Die Zukunft des 20. Jahrhunderts II

Die Zukunft des 20. Jahrhunderts II

Organisatoren
Kulturwissenschaftliches Institut Essen; Lucian Hölscher, Ruhr-Universität Bochum; Ute Schneider, Universität Duisburg-Essen
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.10.2015 - 17.10.2015
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Von
Lena Behrendt, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

In der Geschichtswissenschaft, aber auch in anderen Disziplinen wie der Soziologie lässt sich in den letzten Jahren eine Hinwendung zu Fragen der Zeitlichkeit beobachten. Insbesondere Zukunftsentwürfe erfahren große Aufmerksamkeit in der Forschungsgemeinschaft. Um verschiedene Initiativen in Deutschland und anderen Ländern zusammenzuführen, hat LUCIAN HÖLSCHER (Bochum) im vergangenen Jahr das Netzwerk „Die Zukunft des 20. Jahrhundert“ ins Leben gerufen. Den Auftakt zu diesem Forschungsprojekt bildete eine Tagung, die am 11. und 12. Juli 2014 im Bochumer Institut für soziale Bewegungen stattfand.1 Aufbauend auf den Diskussionsergebnissen dieser Veranstaltung wurde am 16. und 17. Oktober 2015 in Zusammenarbeit mit UTE SCHNEIDER (Duisburg-Essen) und dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen eine zweite Eröffnungskonferenz durchgeführt.

Nach der Begrüßung der Teilnehmer durch Ute Schneider eröffnete Lucian Hölscher die Veranstaltung mit einigen einleitenden Worten zu den Erkenntnischancen des Forschungskonzepts, das auf dem Begriff der „vergangenen Zukunft“ basiert. Seiner Meinung nach stellen Zukunftsentwürfe für die Geschichtswissenschaft eine Möglichkeit dar, sich historischen Systembrüchen aus anderen Perspektiven zu nähern. Die klassische Geschichtsschreibung tendiere dazu, die Vergangenheit als Vorlauf der Gegenwart zu betrachten und in Misskredit geratenen oder nicht umgesetzten Ideen und Projekten nur wenig Beachtung zu schenken. Bei der Beschäftigung mit Zukunftsentwürfen, die jeweils auf Gegenwartsdeutungen der Zeitgenossen aufbauen, könne jedoch ein weiteres Spektrum an Deutungsmustern erschlossen werden. Bei der Analyse von vergangenen Zukunftskonzepten bestehe der Ertrag also nicht in geschlossenen Geschichtsbildern, sondern in der Auflösung des historischen Wandels in eine Pluralität von Geschichtserzählungen.

Diese zweite Eröffnungstagung sollte nun dazu dienen, anhand von Fallstudien auf inhaltlicher Ebene die Dimensionen von Zukunftsvorstellungen im Untersuchungszeitraum weiter auszuloten, so Hölscher. Dabei sollte erörtert werden, inwiefern sich der Charakter von Zukunftskonzepten vom 19. zum 20. Jahrhundert gewandelt hat. Ein anderes Ziel der Konferenz bestand darin, sich einem theoretischen Rahmen für das Forschungsprojekt zu nähern und methodischen Fragen nachzugehen.

Im Anschluss an den Einführungsvortrag von Lucian Hölscher präsentierten RÜDIGER GRAF (Potsdam) und BENJAMIN HERZOG (Bochum) in ihrem Doppelreferat einige theoretische Überlegungen zu „einer Geschichte des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert“. Sie konstatierten, dass der Untersuchungszeitraum durch eine Tendenz zur Individualisierung von Zukunftsentwürfen gekennzeichnet sei. Im Vergleich zu früheren Jahrhunderten hätten sich die potentiellen Träger von Zukunftsvorstellungen vervielfältigt. Um der aus dieser Entwicklung resultierenden Pluralisierung gerecht zu werden, könne eine Geschichte der Zukunft des 20. Jahrhunderts nicht an Inhalten orientiert sein, sondern müsse sich auf mentale, begriffliche und praktische Strukturen fokussieren. Die Referenten arbeiteten drei charakteristische Modi des Zukunftsbezugs heraus: Erwartungszukunft, Gestaltungszukunft und Risikozukunft. Die Typologie, die sicherlich viele Anknüpfungspunkte für weitere Überlegungen bilden kann, wurde von den Konferenzteilnehmern interessiert aufgenommen und kontrovers diskutiert.

