer Reihenfolge untersucht – mit Blick auf die Frage, inwiefern Wissen an Übung und Übung an Wissen gebunden sind.

Im Eröffnungsvortrag führte GÜNTER ABEL (Berlin) systematisch in die verschiedenen Formen des Wissens ein. Dabei nahm er immer wieder, unter Anführung zahlreicher Beispiele, auf ihr Wechselspiel und die grundlegende Rolle einer Knowing-How-Praxis in Handlungs- und Erkenntnisprozessen Bezug, sowie auf die Vielfalt der Wissensformen (zum Beispiel alltägliches, künstlerisches, szientifisches Wissen) und deren Irreduzibilität. Er unterschied zwischen einem engeren Sinn von Wissen (d.h. einem theoretischen, propositionalen Wissen: Knowing-That) und einem weiteren Sinn von Wissen (dem prozeduralen und applikativen Wissen: Knowing-How). Da laut Abel das praktische Wissen einen dynamischen und prozessualen Charakter hat, rückte er insbesondere das Knowing-How in den Fokus und grenzte dieses von Knowledge-How und Know-How ab. Wenn Knowing-That (Wissen, dass) auf Wahrheitsbedingungen angewiesen ist, ist Knowing-How (Wissen, wie) an Erfüllungsbedingungen (an Erfolg oder Misserfolg in der Praxis) geknüpft. Es handelt sich hierbei um einen Prozess, der Vollzugscharakter hat und performativ gekennzeichnet ist. Knowing-How – als Wissen, wie man etwas macht, sich verhält oder handelt – umfasst Fertigkeiten und Fähigkeiten, die zum Erlernen solcher Fertigkeiten ausgebildet, trainiert und verbessert werden müssen. Diese befähigen zu einem Können, wonach sich Knowing-How als eine Praxis erweist, die eine ihr inhärente Regelhaftigkeit der Vollzüge besitzt und als Regelfolgen-Können angesehen wird. Unter Berufung auf Ludwig Wittgenstein vertrat Abel die These, dass wir in der gelingenden Praxis der Regel „blind“ folgen. Praktisches Regelfolgen bedürfe eines Könnens, das ohne propositionale Gründe und ohne ein a priori verfügbares und sprachlich formulierbares propositionales Wissen funktioniert. Vor diesem Hintergrund zeigte Abel die Relevanz und zentrale Stellung des Knowing-How in der Wissensforschung. Knowing-How ergebe sich als praktische Fähigkeit bzw. als ein prozedurales Wissen mit heuristischer Relevanz innerhalb eines komplexen und holistischen Gefüges, welches ein Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Wissensformen und -praktiken impliziert.

Die hieran anschließenden Vorträge zu konkreten Textbeispielen eröffnete GIANFRANCO CHIAI (Berlin) mit Ausführungen über propositionales und nicht-propositionales Wissen in den herodoteischen „Logoi“. Chiai ging von der These aus, dass sich der performative Charakter von nicht-propositionalem Wissen in einigen vieldiskutierten Passagen von Herodots „Historien“ nachweisen ließe. Als erstes analysierte Chiai das bekannte Experiment des Psammetichos (2,2), welches er als ein propositionell nicht formulierbares „phänomenales“ Wissen bezeichnete. Auch der Bericht, in dem Herodot erzählt, dass die Skythen die Sklaven, die für die Milcharbeiten zuständig waren, zu blenden pflegten (4,2,1), ließe sich als Beispiel eines propositional nicht fassbaren Wissens lesen. Schließlich untersuchte Chiai eine Stelle (2,38,1-39,1), in der ein ägyptisches Tieropfer-Ritual geschildert wird. Hier zeigte Chiai, dass in einem solchen Fall der Priester der einzige war, der über ein Wissen verfügte, das sowohl propositionaler als auch praktischer Natur war. Dieses Wissen besitzt nach Chiai alle Eigenschaften des Knowing How – war doch der Priester der einzige, der es anwenden konnte.

