Vorbeugen, managen, einhegen: Das Militär und seine Risiken (1880-1980)

Vorbeugen, managen, einhegen: Das Militär und seine Risiken (1880-1980)

Organisatoren
Peter Itzen, Birgit Metzger, Freiburg Institute for Advanced Studies; Anne Rasmussen, University of Strasbourg Institute for Advanced Study
Ort
Strasbourg
Land
France
Vom - Bis
17.10.2017 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Pascal Lienhard, Freiburg

Die Unfall- und Risikoforschung eröffnet der Geschichtswissenschaft neue Perspektiven auf unterschiedliche Themenfelder. Dementsprechend ist dieser Komplex in den vergangenen Jahren in verschiedenen Teildisziplinen ins Blickfeld geraten. Ein ergiebiges Feld sind militärische Institutionen im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert. Mit diesem Thema befasste sich ein von Peter Itzen, Birgit Metzger (beide FRIAS, Freiburg Institute for Advanced Studies) und Anne Rasmussen (USIAS, University of Strasbourg Institute for Advanced Study) in Straßburg organisierter Workshop. Unter dem Titel „Prévenir, gérer, contrôler : les armées face au risque (1880-1980) / Vorbeugen, managen, einhegen: das Militär und seine Risiken (1880-1980)“ wurde eine Vielzahl an Themen angerissen und diskutiert. Die Tagung entstand im Kontext des gemeinsamen Forschungsprojektes „Soldiers out of control: An entangled history of accidents in the French and German military“. In diesem Rahmen fand bereits im vergangenen Jahr ein Workshop zu Unfällen und der Rolle des Staates statt. Nun wurden technische, gesundheitliche und ökologische Risiken des „langen 20. Jahrhunderts“ auf militärische Institutionen in Interaktion zwischen Technowissenschaften und Gesellschaft reduziert.

Zu Beginn führten Rasmussen und Itzen in das Thema ein. ANNE RASMUSSEN (Straßburg) verwies auf Punkte, die eine Untersuchung des Wechselspiels zwischen Militär und Risiken interessant machten: Das Risiko sei militärischen Aktionen stets inhärent, zudem basiere das Militär auf einem Gesellschaftsvertrag: Der Soldat riskiere sein Leben, für ihn bestehe ein unvermeidliches Risiko. Gleichzeitig solle das Militär ihn vor vermeidbaren Gefahren schützen. Als besonders wichtiges Thema nannte Rasmussen die soziale Akzeptanz von Risiken und die Schwelle zwischen hinnehmbaren und nicht hinnehmbaren Risiken. Eine besonders interessante Frage sei daher die Transformation des Risikos im Laufe des 20. Jahrhunderts. Der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich biete sich an, da die Geschichte des Militärs eine „histoire croisée“ darstelle.

PETER ITZEN (Freiburg) ging in seinem einleitenden Referat auf das Verhältnis zwischen Alltagsrisiken und dem modernen Staat im 20. Jahrhundert ein. Er stellte dabei die These auf, dass die Auseinandersetzung mit Alltagsrisiken als zentrales Handlungsfeld des modernen Staates diesen selbst erst mitgeschaffen hätte beziehungsweise diesen massiv anwachsen ließ. Durch eine entstehende Wachstumsgesellschaft habe der Staat eine neue Rolle im Umgang mit Risiken erhalten. Das Ende der Knappheitsgesellschaft habe die Voraussetzungen für neue Handlungskapazitäten des Staates geschaffen. In diesen gewachsenen Handlungskapazitäten sah Itzen ein zentrales Merkmal des modernen Staates. Seine Erkenntnisse zur Zivilgesellschaft ließen sich seiner Meinung nach zum Teil – allerdings in abgeschwächter Form – auch auf das Militär, eine besondere Sphäre des Staates, übertragen.

