Creative Selection. Emending and Forming Medieval Memory

Creative Selection. Emending and Forming Medieval Memory

Organisatoren
Gerald Schwedler / Sebastian Scholz, Historisches Seminar, Universität Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
03.11.2016 - 05.11.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Miriam Czock, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Der enge Zusammenhang von Geschichte und Erinnerung ist in der Geschichtswissenschaft unumstritten. Die Frage nach der Herausbildung von Erinnerung ist daher eines der zentralen Themen der Geschichtsforschung. Dabei wird Erinnerung jedoch häufig auf eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit verkürzt, während die Bedeutung des Vergessens bislang unterschätzt ist. Die weiterführende Frage, inwiefern Erinnern, Selektion und Vergessen gemeinsam gedacht und aufeinander bezogen werden können, stand daher im Mittelpunkt der vom 3. bis 5. November an der Universität Zürich durch Sebastian Scholz und Gerald Schwedler veranstalteten Tagung. Mit der Wahl des Themas nahmen die Veranstalter bewusst Bezug auf das 1994 erschienene Buch „Phantoms of Remeberance“ von Patrick Geary und warfen die fruchtbare Frage auf, wie man Gearys Erkenntnisse vor allem in Bezug auf frühmittelalterliche Phänomene neu perspektivieren und erweitern kann.

In seiner Einleitung der Tagung thematisierte SEBASTIAN SCHOLZ (Zürich) grundlegende Züge des Modells der „Phantoms of Remeberance“, das Patrik Geary vor allem für das 11. Jahrhundert entworfen hat. In Bezug auf Erinnerung ist zu fragen, wer sie bewahrt, auslöschen und verändern kann. Im Zentrum von Erinnerungsfragen stünden so die Intentionalität, mit der Erinnerung geschaffen wurde, jedoch auch der Umgang mit Erinnerung und ihr Inhalt. Für die Geschichtswissenschaft ist die Erinnerung von besonderem Interesse, da sie vergangenheitsbezogen ist und gleichzeitig für die Gegenwart nutzbar gemacht wird. Er machte diese Gedanken an einem Beispiel zur Papstgeschichte fruchtbar, indem er zeigte, wie der Rechtsinhalt eines Briefes Julius‘ I. aus dem Jahr 341 in den nächsten Jahrhunderten erst durch Sokrates und Sozomenos, dann durch Cassiodor und noch später in den pseudoisodorischen Fälschungen aufgenommen und jeweils mit neuem Material verknüpft wurde, um dann an das Hochmittelalter weitergereicht zu werden.

Im Anschluss hieran formulierte GERALD SCHWEDLER (Zürich) ebenfalls einige einleitende Gedanken. Er legte den Schwerpunkt stärker auf die mit der Erinnerung verbundene Selektion, da jene zum Wesen der Geschichtsschreibung gehöre. Selektion sei schon ein bewusst eingesetztes Mittel frühmittelalterlicher Historiographen gewesen. Während die Selektion – also die aktive Produktion von Erinnerung – positiv besetzt gewesen sei, sei dies mit dem Vergessen (omissio und oblivio) anders gewesen. Das Vergessen wäre als unkontrollierbar und teuflisch angesehen worden. Die Gedanken Gearys aufnehmend, plädierte er dafür, dass nicht nur das Erinnern beleuchtet werden solle, sondern auch die Strukturen des Vergessens herausgearbeitet werden müssten. Allerdings müsse die Forschung unterscheiden zwischen dem, was unreflektiert vergessen wird und nicht zum Gegenstand von Geschichte erhoben werden kann und dem reflektierten Erinnern, das zwar flüchtig und anfällig für Veränderungen und Manipulationen war, jedoch Spuren hinterlässt, die zu einem späteren Zeitpunkt und aus einer anderen Perspektive ausgewählt und neu zusammengestellt werden können.

