Nachwuchswissenschaftlernetzwerk Ukraine: postsowjetische Gesellschaft im Wandel

Nachwuchswissenschaftlernetzwerk Ukraine: postsowjetische Gesellschaft im Wandel

Organisatoren
Kulturwissenschaftliches Institut Essen
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.02.2016 - 13.02.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Jakob Mischke, Doktoratskolleg Galizien, Universität Wien

Die Geschichte und Gegenwart der Ukraine waren Gegenstand eines zweitägigen Workshops, mit dem das vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI) geförderte Netzwerk für NachwuchswissenschaftlerInnen „Ukraine: postsowjetische Gesellschaft im Wandel“ offiziell ins Leben gerufen wurde. Mit diesem Netzwerk soll eine Austauschplattform für Nachwuchsforschende angeboten werden, die an Hochschulen und Forschungseinrichtungen im deutschsprachigen Raum das Themenfeld Transformation und gesellschaftlicher Wandel in der Ukraine erforschen. Angereist waren DoktorandInnen und Post-DoktorandInnen der Geschichte, Slavistik und Politikwissenschaft aus ganz Deutschland.

Nach einer Begrüßung und kurzen Vorstellung des KWI durch FRIEDRICH JÄGER erläuterten OLENA PETRENKO (Bochum) und OKSANA HUSS (Essen), Ziele und mögliche Aktivitäten des von ihnen initiierten Netzwerkes: Auf Grundlage eines breiten Definitionsverständnisses von Transformation sollen die verschiedenen Facetten dieses Prozesses aus der Sicht unterschiedlicher Disziplinen am Beispiel der Ukraine dargestellt werden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie und nach welchen Pfadabhängigkeiten der gesellschaftliche Wandel verläuft und welche Auswirkungen auf die Semantiken der Begriffe, soziale Praktiken und kulturelle Repräsentationen zu beobachten sind.

Am Anfang stand die Geschichte im Mittelpunkt: MARIAN LUSCHNAT-ZIEGLER (Hamburg) stellte seine Forschungen zur Erinnerung an die ukrainische Revolution 1917–1918 in der heutigen Ukraine vor. Obwohl die Ereignisse einen zentralen Baustein des ukrainischen Geschichtskanons bilden, blieben sie dennoch recht schwach belichtet, so Marian Luschnat-Ziegler. Die Protagonisten der Ereignisse würden im Laufe der Zeit zudem höchst unterschiedlich bewertet: Simon Petljura etwa wurde aus dem nationalistischen Lager zuerst angefeindet, nach seiner Ermordung jedoch zum Märtyrer stilisiert. Akteure, die seinerzeit verfeindet waren, wie etwa die Mitglieder des Direktoriums und der Het'man Pavlo Skoropads'kyj, wurden von der Nachwelt zunehmend in einem Topf geworfen. Die Ereignisse in der Westukraine wiederum fänden kaum Beachtung. Erinnert wird lediglich das „Traumkonzept“ einer geeinten Ost- und Westukraine, das damals jedoch erfolglos blieb. Durch den Diskurs ziehe sich eine starke Betonung des Staatscharakters der beiden ukrainischen Volksrepubliken, wobei dieser nicht mit dem heutiger Staaten verglichen werden kann.

JAN-HINNERK ANTONS (Hamburg) sprach über seine Forschungen zu Nationbuilding in ukrainischen Displaced-Persons-Camps nach dem Zweiten Weltkrieg. In diesen Lagern auf westdeutschem Gebiet fanden sich Ukrainerinnen und Ukrainer wieder, die vor der Roten Armee nach Westen geflüchtet waren, sowie ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die nicht in die sowjetisch regierte Heimat zurückkehren wollten. In dieser ethnisch und ideologisch weitgehend homogenen Gruppe wäre die Nationalität zum wichtigsten Moment erhoben worden. Die sich bis heute immer noch im Prozess befindlichen Bestrebungen des ukrainischen Nationbuildings hätten damals einen historischen Höhepunkt erreicht. Dabei wurde vor allem der Narrativ des ukrainischen Befreiungskampfes popularisiert, in dem der Zweite Weltkrieg als Kampf gegen die Sowjetunion und nicht NS-Deutschland seinen Platz fand. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter hätten innerhalb dieses Diskurses keine vernehmbare kollektive Stimme gehabt.