ANNETTE SCHUHMANN (Potsdam) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der deutschen Gesellschaft der 1960er- bis 1980er-Jahren und untersuchte Angst- und Erwartungsszenarien im Hinblick auf existente und zu erwartende technologische Entwicklungen. Die Referentin zeigte auf, dass einzelne Motive wie der Mythos der „technologische Lücke“ den öffentlichen Diskurs um die Zukunft der deutschen Wirtschaft langfristig prägten und wiederkehrende Ängste hervorriefen. Während die Diskussion in den 1960er- und 1970er-Jahren durch einen in den Medien stilisierten Konkurrenzkampf mit der Wirtschaftsmacht Japan geprägt gewesen sei, wäre die Angst vor der mangelnden „Zukunftsfähigkeit“ der deutschen Wirtschaft auch in anderen Kontexten abrufbar gewesen und der Mythos einer deutschen Technikfeindlichkeit noch in den 1980er-Jahren rezipiert worden.

DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) stellte in seinem Referat mit der Jugend in der Bundesrepublik Deutschland eine Personengruppe in den Mittelpunkt, auf die in großem Maße sowohl Zukunftshoffnungen als auch -ängste projiziert wurden. Anhand der Konstruktion einer „skeptischen Generation“ in den 1950er-Jahren, Selbstdeutungen der Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre und der „No future- Attitüde“ der Jugend in den frühen 1980er-Jahren untersuchte er die Wechselwirkung von Selbst- und Fremdbildern und die historische Gebundenheit der Deutungen von „Jugend“. In Siegfrieds Vortrag wurde deutlich, dass Zukunftsentwürfe, aber auch die Auseinandersetzung mit älteren Generationen, eine große Bedeutung für die Herausbildung einer spezifischen Jugendkultur besaßen.

Der Vortrag von ANSELM DOERING-MANTEUFFEL (Tübingen) bildete den Abschluss des ersten Tagungstages und thematisierte den Zusammenhang zwischen Geschichtskonstruktionen und dem Zeitverständnis des Nationalsozialismus. Zu Beginn seines Beitrags wies der Referent darauf hin, dass die Judenverfolgung und der nationalsozialistische Vernichtungskrieg den Blick des zurückschauenden Historikers stark prägen würden und die Tendenz verbreitet sei, das Dritte Reich von seinem Ende her zu betrachten. Der Ansatz dieses Forschungsprojekts könne jedoch einen neuen Zugang zum Blickwinkel der Zeitgenossen und der Alltagskultur der dreißiger Jahre eröffnen. Das Zeitverständnis des Nationalsozialismus war, laut Doering-Manteuffel, durch eine Ambivalenz geprägt: Die dreißiger Jahre seien von einer „Rastlosigkeit“ gekennzeichnet, eine Dynamik des Neuen und einem Aufbruchsgeist, der sich zum Beispiel in der raschen technischen Modernisierung und dem Versprechen der Volksmotorisierung äußerte. Diese Bewegung sei jedoch im Zeitverständnis des NS auf die Zukunft als einen zeitlosen Endzustand, eine „ewige Ordnung“ ausgerichtet gewesen.

Der zweite Tagungstag wurde mit einem Vortrag von ISABEL KRANZ (München) zu den „Spielarten des Futur II zu Anfang des 20. Jahrhunderts“ eröffnet. Die Referentin präsentierte einige sprachphilosophische Überlegungen und einen grammatikalischen Zugang zur Konzeption der „vergangenen Zukunft“. Von den Tagungsteilnehmern mit Interesse aufgenommen wurden ihre Anmerkungen zur Semantik und der grammatikalischen Kategorie des Futur II als Tempus des Verbs, das dem Futur I nachgeordnet sei und Analogien zur Vergangenheitszeitform des Plusquamperfekt aufweise.