In eindrucksvoller Weise nahm PARTICK GEARY (Princeton) in seinem Vortrag verschiedene Facetten seiner Überlegungen wieder auf, die er in „Phantoms of Remeberance“ entwickelt hatte. Er eröffnete neue Perspektiven, indem er zeigte, welche Anknüpfungspunkte die Forschung bisher genutzt hat und wie sie sich weiterentwickeln lassen. Nach der Erörterung methodischer Grundlagen wandte er sich verschiedenen Formen der Erinnerung zu und legte verschiedene Aspekte familiärer, archivalischer, institutioneller und politischer Erinnerung dar. Beispielsweise bemerkte er, dass die Repräsentation der Rolle der Frauen für die familäre memoria sich in der Erinnerung der Cluniazenser von den vorherigen Repräsentationsstrategien abhob. Er hob hervor, dass das Vergessen von besonderem Interesse sein sollte, beziehungsweise ein Fokus auf der sozial gereinigten Erinnerung liegen sollte, da sich hierdurch ganz neue Bilder der mittelalterlichen Gesellschaft ergäben. Mit der Untersuchung von Erinnern und Vergessen verknüpfte er die grundsätzliche Aufgabe des Historikers, die Gründe für die Akzeptanz einer bestimmten Version der Vergangenheit und damit die Formung einer bestimmten Identität in der jeweiligen Gegenwart zu beleuchten.

WALTER POHL (WIEN) hob die Bedeutung des Buches Gearys hervor und fragte nach der Übertragbarkeit des Konzeptes der „Phantoms of Remeberance“ auf Modelle von Identität im Zusammenhang mit Ethnizität. Der Faktor der Erinnerung spielt auch hierbei eine bedeutende Rolle, da Identitäten nicht nur von Zeitgenossen be- (bzw. ge-) schrieben wurden, sondern Identitäten einer fernen Vergangenheit heraus konstruiert werden und in der Gegenwart ambivalent sein könnten. Es sei daher auch notwendig, Brüche und unterschwellige Formungen ernst zu nehmen, nicht nur die offensichtlichen Unterscheidungen zwischen den Völkern in den Mittelpunkt der Untersuchungen zu rücken. Er betonte unter anderem mit dem Blick auf Erchembert von Montecassino, dass durch die Identität die Historiographie geformt wurde, eben nicht nur die Identität durch die Historiographie.

Jonas von Bobbio als einem Erzähler mittelalterlicher Erinnerung wandte sich IAN WOOD (Leeds) zu. Er untersuchte die Dynamik der Erinnerung Jonas’, die von seinen Lebensumständen geprägt gewesen ist. So haben Jonas’ Werke ganz unterschiedliche Schwerpunkte. In der „Vita Columbani“ war die gallo-römische Zeit als eine Zeit des Verfalls geschildert worden, wahrscheinlich entgegen der Realität, um das columbanische Mönchtum in besonders positivem Licht erscheinen zu lassen. Während die „Vita Johannis“ und auch die wahrscheinlich von Jonas verfasste „Vita Vedasti“ das Bischofsamt mehr in den Mittelpunkt rückten. Während Jonas die „Vita Columbani“ am Beginn seiner Karriere schrieb, in dem es ihm darum ging das Mönchtum zu stärken, stammen die späteren Werke aus einer Zeit in der er selber Autorität inne gehabt habe.

Anhand der Überlieferung zu König Gundemar und dem von ihm einberufenen Konzil von Toledo vom 22. Oktober 610, beschrieb MICHAEL J. KELLY (NEW YORK) wie durch die Kontrolle der Vergangenheit Zukunft gestaltet wurde. Im Zentrum seines Interesses stand dabei die Prägung eines Bildes Gundemars durch das Vergessen. In seinem Vortrag zeigte er, wie Isidor von Sevilla, obwohl er ein Unterzeichner des Konzils gewesen ist, durch die Kennzeichnung Gundemars als schlechtem König und der Auslöschung der Erinnerung an seine konziliare Tätigkeit das Bild Gundemars, trotz anders lautender Berichte durch zum Beispiel Julian von Toledo, auf Jahrhunderte hinaus prägen konnte.

Um textuelle Strategien ging es auch STEFFEN DIEFENBACH (Konstanz), er beleuchtete die formative Rolle der kommunikativen Stile der Briefkultur und Hagiographie im post-römischen Gallien mit Blick auf Begleitschreiben verschiedener Viten. Er stellte die Frage, wie memoriale Vernetzungsstrategien der Eliten sich auf die Textproduktion auswirkten und wie aus den Texten wiederum abzulesen ist, wie gesellschaftliche Führungsansprüche in der sich wandelnden Gesellschaft durch memoria der Lebenden und Toten sowie die Vernetzung durch Kommunikation umgesetzt wurden. Zentrales Motiv in der Vernetzung sei die kollektive Selbstheiligung gewesen, die durch memoria und durch Zuschreibung von Heiligkeit, die wiederum die Lebenden einschloss, hergestellt worden sei.