HEINRICH HARTMANN (Basel) gab eine frühe Einsicht in seine Forschungen zur Definition militärischer Risiken in Deutschland und der Schweiz im späten 19. Jahrhundert. In diese Zeit falle ein fundamentaler Umbruch in der Handhabung von Technik, der von einer strukturellen Veränderung des Militärs als zentraler Institution in den westeuropäischen Gesellschaften begleitet wurde. Dabei verwies Hartmann auf die Umstellung auf neue Waffentechnik und neue kleinkalibrige Gewehre, die zwischen den 1860er-Jahren und den 1890er-Jahren in fast allen europäischen Armeen stattfand. Das Risiko falschen oder unzureichend erlernten Umgangs mit Technik sei eine gesellschaftliche Frage gewesen. Dabei ging Hartmann auf drei Elemente im Kontext des Risikos neuer Waffentechnik ein: Dem falschen Einsatz in Konfliktsituationen sollte durch Übung und Disziplinierung entgegengewirkt werden. Das Unfallrisiko für Soldaten bei mangelhafter Handhabung sei dagegen kaum ein Thema gewesen, die Minimierung des Risikos für Rekruten habe nicht im Mittelpunkt gestanden. Zuletzt ging Hartmann auf die Gefahr durch neue Einschüsse und Einschusskanäle ein und verdeutlichte, dass die neuen Gewehre neue Verletzungen verursachten. Hier nannte er Militärärzte als Hauptakteure der Beurteilung und Bewertung neuer Waffensysteme.

ANDREA VON HOHENTHAL (Freiburg) thematisierte in ihrem Vortrag die Verwertung militärpsychologischer Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Großbritannien. Dabei ging sie davon aus, dass das Risiko menschlichen Versagens im Militär in beiden Ländern durch psychologische Aktivitäten auf den Gebieten der Selektion, des Trainings und der effektiven Therapie psychischer Störungen gemindert werden sollte. Dabei sei es den Psychologen und Psychiatern jedoch lediglich um das militärische Ziel und nicht um den einzelnen Menschen gegangen.

FRÉDÉRIC VAGNERON (Zürich) beschäftigte sich mit der französischen Armee, die im Frühjahr und Herbst 1918 mit einer schrecklichen Grippeepidemie konfrontiert war, die als „spanische“ Grippe bekannt wurde. Schon zum Ende des 19. Jahrhunderts seien schlechte hygienische Bedingungen als Gesundheitsrisiko für die Armee erkannt worden, epidemische Erkrankungen sollten durch Vorbeugung innerhalb der Armee verhindert werden. Mit Ausbruch des Krieges sei diese Prophylaxe organisatorisch nicht mehr umsetzbar gewesen, Zivilgesellschaft und Armee seien verschmolzen, eine getrennte Krankheitsprävention habe keinen Sinn mehr ergeben. Nach dem Krieg habe sich die Verschmelzung zu einem gewissen Teil zurückentwickelt, eine Rückbesinnung auf eine separate Gesundheitsvorsorge habe gleichwohl nicht stattgefunden.

NILS KESSEL (Straßburg) ging in seinem Kommentar auf vorherige Vorträge ein und formulierte eigene Anregungen und Hypothesen. Aus den Vorträgen von Hartmann und von Hohenthal zog er den Schluss, dass eine geringere Autonomie des Soldaten letztlich eine verstärkte Kontrolle bedeute. Als Fazit aus beiden Referaten zog er die Erkenntnis, dass „das Risiko“ eine potentielle methodische Falle für die Analyse von Fallstudien darstelle. Bei der Besprechung von Vagnerons Thema und den von ihm verwendeten Statistiken verwies Kessel auf den französischen Historiker Alain Desrosières, der davon ausgehe, dass Statistiken Realität reproduzieren, aber gleichzeitig auch genutzt werden, um die Realität zu lenken. Als wichtig betrachtete Kessel den Begriff der Kontrolle.

BYRON SCHIRBOCK (Mainz) ging in seinem Referat auf die deutsche Angst vor Geschlechtskrankheiten im deutsch besetzten Frankreich (1940-1944) ein. Sexuell übertragbare Krankheiten seien von der Wehrmacht als besonders bedrohlich angesehen worden, Sexualität und Prostitution hätten als zentrale Gefährdung für die Besatzungstruppen gegolten. Dies habe nach Schirbock in der Folge zu einer strengen und weitreichenden Kontrolle der Prostitution und zur Etablierung offizieller Wehrmachtsbordelle geführt. Zwar seien potentielle soziale Konsequenzen wie der Transfer devianter Sexualpraktiken nach Deutschland befürchtet worden, die Bedrohung durch Geschlechtskrankheiten sei allerdings als die größere Gefahr angesehen worden.

MANUEL KRECKEL (Freiburg) beleuchtete einen weiteren Aspekt des Zweiten Weltkrieges: die deutschen Risikoerwägungen vor und während des Unternehmens „Barbarossa“ von 1941. Kreckel sah das Unternehmen als militärhistorisches Paradebeispiel für eine unzureichende Risikoeinschätzung. Dabei ging er im Besonderen auf die Lebensmittelversorgung ein. Kreckel analysierte verschiedene Risikobereiche als miteinander verknüpft: Einerseits habe das eigene Heer und das Deutsche Reich versorgt werden müssen, andererseits sei das Hungern der sowjetische Bevölkerung mit der Gefahr einer Unruhe in der Bevölkerung und durch Partisanen verbunden gewesen. Die Vermeidung eines Risikos in dem einen habe zu einem erhöhten Risiko in einem anderen Bereich geführt.