STEFAN WILLER (Berlin) referierte im zweiten Vortrag des Panels über die Darstellung zukünftiger Zustände in der Literatur. Am Beispiel der Romane „Schwarzer Spiegel“ von Arno Schmidt (1951) und „Die Wand“ von Marlen Haushofer (1963) zeigte Willer, wie die Autoren eine dystopische Welt entworfen haben. Besonders interessant – so der Referent – sei die Erzählsituation der Romane. In beiden Werken würde die Geschichte aus der Sicht eines Ich-Erzählers geschildert, der als vermeintlich letzter Überlebender nach einer Umweltkatastrophe nicht weiß, ob der von ihm verfasste Text Leser finden wird. Schreiben würde in diesen literarischen Zukunftsentwürfen als Selbstzweck gedeutet, als eine Methode zur Erhaltung des Menschseins in einer Welt, in der der Verfasser eines Textes auch gleichzeitig der einzige potentielle Leser sein könnte.

CHRIS LORENZ (Bochum) präsentierte in seinem Vortrag den Konferenzteilnehmern einige Diskussionsanregungen zu theoretischen Fragen. Nach allgemeineren Ausführungen zur Bedeutung der Periodisierung in der Geschichtswissenschaft, bezog er diese auf das Forschungsprojekt „Zukunft des 20.Jahrhunderts“. Lorenz regte an, gängige Epochenkonstrukte zu hinterfragen und genau herauszuarbeiten, inwiefern Zukunftsvorstellungen um 1900 einem bedeutenden Wandel unterlägen. Der Beginn einer neuen Dimension gesellschaftlicher Selbstreflexion um die Jahrhundertwende könne – so Hölscher in der anschließenden Diskussion – als Argument dafür angeführt werden, die Zukunft des 20. Jahrhunderts als eigenständigen Untersuchungszeitraum zu bestimmen und die Jahrhundertwende als eine für das Projekt relevante Zäsur zu deuten.

Mit Zeiteinheiten von größerem Umfang beschäftigte sich der Vortrag von FRANZ MAUELSHAGEN (Bern). Der Referent bot einen Überblick über die „Anthropozän“-Debatte. Das Konzept des Anthropozäns basiere auf der These, dass menschliche Handlungen einen so grundlegenden Wandel der Natur bewirkt hätten, dass das Holozän durch einen neuen Abschnitt der Erdgeschichte abgelöst werde. Laut Mauelshagen gibt es verschiedene Ansichten darüber, wann der Beginn dieser neuen „Erdepoche“ zu verorten sei. Ein Standpunkt in dieser Debatte sei zum Beispiel, dass bereits mit der Industrialisierung der Mensch zum wichtigsten Einflussfaktor für seine Umwelt geworden sei und damit auch die eigene Zukunft determiniert habe. Die Anthropozän-These stehe damit im Widerspruch zum klassischen Zukunftsbegriff, da die menschliche Zukunft in diesem Modell nicht mehr durch Offenheit gekennzeichnet, sondern in Zusammenhang mit den langfristigen Veränderungen der geologischen Zeit schon weitgehend festgelegt sei.

Im letzten Vortrag der Tagung beschäftige sich FERNANDO ESPOSITO (Tübingen) mit intellektuellen Debatten in den 1970er- und 1980er-Jahren. Er vertrat die These, dass in diesem Zeitraum eine Transformation des dominanten Zeitregimes eintrat und die Wahrnehmung eines „Endes der Zeiten“ zu einem verbreiteten Zukunftshorizont wurde. Esposito zeigte auf, wie der geschichtsphilosophische Begriff „Posthistoire“ rezipiert wurde und dieses Konzept abgewandelt als „No Future“- Motiv Einzug in die Jugendkultur der frühen 1980er-Jahre hielt. Hier knüpfte der Referent an einige Argumentationslinien des Vortrags von Detlef Siegfried an. Vor dem Hintergrund der Jugendarbeitslosigkeit und anderer Anzeichen für das Erreichen der Grenze des wirtschaftlichen Wachstums, sei eine Umkodierung erfolgt: Jugend sei nicht mehr mit Zukunftshoffnung assoziiert, sondern in den Medien als Symptom der Krise gedeutet worden. Zum Abschluss seines Vortrags wies Esposito auf die Bedeutung dieser Entwicklungen für die Geschichtswissenschaft hin. Mit dem Gefühl, dass im Zuge steigender Ungewissheit die Zukunft keine Orientierung mehr bieten könne, und der Diskreditierung des Fortschrittsoptimismus sei ein Bedeutungsverlust der bisherigen „Subjekte der Geschichte“ und eine Aufspaltung der Großerzählungen in „multiple histories“ eingeleitet worden.