Mit dem dynamischen Verhältnis von Auswahl und sozialem Rahmen beschäftigte sich HELMUT REIMITZ (PRINCETON) anhand frühmittelalterlicher Genealogien. Er stellte fest, dass die Erinnerung an die merowingische Dynastie nicht in erster Linie auf biologische Faktoren gestützt war, sondern auf der Anerkennung beruhte, also dem politischen Konsens. Im Gegensatz dazu habe sich in karolingischer Zeit ein Bewusstsein für die Konstruktion der Genealogie und damit auch der Erinnerung herausgeschält, das sich in mannigfaltigen im Aufbau und Inhalt durchaus verschiedenen, die jeweilige politische Situation berücksichtigenden, Königskatalogen ausdrückte, die mitunter auch die Merowinger mit aufnahmen und so eine doppelte Kontinuität konstruierten.

Ebenfalls mit Auflistungen, nämlich mit verschiedenen Quellen in denen die königliche Entourage verzeichnet wurde, beschäftigte sich PHILIPPE DEPREUX (Hamburg). Er legte mit Blick auf so unterschiedliche Werke wie beispielsweise die „Vita Karoli magni“, Dhuodas „Liber manualis“ und dem Gedicht „In honorem Hludowici“ dar, dass den Auflistungen keine allgemeingültige Strategie zugrunde lag. Vielmehr reichten die Erinnerungsstrategien von der damnatio memoriae bis zur selektiven Auswahl. Da die Listen aber gerade durch die Auswahl und Anordnung Argumente schafften, plädierte er dafür, jede Liste als Einzelfall wahrzunehmen und die Erklärungsmodelle der Vielfalt der Möglichkeiten des Umgangs mit der Erinnerung anzupassen.

Mit einer einzelnen Rechtsammlung und den darin zu findenden verschiedenen Schichten der Erinnerung beschäftigte sich STEFAN ESDERS (Berlin). Er arbeitete heraus, dass nicht nur Urkunden, sondern auch Recht Teil der archivalischen Erinnerung war. Auch Recht wurde durch spezifische Auswahlprozesse geprägt, denen wiederum politische Verhältnisse und jeweils gegenwärtige Fragen zugrunde lagen. Während sich im merowingisch Teil der Sammlung beispielsweise der Versuch abzeichnet, römisch-provinziale Strukturen zu kirchlichen umzuformen, reflektiert die in karolingischer Zeit angelegte Sammlung ebenso erste Schritte zu einer karolingischen Rechtsschule. Eine weitere Schicht sind die Gebrauchsspuren aus dem 9. Jahrhundert in Form der Randglossen, die wiederum zeigen, wie erinnertes Recht für die Gegenwart nutzbar gemacht wurde.

Die Bibel und vor allem das Alte Testament stellte in karolingischer Zeit zahlreiche Vorbilder für Normen, daher setzte sich GERDA HEYDEMANN (Berlin) in ihrem Vortrag mit den Gründen für die Wahl und Adaption bestimmter alttestamentarischer Vorbilder in der karolingischen Exegese und deren Bedeutung für die Vorstellung von Vergangenheit auseinander. Sie zeigte, dass nicht nur das Alte Testament als Vorlage genutzt wurde, sondern in Berufung auf das Neue Testament auch die Möglichkeit zur Distanzierung sowie Diskussion gegeben habe und so unterschiedliche Ebenen der Vergangenheit für die normativen Setzungen der Gegenwart nutzbar gemacht wurden.

