Hans Sigrist Symposium: Women and Precarity: Historical Perspectives

Hans Sigrist Symposium: Women and Precarity: Historical Perspectives

Organisatoren
Hans Sigrist Stiftung
Ort
Bern
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.12.2014 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Denise Bärtschi, Universität Bern

Immer noch wird ein Großteil der von Frauen verrichteten Arbeiten im Tieflohnsegment von der Politik, der Öffentlichkeit oder den Gewerkschaften nicht wahrgenommen. Folge davon ist ein Abdriften der betroffenen Frauen - in vielen Fällen Migrantinnen - in die Prekarität. Der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Prekarität stand daher im Fokus des Symposiums der Hans Sigrist Stiftung 2014. Im Rahmen des jährlich stattfindenden Symposiums vergibt die an der Universität Bern angesiedelte Stiftung den mit 100.000 Schweizer Franken dotierten Hans Sigrist Preis an einen herausragenden Forscher oder eine herausragende Forscherin. Dieses Jahr war dies mit Jennifer Klein eine Historikerin, die unter anderem durch ihre Forschung zu historischen Erklärungsansätzen weiblicher Prekarität internationale Bedeutung erlangte.

Die Organisatorin des Symposiums, BRIGITTE STUDER (Bern), eröffnete das Symposium mit einer Würdigung der Preisträgerin sowie einem Überblick der Entwicklung von Prekarität in den USA und in der Schweiz. Sie betonte, dass grundsätzlich mehr Frauen als Männer von Prekarität betroffen sind. Gleiches gelte in den USA für nicht weiße Frauen im Vergleich mit ihren weißen Geschlechtsgenossinnen. Prekarität sei dabei stets auch Produkt von Massnahmen für die soziale Sicherheit und von der Arbeitsmarktpolitik. Generell seien Frauen häufiger unterbezahlt und unterversichert. Diese strukturellen Ungleichheiten aufgrund von Geschlecht oder Ethnie stehen seit einiger Zeit im Fokus der Gender Studies und von Teilen der Geschichtswissenschaft. Die historische Perspektive ermögliche es, die gesellschaftspolitische Konstruktion sozio-ökonomischer Strukturen von Ungleichheit nachzuzeichnen. Weiter hob Studer den Aspekt hervor, dass Wohlfahrtspolitiken den Arbeitsmarkt aber auch Familienbeziehungen strukturieren. In der Realität hätten Frauen in jedem industrialisierten Land immer außer Haus gearbeitet, dabei zwar oft in unverzichtbaren, aber dennoch wenig wahrgenommenen Arbeitsbereichen im Niedriglohnsegment. Sie würden damit das Gros dieser unsichtbaren Arbeitskräfte stellen, die sich aus verheirateten Frauen in Teilzeitbeschäftigung sowie Migranten und insbesondere Migrantinnen in Vollzeitbeschäftigung zusammensetzen würden. Dieser segregierte Arbeitsmarkt basiert laut Studer auf der Annahme, dass Frauen kein volles Gehalt nötig hätten. Die eingeladenen Referentinnen und der Referent haben diese fundamentale Ungleichbehandlung ebenfalls zum Thema ihrer Arbeiten gemacht. Insbesondere gilt dies für JENNIFER KLEIN (Yale), die durch ihre Forschungen bisher kaum beleuchtete Akteure und Akteurinnen, die im Tieflohnbereich tätig sind, sichtbar mache. Ihre Werke „For All These Rights. Business, Labor and the Shaping of America’s Public-Private Welfare State”1 und „Caring for America. Home Health Workers in the Shadow of the Welfare State“2 sind dementsprechend für die heutige Gesellschaft von zentraler Bedeutung, sei dies nun in den USA, in Europa oder in der Schweiz. Während Klein in ersterem offen legt, wie der amerikanische Staat in die Schaffung von prekären Arbeitsbedingungen involviert ist, wendet sich die Autorin in ihrem neuesten Werk, das sie gemeinsam mit EILEEN BORIS (Santa Barbara) publizierte, vom institutionellen Ansatz ab. Die Verfasserinnen zeigen hier den Wohlfahrtsstaat aus der Perspektive von Arbeitnehmerinnen. Sie zeigen darin auf, dass die Zugehörigkeit häuslicher Gesundheitspflege zum Niedriglohnsegment nicht nur strukturell und ideologisch bedingt sei, sondern als historisch gewachsenes Produkt von Konflikten zwischen Experten, Staatsautoritäten, Arbeiterinnen, Kunden und Institutionen betrachtet werden müsse.