In der Abschlussdiskussion wurden noch einmal die zentralen Diskussionslinien der Referate zusammengefasst. Die Tagung hat anhand ihrer Einzelthemen beispielhaft die Vielfältigkeit der Zukunftsthematik im 20. Jahrhundert und die Verflechtungen und Konjunkturen einzelner Zukunftsperspektiven aufgezeigt. Es wurde deutlich, in welch enger Verbindung Gegenwartsdiagnosen, Vergangenheitsdeutungen und Zukunftsentwürfe zueinander stehen. Die Kombination von theoretisch-methodisch orientierten Panels und Sektionen mit Fallstudien hat sich als sehr anregend erwiesen. Die Referate von Rüdiger Graf und Benjamin Herzog, Chris Lorenz und der schriftliche Beitrag von Achim Landwehr, der seine Tagungsteilnahme leider kurzfristig absagen musste, jedoch ein Paper eingereicht hat, boten sehr gute Ausgangspunkte für eine theoretische Rahmung des Projekts. Einige Ideen mit Innovationswert – wie der grammatikalisch-sprachwissenschaftliche Zugang zur „vergangenen Zukunft“ – wurden vorgestellt, deren weitere Erforschung vielversprechend zu sein scheint. In Ergänzung zu den Arbeitskreisen des Projekts zu Themen wie Städtebau / Architektur oder politischer Zukunft, die sich bereits im Anschluss an die letztjährige Tagung gebildet haben, könnte man die Bildung weiterer Gruppierungen anregen, die zum Beispiel Fragen der Generationalität, des Einflusses verschiedener Medien auf die Verbreitung von Zukunftsentwürfen oder Sprachlichkeit vertiefend diskutieren könnten. Insgesamt bestand unter den Tagungsteilnehmern Einigkeit darüber, dass die Erforschung der vergangenen Zukunft zur historischen Selbstaufklärung über das 20. Jahrhundert beitragen kann. Der Zeitpunkt für eine Vernetzung bestehender Forschungsinitiativen zum Thema Zukunftsentwürfe erscheint aktuell sehr günstig gewählt, um auf Basis der bisherigen Untersuchungsergebnisse neue größere Dimensionen auszuleuchten.

Konferenzübersicht:

Eröffnung der Tagung durch LUCIAN HÖLSCHER (Bochum) / UTE SCHNEIDER (Duisburg-Essen)

RÜDIGER GRAF (Potsdam) / BENJAMIN HERZOG (Bochum): Pluralisierungen der Zukunft. Probleme und Herausforderungen einer Geschichte des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert

ANNETTE SCHUHMANN (Potsdam): Das unheimliche Tal. Zukunftskonstruktionen und Technik in Deutschland seit den 1960er Jahren

DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen): Jugend und Zukunft. Utopien und Dystopien in der Jugendkultur nach 1945

ANSELM DOERING-MANTEUFFEL (Tübingen): Von der Geschichte zur Vorzeit, von der Zukunft zur Utopie. Die ideologische Praxis des Nationalsozialismus in der Gesellschaftsgeschichte der 1930er Jahre

ISABEL KRANZ (München): Spielarten des Futur II zu Anfang des 20. Jahrhunderts

STEFAN WILLER (Berlin): Zukünfte der Literatur

CHRIS LORENZ (Bochum): The politics of time. Some recent approaches

ACHIM LANDWEHR (Düsseldorf): Auf der Suche zwischen den Zeiten: Relationismus - Zeit – Geschichte (Der Vortrag musste leider kurzfristig entfallen.)

FRANZ MAUELSHAGEN (Bern): Die Kolonisierung der Zukunft im Anthropozän

FERNANDO ESPOSITO (Tübingen): Die Schließung der Zukunft und die Öffnung der Zeit. Intellektuelle Debatten in den 1970er und 1980er Jahren

Zusammenfassung und Ausblick

Anmerkungen:
1 Tagungsbericht „Die Zukunft des 20. Jahrhunderts“, 11.07.2014 – 12.07.2014 Bochum, in: H-Soz-Kult, 18.10.2014, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5613>
[2] Dazu ausführlich: Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt 1999. Eine überarbeitete und erweiterte Neuauflage wird demnächst im Wallstein Verlag erscheinen.


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