TATIANA SAMORODOVA (Hamburg) verglich historische Narrative in ukrainischen sowjetischen und post-sowjetischen Schulbüchern. Da diese Bücher vom Bildungsministerium geprüft und für den Schulunterricht empfohlen würden, könne man sie durchaus als Träger einer staatlichen Geschichtskonzeption auffassen. Während in Schulbüchern aus sowjetischer Zeit etwa die Kiewer Rus' als gemeinsame Wiege der drei „Brudervölker“ Russen, Ukrainer und Belorussen dargestellt wurde, hätte sie nach der Wende gemäß des Schemas Mychajlo Hrushevskyjs die Rolle des ersten ukrainischen Staates erhalten, was auch durch die nun übliche Begriffsverwendung „Rus'-Ukraine“ betont würde. Auch der Vertrags von Perejaslavl' (1654) sowie die Figur Ivan Mazepas würden unter nationalen Vorzeichen neu interpretiert, was die Versuche der ukrainischen Regierung wiederspiegele, den Schülern ein neues Nationalbewusstsein zu vermitteln. Versuche ukrainischer HistorikerInnen, alternative Geschichtsbücher mit einer neutraleren Geschichtsdarstellung zu verfassen, seien bisher gescheitert.

OLEKSANDR ZABIRKO (Münster) entführte die Teilnehmer in die Welt der boomenden post-sowjetischen Fantasyliteratur und stellte einige Werke ukrainischer und russischer AutorInnen vor, in denen alternative Welten und Geschichtsverläufe mit Bezug auf Russland und die Ukraine entworfen werden. Das Spektrum reiche vom geopolitischen Alternativentwurf eines mongolisch-russisch-chinesischen Weltreiches in der "Evrazijskaja Simfonija" (dt. "Eurasische Symphonie"), in dem der ukrainische Nationalismus nur episodisch als ausländische Intrige auftritt, über Sergej Lukjanenkos „Nočnoj dozor“, der einen gleichberechtigtes Nebeneinanderexistieren von Gut und Böse in der Welt propagiert, bis hin zu den „Popadancy“ Geschichten, in denen Zeitreisende in die Weltgeschichte eingreifen, um den russischen Staat zu retten. Auch der Donbasskrieg wurde nach Zabirko in diesen fast ausschließlich aus russisch-imperialistischer Perspektive verfassten Geschichten bereits 2003–2010 literarisch vorweggenommen. Die Ästhetik dieser Geschichten wurde zudem von den Protagonisten der russischen und ostukrainischen Separatistenkräfte im Donbass wie Igor Girkin oder Aleksej Mozgovoj in ihrer Selbstdarstellung aufgegriffen.

STEFAN STACH (Halle / Warschau) sprach über zivilgesellschaftliche polnisch-ukrainische Kooperationsprojekte von der Zwischenkriegszeit bis in die Gegenwart. Obwohl das polnisch-ukrainische Verhältnis sehr wechselhaft und spannungsreich war, ist die Ukraine im polnischen Diskurs heutzutage prominent und positiv besetzt vertreten. Bereits als sich Polen und Ukrainer im Ostgalizien der Zwischenkriegszeit feindlich gegenüberstanden, bemühte sich der Prometeusz-Club in Warschau unter anderem auch um gute Kontakte zur ukrainischen Nationalbewegung. Aber auch in der westeuropäischen Emigration arbeiteten Polen und Ukrainer später eng zusammen. Obwohl positive Darstellungen der Ukrainischen Aufstandsarmee auch heutzutage in Polen generell auf Ablehnung stießen, würden wie etwa Oksana Zabužko auch Autoren, die solche Narrative verwenden, mit Interesse aufgenommen. Die Beziehungen zur Ukraine werden auf intellektueller Ebene zum Beispiel am Institut „Studium Europy Wschodniej“ in Warschau intensiv gepflegt.