JÖRG SONNTAG (Dresden) wandte sich der Erinnerung in religiösen Gemeinschaften zu. Er beschrieb zwei Stränge der Erinnerung. Zum einen die Festlegung der Erinnerung in den Regeln und Regelkommentaren, die durch ihre Ausführung in Ritualen Überzeitlichkeit produzierten, zum anderen jedoch auch Überzeitlichkeit beanspruchten. Zum anderen beleuchtete er, wie wandelbar die Erinnerung der Orden war. So sei zum Beispiel das systematische Umschreiben und Vergessen in Bezug auf die Gründergestalten festzustellen. Anhand des Beispiels der Wilhemiten legte er dar, dass das Vergessen einer Institution nicht unbedingt das Vergessen einer anderen Institution miteinschloss. Letztlich forderte er dazu auf, das Spannungsfeld von individueller und institutionalisierter Erinnerung genauer auszuleuchten.

In seiner Schlusszusammenfassung nahm GORDON BLENNEMANN (Montréal) die einzelnen in den Vorträgen erörterten Probleme auf und nahm nochmals den engen Zusammenhang von Erinnerung und Geschichte auf. Als Historiker seien wir verantwortlich, was wir der Öffentlichkeit als Erinnerung zur Verfügung stellen. Die Tagung habe veranschaulicht, wie sehr die Gegenwart von der Erinnerung beeinflusst wird, deshalb müssten wir hinterfragen, wie wir die Erinnerung in der Gegenwart formen und welche Formen der Erinnerungskultur sinnvoll seien. Grundsätzlich sei in Bezug auf Erinnerung immer die Frage nach Konventionen und Macht zu stellen, welche die Erinnerung formen. Jedoch sei es nicht einfach, den Entscheidungsmomenten für die eine oder andere Erinnerung auf Spur zu kommen. Gerade aber die Latenz der Erinnerung und unbewusste Transformationsprozesse müssen durch die Historiker sichtbar gemacht werden. Gleichzeitig dürfe es den Historikern nicht nur um das Erinnern gehen, sondern auch um die Sichtbarmachung des Vergessens – vielleicht eher als negative Erinnerung –, beziehungsweise des Vergessen-machens, da dieses ebenso zur Geschichte der Erinnerung gehöre.

Die Tagung hat prononciert gezeigt, dass sich aus der Perspektive der Frage nach dem Zusammenhang von Selektion, Erinnerung und Vergessen ganz neue Facetten für die Geschichtswissenschaft eröffnen. Sie schärft das Bewusstsein dafür, dass weder die auf uns gekommenen Texte, noch die materielle Überlieferung, einfach nur Erinnerung sind, sondern sie ebenso eine Auswahl von zu Erinnerndem und zu Vergessendem spiegeln. Es hat sich gezeigt, dass erst eine Erinnerung und Vergessen integrierende Sichtweise den Formungen, Verformungen und Umformungen in der Überlieferung auf die Spur kommt. Die Tagung hat damit nachdrücklich demonstriert, wie wichtig es ist, sich mit der kreativen Selektion auseinanderzusetzten, da diese unsere Geschichtsbilder nachhaltig prägt.

Konferenzübersicht:

Gesine Krüger (Zürich): Welcome Address
Gerald Schwedler (Zürich) / Sebastian Scholz (Zürich): Introduction

Patrick Geary (Princeton): Remembering and Forgetting Phantoms of Remembrance: Social Memory and Oblivion in Medieval History after Twenty Years

Walter Pohl (Wien): Phantoms of Identity in Early Medieval Historiography

Ian Wood (Leeds): The selective Memory of Jonas of Bobbio

Michael J. Kelly (New York): Gundemar the Ghost, Isidore the Historian: Rethinking Visigothic History from the Whispers of its Literature

Steffen Diefenbach (Konstanz): Briefkultur und Hagiographie. Eliten und memoriale Vernetzung im poströmischen Gallien

Helmut Reimitz (Princeton): Erinnern und Vergessen in den Genealogien der Karolinger

Philippe Depreux (Hamburg): 'In ornamento totius palatii?' Selektive Wahrnehmung der königlichen Entourage in frühmittelalterlichen Quellen

Stefan Esders (Berlin): Überlegungen zur Materialauswahl und-aufbereitung in frühmittelalterlichen Kirchenrechtssammlungen

Gerda Heydemann (Wien/Berlin): Old Testament and New Law: Biblical Past(s) and Biblical Norms in Carolingian Law and Exegesis

Jörg Sonntag (Dresden): Phantoms of Remembrance in Medieval Religious Life

Discussion
Gordon Blennemann (Montréal): Final Remarks


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