Dies führte die Preisträgerin JENNIFER KLEIN (Yale) in ihrer Keynote des Symposiums am Beispiel der USA aus, wobei sie auf die fehlende rechtsstaatliche Wahrnehmung von Frauen, die als home care workers arbeiten, fokussierte. Sie zeigte, wie sich die Prekarität und ihre Spielarten über die Zeit veränderten, wie sich die prekäre Arbeit von der Peripherie hin zum Zentrum der Ökonomie bewegte und wie sich Eingliederungsprozesse in der Lohnarbeit entwickelten, wobei stets der Faktor Geschlecht im Zentrum stand. Dazu ging sie auf die urbanen Arbeitsmärkte und ihre Entwicklung bezüglich Geschlecht und race in verschiedenen historischen Phasen ein. Weiter widmete sie sich dem Wohlfahrtsstaat der USA, der seit jeher mittellose, von der Fürsorge abhängige Frauen in die Arbeitswelt einbinden wolle. Laut Klein handelt es sich dabei aber um Arbeiten, bei denen die Frauen nicht die gleichen Rechte wie weiße, männliche Arbeitnehmer erhielten. Als Beispiel nannte sie den sogenannten Bronx Slave Market, der in den 1940er Jahren entstand: Schwarze wurden für meist kurzfristige Arbeiten von der Straße weg angestellt, um daraufhin wieder auf diesen „Sklavenmarkt“ zurückzukehren. Die Arbeiter und Arbeiterinnen wurden meist illegal als Aushilfskraft oder Dienstmädchen angestellt, waren also weder versichert noch offiziell vom Staat erfasst. Im Fall von Verletzung oder Krankheit sei daher das Risiko eines Erwerbsausfalls allgegenwärtig gewesen. Die Regierung versuchte auf diese Misere zu reagieren, indem sie diese Gruppe in die Work Progress Administration aufnahm und vermehrt nicht weiße Frauen in der Spital- oder Heimpflege einsetzte. Diese Public Work Programs hatten das Ziel, die prekarisierten Frauen unabhängiger zu machen. Dass Frauen ohne Ausbildung in einem medizinischen Sektor arbeiteten war eine Neuheit; sie blieben jedoch unterbezahlt und nicht versichert. Dies änderte sich auch nicht, als im Jahr 1975 der Fair Labour Standards Act zum Schutz von Arbeitern und Arbeiterinnen eingeführt wurde: Das Gesetz schloss Pfleger und Pflegerinnen (careworkers) explizit von den Neuerungen aus.

Im Zuge der jüngeren historischen Entwicklung haben sich laut Klein auch die Probleme der Arbeiterinnen gewandelt: Sei es bis vor kurzem noch um Fragen der Entlohnung und Versicherung im Tieflohnsegment gegangen, rücke nun vor allem die Schichtarbeit in den Vordergrund. In diesem Bereich bestünden die Schwierigkeiten vor allem im Bereich der Einkommens- und Planungssicherheit, aber auch – wie neuere Umfragen zeigen – in Bezug auf die Gesundheit der Arbeitnehmenden, dies insbesondere aufgrund des unregelmäßigen Schlaf- und Essrhythmus. Klein schloss mit den Worten, dass zwar Ideen und der Wille zur Interessensteilung vorhanden sind, Veränderungen jedoch ohne Macht nicht möglich seien. Das Sicherheitsmanagement der USA versuche bis heute Möglichkeiten der Partizipation in jeder erdenklichen Form zu blockieren.