In den sich anschließenden Vorträgen der PolitologInnen lag der Schwerpunkt auf der Erforschung informeller Machtstrukturen sowie die Reformfähigkeit des politischen Systems. KATERYNA BOSKO (Bremen) stellte ihr Projekt zu Argumentationsstrategien ukrainischer PolitikerInnen und Oligarchen auf dem Feld der Gaspolitik vor. Gerade in hybriden politischen Systemen, die zwischen Autoritarismus und Demokratie oszillierten, erlangten solche Strategien in der politischen Auseinandersetzung große Bedeutung. Aufgrund einer generellen Atomisierung von Handlungsnetzwerken in der Ukraine plädiert Bosko für eine stärkere Fokussierung auf einzelne anstelle von kollektiven Akteuren. In vier Fallstudien untersuchte Bosko Framingstrategien von Leonid Kučma bis Julia Tymošenko dahingehend, inwieweit sie in der öffentlichen Debatte erfolgreich waren. Etwa reagierte Kučma auf westliche Kritik an seiner staatlichen Gaspreispolitik mit einem Framewechsel, indem er die sozialen Folgen einer marktwirtschaftlichen Preisgestaltung in den Vordergrund stellte. Da sich die Akteure selbst risikoavers verhielten, würden im Diskurs vor allem negative Zuschreibungen verwendet, wie das Shaming von Konkurrenten.

OKSANA HUSS (Essen) stellte ein aktuelles Modell verschiedener Beziehungen von Korruptionserscheinugen zu Regimetypen in postsozialistischen Staaten vor. Abhängig vom Regimetyp entstünden unterschiedliche Modelle von Korruptionsnetzwerken, die Huss anhand der Regierungsführung dreier Präsidenten der Ukraine vorstellte: Während Leonid Kučma beispielsweise ein zentralisiertes Netzwerk aufbaute, das auf einem Interessensausgleich zwischen verschiedenen Oligarchenclans basiert habe, ließe sich unter Viktor Juščenko keine eindeutige Strategie, sondern lediglich ad-hoc Bemühungen zur Regelung des Verhältnisses von Oligarchie und Politik beobachten, so dass sich mehrere einzelne Korruptionsnetzwerke ausgebildet hätten. Viktor Janukovyč wiederum hätte versucht, sämtliche wirtschaftlich-politischen Aktivitäten in seiner „Familie“ zu monopolisieren. Generell basiert ihre Untersuchung auf der Annahme, dass für die überbordende Korruption in der Ukraine weniger eine ukrainische „Kultur von Korruption“, sondern viel mehr die vom System stammenden Anreizstrukturen verantwortlich seien.

STEFFEN HALLING, (Bremen / Berlin) ging in seiner Betrachtung von den ukrainischen Oligarchen als politisch aktive Unternehmer aus: Diese hätten sich seit dem Ende der 1990er-Jahre als eine Konstante in der ukrainischen Politik erwiesen und nähmen insbesondere über informelle (Korruptions-) Netzwerke, Medien, aber auch mittels politischer Ämter Einfluss auf die Politik des Landes. In der Politikwissenschaft habe man sich vor diesem Hintergrund bislang vor allem mit der Frage beschäftigt, welchen Einfluss Oligarchen auf das politische Regime und dessen Transformation nähmen. Weniger Beachtung habe bislang indes gefunden, wie Oligarchen auf politische Regime-Dynamiken reagierten. Insbesondere nach den politischen Umbrüchen 2004/2005 und 2013/2014 habe sich hierbei unter anderem gezeigt, dass sie darum bemüht sind, ihre Eigentumsrechte in der Öffentlichkeit zu legitimieren. Somit reagieren sie durchaus auf gesellschaftlichen Wandel im Land. Inwieweit es den Akteuren gelingt, ihr Öffentlichkeitsbild zu beeinflussen, untersucht Halling in seinem Promotionsprojekt.

KARINA SHYROKYKH (München) untersucht die Performanz der Menschenrechtspolitik der Europäischen Union in Bezug auf die Ukraine. Zwar wurde die EU-Konditionalitätspolitik dort auf die Menschenrechtsgesetzgebung angewendet und wurden viele Projekte zur Förderung von Menschenrechten verwirklicht; ein messbarer Zusammenhang zwischen dem Umfang dieser Projekte und dem Erfolg der Maßnahmen sei jedoch nicht feststellbar. Während etwa in der Amtszeit Viktor Janukovyčs als Präsident die Zahl der Projekte und Fördersummen erhöht wurden, hätten sie eine Verschlechterung der Menschenrechtslage nicht verhindern können, wofür Shyrokykh mehrere Indikatoren präsentierte. Erfolge hätte es zwar bei der Anpassung der ukrainischen Gesetzgebung gegeben, diese Gesetze seien jedoch wenig bis gar nicht implementiert worden. Zudem würden sie, wie etwa das Gesetz zur Nicht-Diskriminierung von LGBT* (Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender) am Arbeitsplatz, in der Öffentlichkeit fast ausschließlich als notwendige Bedingung für die ersehnte EU-Visafreiheit diskutiert, nicht jedoch als Menschenrechtsthema.