URSULA ZIEGLER (Berlin) setzte sich in ihrem Vortrag mit dem Verhältnis zwischen Übung, seelischer Haltung und Wissen bei Platon auseinander. Ziegler zeigte, dass sich Platons Übungsbegriff im Wesentlichen auf zwei Ebenen untersuchen lässt: auf einer konventionell-traditionellen sowie auf einer philosophischen Ebene. Um die erstere in ihrer Bedeutung zu erläutern, ging Ziegler vom „Phaidon“ aus, in dem sich Platon mit dem Problem der Unsterblichkeit der Seele auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang zeigt der platonische Sokrates, dass dem konventionellen Verständnis der traditionellen Tugenden (Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit, Frömmigkeit) die Vorstellung einer habituell-übenden Aneignung bestimmter Verhaltensweisen und Handlungsmuster zugrundeliegt. Ziegler ging auch auf das zweite und dritte Buch der „Politeia“ (vgl. 376c-412a) ein, in denen Platon sein Erziehungsprogramm der Wächter darlegt, und gelangte zu aufschlussreichen Einsichten über Platons Kritik am konventionellen Verständnis der Einübung von Tugend. Ziegler zeigte, wie in diesem Passus die Auffassung einer als Mimesis verstandenen Übung im Vordergrund stehe. Das übend-lernende Nachahmen stelle einerseits einen Prozess der Habitualisierung, andererseits eine Formung der Seele (plattetai) dar, bei der die musische Erziehung eine bedeutende Rolle spielt. Nachahmung erweise sich als eine begrenzte Praxis, die letztlich auf Anpassung ziele. Am Ende ihres Vortrags zeigte Ziegler, dass der Vollzug einer tugendhaften Lebensweise sich durch die Selbstsorge (epimeleia heautou) als einer Art von Selbstübung gestalte, nämlich als ein auf die Sorge um die Seele abgezielter reflexiver und selbstreflexiver Prozess.

Mit dem Nexus Übung-Tugend-Wissen setzte sich auch JOSEPH BARNES (Berlin) auseinander. Barnes fokussierte in seinen Ausführungen auf eine besondere Art praktischen Wissens, die im dritten Buch von Xenophons „Memorabilien“ erörtert wird: das technische Wissen eines Befehlshabers (besonders 3,3-4 und 4,2). Überraschend an Xenophons Ausführungen ist, dass ein solches Wissen nicht allein aus praxisbezogenen Einsichten besteht, sondern moralische Erkenntnisse voraussetzt (wie zum Beispiel die Fähigkeit, zwischen guten und schlechten Menschen zu unterscheiden, oder das eigene Heer glücklich zu machen, oder wiederum redegewandt zu sein). Barnes erklärte diesen Befund dadurch, dass nach Xenophon technisches Wissen die Kenntnis eines moralisch fundierten Guten voraussetzt. Der Erwerb eines solchen Guten sei mit dem Erwerb eines propositionalen Wissensbestandes, das heißt dem Wissen um das Gute und das Schlechte, verbunden. Der xenophontische Sokrates ist darum – so Barnes – sowohl ein Knowing-How- als auch ein Knowing-That-Intellektualist, da sein Wissen einerseits praktisch angelegt (das heißt immer konkret umsetzbar), andererseits aber auch propositional-verbal kommunikabel ist.

Auch CHRISTINE SALAZAR (Berlin) erörterte die Wechselbeziehung zwischen propositionalem und nichtpropositionalem Wissen. Sie widmete ihre Ausführungen zwei Schriften des spätantiken pergamenischen Arztes Oreibasios (4. Jahrhundert), in denen Ausführungen zu Gesundheitsübungen des berühmten Chirurgen Antyllos (3. Jahrhundert) wiedergegeben sind. Salazar zeigte, inwiefern diese praktischen Übungen mit medizinischen und physikalischen Erkenntnissen verbunden waren bzw. aus diesen größtenteils resultierten. Aus den Texten von Antyllos gehe nämlich hervor, dass diesen Übungen propositionale Wissensbestände zugrunde lagen (wie zum Beispiel Hippokrates’ Temperamentenlehre, Platons Auffassung der Seele sowie die stoische pneuma- und hyle-Lehren). Gesundheitsübungen seien deshalb sowohl mit nicht-propositionalen praktischen Betätigungen als auch mit einem Wissen von propositionalen und theoretisch begründeten Wissensbeständen verknüpft.