BIRGIT METZGER (Freiburg) führte in ihre Forschung zu Unfällen und Fehlerkulturen im Französischen und Deutschen Militär zwischen 1890 und 1960 ein. Dabei machte sie auf das ambivalente Verhältnis des Militärs zum Risiko aufmerksam. Zum einen würden Unfälle im Militär zu Schlagzeilen führen. Andererseits werbe das Militär gerade auch mit Risiko und greife auf einen positiv besetzten Risikobegriff zurück. Dabei ging sie auch auf die chronologische Ebene ein: Der Unfall sei erst mit dem Ersten Weltkrieg zu einem relevanten Problem geworden. Außerdem machte sie deutlich, dass Unfälle verschiedene Themen streifen können und gerade der Vergleich zwischen deutschem und französischem Militär sehr fruchtbar sein kann.

CHRISTOPH NÜBEL (Potsdam) verglich in seinem Vortrag anhand von Unfällen das Risikomanagement der Bundeswehr mit dem der Nationalen Volksarmee (NVA). Dabei ging er von der Grundannahme aus, dass in den Jahren zwischen 1956 und 1990 im Militär eine Tendenz zur „Versicherheitlichung“ festzustellen sei. Nübel bezeichnete „Sicherheit“ als Leitidee der beiden Militärinstitutionen, sie hätten Legitimation und Selbstverständnis aus der Fähigkeit gezogen, Sicherheit zu schaffen. Er gelangte zu dem Schluss, dass Unfälle einen enormen Handlungsdruck schufen, da etwas zur Erhöhung der Sicherheit getan werden musste. Allerdings hätten sich die Maßnahmen zur „Versicherheitlichung“ oft als dysfunktional erwiesen. Dennoch sei es der Bundeswehr im Gegensatz zur NVA gelungen, Opferzahlen von Unfällen zu senken.

Abschließend zog JÖRG ECHTERNKAMP (Halle-Wittenberg / Potsdam) einige Schlussfolgerungen aus den Vorträgen. Er ging davon aus, dass es wichtig sei, mit bestimmten Kategorien auf das untersuchte Thema zu blicken. Dabei sah er die Verbindung mehrerer Disziplinen am Werk. Im Besonderen ging er auf drei Punkte ein, die ihm bei den Referaten zum Risiko im militärischen Kontext besonders aufgefallen seien: die prozessuale beziehungsweise chronologische Dimension, das Verhältnis des Militärs zur Zivilgesellschaft und die Verbindung zu Gruppen wie Experten.

Konferenzübersicht:

Anne Rasmussen (Straßburg): De l’inévitable à l’intolérable : l’institution militaire face aux risques, 19e-20e siècles

Peter Itzen (Freiburg): Alltagsrisiken und der moderne Staat in der Geschichte des 20. Jahrhunderts

Heinrich Hartmann (Basel): Unsichtbare Einschüsse. Vom Neudefinieren militärischer Risiken in Zeiten technologischen Wandels – Deutsche und Schweizer Erfahrungen im späten 19. Jahrhundert

Andrea Gräfin v. Hohenthal (Freiburg): Risiko Psyche? Verwertung militärpsychologischer Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und Großbritannien

Frédéric Vagneron (Zürich): Un danger sans risque ? Les représentations de la menace grippale dans l'armée française (1918-1919)

Nils Kessel (Straßburg): Commentaire

Byron Schirbock (Mainz): Die Angst vor Geschlechtskrankheiten – Wehrmachtsbordelle im deutsch besetzten Frankreich 1940-44

Manuel Kreckel (Freiburg): Vabanque oder Hungertod? Risikoerwägungen vor und während des Unternehmens „Barbarossa“ 1941 unter Berücksichtigung der Lebensmittelversorgung

Birgit Metzger (Freiburg): Lehrreiche Unfälle oder besondere Vorkommnisse? Verantwortung und Fehlerkulturen im deutschen und französischen Militär

Christoph Nübel (Potsdam): „Unfälle sind keine Zufälle“. Zum Risikomanagement in der Bundeswehr und Nationalen Volksarmee

Jörg Echternkamp (Halle-Wittenberg / Potsdam): Conclusions


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Französisch, Deutsch
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