Unter anderem für diese Beobachtung bot JAKOB MISCHKE (Münster / Wien) eine alternative Erklärung an, die auf dem systemtheoretischen Ansatz Niklas Luhmanns beruht: Er stellte einen kommunikationssoziologischen Ansatz vor, der eine Neubetrachtung der politischen Prozesse in der Ukraine aus einer alternativen Perspektive erlaube. Die steuerungspessimistische Sichtweise Luhmann müsse etwa auch auf die europäischen Außenpolitik angewandt werden, deren Versuche zur Beeinflussung der gesellschaftlichen Situation in der Ukraine nur dann erfolgreich sein könnten, wenn sie nicht nur auf politischer Ebene sondern auch in der ukrainischen Rechtskommunikation und der Gesellschaft allgemein anschlussfähig seien. Die Protestbewegungen des Euromajdan wiederum erscheint mit Luhmann als eine Folge der politischen Monopolisierungsbestrebungen Janukovyčs, die zu einer Einengung des politisch behandelbaren Themenspektrums geführt habe, so dass die Majdanbewegung die Fähigkeit des politischen Regimes zur kollektiv bindenden Entscheidungsfindung infrage stellte und durch eine Revolution stürzte.

Insgesamt erwies sich die interdisziplinäre Ausrichtung des Workshops als gewinnbringend, da die TeilnehmerInnen neue Einblicke auf ihr Forschungsobjekt über die Ansätze und Vorgehensweisen anderer Disziplinen erhielten. In der abschließenden Aussprache zeigten die Beteiligten großes Interesse, die Kooperation auf weiteren Workshops weiterzuführen, wobei zukünftige Veranstaltungen jedoch auf ein Thema fokussiert werden sollen, um die Panels kohärenter zu gestalten. Für das nächste Jahrestreffen des Netzwerks wurde etwa „Revolutionen und Widerstandsbewegungen in der Ukraine“ als interdisziplinär betrachtbares Thema gewählt. Des Weiteren sollen im Netzwerk Möglichkeiten für die Beantragung gemeinsamer Forschungsprojekte eruiert werden.

Konferenzübersicht:

Oksana Huss (Universität Duisburg-Essen), Olena Petrenko (Ruhr Universität Bochum): Begrüßung, Kennenlernen, Inhaltliche Einführung zum Thema des Workshops

Marian Luschnat-Ziegler (Universität Hamburg): Anknüpfung an den Vorgänger? Die Erinnerung an die nationale Revolution von 1917-1920 in der modernen Ukraine

Jan-Hinnerk Antons (Universität der Bundeswehr Hamburg): Ukrainische DP-Camps im Nachkriegsdeutschland als Treibhäuser der Nationsbildung

Tatiana Samorodova (Universität Hamburg): Neuinterpretation der Geschichtsbilder in den post-sowjetischen ukrainischen Schulbüchern

Oleksandr Zabirko (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Die Vergangenheit in der Zukunft: Retro-Moderne als Trend Post-Sowjetischer Massenliteratur

Stephan Stach (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Konflikt und Kooperation - die ukrainisch-polnischen Beziehungen im 20. und 21. Jahrhundert

Kateryna Bosko (Universität Bremen): The role of negative framing in hybrid regimes: case study of gas politics in Ukraine

Oksana Huss (Universität Duisburg-Essen): Politische Korruption im Wandel

Steffen Halling (Uni Bremen und Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin): Transformation oder Persistenz? Die politische Rolle der Oligarchen

Karina Shyrokykh (Ludwig-Maximilians-Universität München): Limits of external governance: explaining the limited effect of the EU on the human rights situation in Ukraine

Jakob Mischke (Westfälische Wilhelms-Universität Münster und Universität Wien): System und Protest in der Ukraine

Resümee
Gemeinsame Diskussion über die Perspektiven des Netzwerkes
Ausblick


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