SONJA MATTER (Harvard) stellte im Anschluss daran EILEEN BORIS (Santa Barbara) als diejenige Person vor, die dem Wohlfahrtsstaat ein Geschlecht gegeben hat. Boris analysiert in ihrem Werk den Zusammenhang zwischen Geschlecht, race und Staatsbürgerschaft und unterstreicht deren Bezug zur Prekarität. Sie widmete sich auch in ihrem Referat diesem Thema, indem sie rekonstruierte, wie nicht weiße Frauen oftmals von sozialen Politiken ausgeschlossen waren. Beispielsweise geschehe dieser Ausschluss in den Bereichen des Schutzes der Arbeitnehmenden, der sozialen Sicherheit und öffentlichen Unterstützung. Gerade dieses Leben im Schatten des Gesetzes mache Prekarität aus, hielt Boris fest, die für diese Realität den Begriff des „racialized gendered state“ prägte. Die Kluft zwischen weißen und nicht weißen Menschen sei durch den Social Security Act von 1935 noch vergrössert worden, was sich insbesondere in der anhaltenden Dominanz weißer Arbeitgeber im Landwirtschafts- oder Dienstleistungssektor manifestiere. Noch deutlicher akzentuiert hat sich der Zusammenhang zwischen Geschlecht, race und Prekarität laut Boris dadurch, dass wohlfahrtstaatliche Leistungen Frauen lange Zeit grundsätzlich nur durch ihre Ehemänner zugänglich waren, wodurch insbesondere die häufig alleinstehenden Immigrantinnen der ersten oder zweiten Generation weiter benachteiligt worden seien. Zudem führte Boris die zentrale Funktion von Zwang auf verschiedenen Ebenen bei der Entstehung von Prekarität am Beispiel der US-amerikanischen Einwanderungspolitik aus, wobei speziell die Drohung der Ausschaffung als Zwangsmittel gegenüber illegalen Einwanderern und Einwanderinnen diente. Da sich die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen nur an das Immigration and Custom Enforcement (ICE) wenden könnten, sei es für illegale Einwanderer und Einwanderinnen fast unmöglich sich, sich gegen Ausbeutung zur Wehr zu setzen. So habe die staatliche Macht mittels Einwanderungsbestimmungen und Rassentrennung gezielt racialized gendered bodies für Tieflohnarbeit in der Prekarität produziert.
Die Entwicklung dieser Einwanderungsbestimmungen und der entsprechenden Politiken in den USA führte Boris daraufhin in historischer Perspektive aus. Anhand der Einwanderungsbeschränkungen ab 1882 und der Gastarbeiterprogramme, die während des Zweiten Weltkriegs eingeführt worden waren, zeigte sie, wie die US-amerikanische Einwanderungspolitik des 20. Jahrhunderts von racialized gender geprägt gewesen ist. Dies habe sich bis heute wenig geändert, was durch die Tatsache verschärft werde, dass seit einigen Jahren mehr Frauen als Männer in die USA immigrieren. Diese seien primär im Dienstleistungssektor oder in der Haushaltshilfe tätig, also im kaum regulierten Tieflohnbereich. In den letzten Jahren hätten zudem diverse Gesetze die Stellung von Immigrantinnen in den USA geschwächt, indem diese nicht vor Ausbeutung und Missbrauch geschützt sowie teils von der Fürsorge ausgeschlossen und kriminalisiert würden. Abschliessend hielt Boris pointiert fest, dass der globale Kapitalismus von mobilen, entwurzelten Arbeitern und Arbeiterinnen abhängig sei, wobei die Entlohnung für die Arbeit kaum zum Überleben ausreiche. Die USA wolle die Einwanderinnen nach wie vor als Kindermädchen, Altenpflegerinnen, Putzfrauen, Köchinnen oder andere billige Arbeitskräfte im Land willkommen heißen, nicht aber als Staatsbürgerinnen.

PAT THANE (London) widmete sich daraufhin dem höheren Armutsrisiko von Frauen in Großbritannien aus historischer Perspektive. Ausgehend von der bis heute existierenden Altersarmut und der prekären Lage alleinerziehender Mütter, zeichnete sie die Entwicklung des britischen Wohlfahrtsstaates und der Frauenarbeit nach. Dabei legte sie zunächst einen Schwerpunkt auf die philanthropische Tätigkeit gut situierter Frauen als Reaktion auf die Industrialisierung, aber auch als Möglichkeit für die betreffenden Frauen, sich außerhalb des eigenen Hauses zu bewegen und zu engagieren. Die Freiwilligenorganisationen waren nicht nur für die Identifizierung sozialer Probleme von Bedeutung, sondern übernahmen stets auch Funktionen des schwach entwickelten britischen Wohlfahrtsstaates. Thane verwies weiter auf die Zusammenhänge zwischen dem fehlenden staatlichen Engagement für spezifisch weibliche soziale Probleme und den Forderungen nach dem Frauenwahlrecht. Die mit dem Zweiten Weltkrieg einsetzende sukzessive Professionalisierung der Fürsorgearbeit eröffnete bessere Arbeitsbedingungen für Frauen der Mittel- wie auch der Arbeiterschicht. Als Folge davon hätten laut Thane wohlhabende Haushalte ihre Arbeitskräfte verloren, was dazu führte, dass diese nach Alternativen suchten. Es wurde versucht, die Lücke mit Irinnen und später, nach dem Krieg, mit heimat- und obdachlosen Menschen vom europäischen Festland, den sogenannten displaced persons, zu füllen. So wurden nach 1946 weibliche displaced persons bei der Übersiedelung nach Großbritannien unterstützt, um dort in Haushalten oder im Gesundheitswesen zu arbeiten. Ihnen folgten in den 1950er- und 1960er-Jahren Immigrantinnen aus den britischen Kolonien und europäische Au-Pair-Mädchen.