CHRISTIAN VOGEL (Berlin) erörterte den Zusammenhang zwischen praktischem Können und theoretischem Wissen in der Ethik des Neuplatonismus. Vogel hob die entscheidende Bedeutung der Praxis hervor, die im Simplikioskommentar zu Epiktets „Encheiridion“ exemplarisch zum Vorschein tritt. Simplikios räumt Epiktets Handbüchlein zur Moral einen positiven Platz im Curriculum des Philosophieunterrichts ein, weil es eine propädeutische Ethik zum Einstieg in die seelische Ausbildung und zur Verbesserung der Lebensqualität bietet. Zu seiner Verwirklichung muss der Mensch die Fähigkeiten seiner Seele auf verschiedenen Stufen, also in Bezug auf verschiedene Erkenntnisgegenstände sukzessive ausbauen und verbessern. Die stoische Ethik bildete die praktische Grundlage der anagogisch zur Erkenntnis führenden Methode des neuplatonischen Bildungsverständnisses. Durch Einübung einer ethischen Praxis wurde dem Schüler ein Meinungswissen vermittelt, das ihn in die Lage versetzte, sich von schädlichen Verhaltensgewohnheiten zu befreien und seine Seelenvermögen auszubilden. Die wissenschaftliche Begründungsdimension, die Simplikios in seinen ontologischen und anthropologischen Ausführungen erörtert, ermöglichen dem Schüler, vom „dass“ (hoti) der Meinung zum „warum“ (dioti) der Wissenschaft zu gelangen, also zu einem theoretisch fundierten Wissen. Das Meinungswissen bedarf jedoch des praktischen Vollzugs: es gibt den Anstoß zu einem „Wissen wie“ (Handlungswissen), dessen wiederholte Aktualisierung die seelische Disposition des Schülers verändert, indem die vorgegebene, bloß intuitiv vertraute Meinung verinnerlicht wird.

In der Abschlussdiskussion erläuterte Günter Abel seinen Begriff einer „Topologie des Wissens“ mit weiteren Beispielen. Er zeigte, inwiefern eine heuristische Auffassung von Wissen für die Wissensforschung produktiv gemacht werden kann, und ging auf das Primat der Praxis und des Knowing-How im Prozess des Learning-by-doing ein. Schließlich nahm er auf Fragen der Referenten und Referentinnen Bezug, wobei er mit Nachdruck die Unabdingbarkeit einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Formen des praktischen Wissens in der griechischen Antike hervorhob.

Konferenzübersicht:

A) Einführung in die Thematik
Günter Abel (Technische Universität Berlin): Formen des Wissens im Wechselspiel

B) Propositionales und nicht-propositionales Wissen in der Antike
Gianfranco Chiai (Akademie der Wissenschaften Berlin): Propositionales und nicht-propositionales Wissen in den herodoteischen Logoi

Ursula Ziegler (Freie Universität Berlin, SFB 980): Überlegungen zum Verhältnis von Übung, seelischer Haltung und Wissen bei Platon

Joseph Barnes (Humboldt Universität Berlin): Xenophon's Socrates on techne in Memorabilia III

Christine Salazar (Freie Universität Berlin, SFB 980): Oribasius on preserving one's health by exercising - how to do it and why it works

Christan Vogel (Freie Universität Berlin, SFB 980): Der Zusammenhang zwischen praktischem Können und theoretischem Wissen in der Ethik des Neuplatonismus

Abschlussdiskussion


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