In den 1980er Jahren setzte wiederum eine schrittweise Privatisierung wohlfahrtsstaatlicher Angebote ein, die eine erneute Schlechterstellung der meist weiblichen und schlecht ausgebildeten Fürsorgearbeiterinnen nach sich zog. Parallel dazu führten der Abbau der staatlichen Wohlfahrt und verschiedene Skandale in Armen- und Altersheimen dazu, dass pflegebedürftige Angehörige vermehrt zu Hause gepflegt wurden, wobei wiederum Frauen die Hauptarbeit übernahmen. Weiter wurde in Großbritannien die Pflegearbeit an ausländische Frauen, welche meist schlecht ausgebildet waren, abgegeben. Gleichzeitig werde auch die professionelle Fürsorge in Großbritannien nach wie vor als weibliche Arbeit betrachtet was zu einer Ausbeutung schlecht ausgebildeter Frauen in diesem Bereich führe.

Zum Abschluss des Symposiums erläuterte MARTIN LENGWILER (Basel) die Situation in der Schweiz, wobei auch er einen historischen Überblick über die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates gab. Es sei kein Zufall, dass in der neueren historischen Forschung zu diesem Thema das Narrativ einer progressiven Wohlfahrt zu Gunsten einer kritischeren Wissenschaft abgelöst werde. Entsprechend machte er es sich zur Aufgabe, in seinem Beitrag innovative Erkenntnisse der neuen kritischen Historiographie bezüglich des Wohlfahrtstaates aufzuzeigen. Dieser Kurswechsel, in dem Jennifer Klein eine zentrale Rolle gespielt hat, begann in den 1990er Jahren. Er ging auf zwei Aspekte genauer ein: die Relevanz der Akteure in der Entwicklung des Wohlfahrtstaates und die Entwicklung des Systems der sozialen Sicherheit. Akzente setzte er insbesondere auf die Einführung der Kranken- und Unfallversicherung 1912, der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) 1947 sowie des Drei-Säulenmodells in den 1980er Jahren. Er betonte dabei den Grundsatz der Solidarität sowie die Bedeutung föderaler und privater Akteure und Akteurinnen. Wie die vorherigen Referentinnen verwies Lengwiler weiter auf Ungleichheiten, die durch einen auf das Hauptverdiener-Modell ausgerichteten Sozialstaat entstünden, dies insbesondere im Hinblick auf verwitwete oder alleinstehende Frauen.

Das gut besuchte diesjährige Hans Sigrist Symposium zeigte damit für verschiedene Staaten die nach wie vor bestehenden Problematiken der Care-Arbeit auf. Die Referierenden zeigten nicht nur, dass gerade vor dem Hintergrund einer immer älter werdenden Bevölkerung und der damit steigenden Fürsorgenachfrage, dringend Lösungen gefunden werden müssen, sondern machten auch deutlich, dass das Abschieben der Care-Arbeit auf schlecht bezahlte Migranten und Migrantinnen zwar wenig nachhaltig aber immer noch Realität ist. Damit stellte die Veranstaltung unter Beweis, dass eine von race und Geschlecht losgelöste Analyse von Prekarität nicht nur in wissenschaftlicher sondern auch in politischer Hinsicht nur Stückwerk bleiben kann.

Konferenzübersicht:

Opening remarks on behalf of the Hans Sigrist Foundation Board

Brigitte Studer (University of Bern): Introduction

Jennifer Klein (Yale University): Women, Work, and Welfare: A History of Gender & Precarious Labor Markets.

Eileen Boris (University of California Santa Barbara): Making Precarity: Gender, Race, and Social Politics.
Introduction/Moderation: Dr. Sonja Matter, Harvard University

Pat Thane (Kings College London): Women and Social Care in the British Welfare State, Past and Present.
Introduction Moderation: Prof. Dr. Gabriele Rippl, University of Bern

Lenwiler (University of Basel): Social Security and the Production of Inequalities.
Introduction/Moderation: Prof. Dr. Sabine Strasser, University of Bern

Barbara Duden (University of Hannover): Concluding remarks

1 Klein Jennifer, For All These Rights. Business, Labor and the Shaping of America’s Public-Private Welfare State, Princeton 2006.
2 Boris Eileen / Klein Jennifer, Caring for America. Home Health Workers in the Shadow of the Welfare State, New York 2012.


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