Zwischenräume II – Raumvorstellungen und Raumpraktiken im Heterochronotopos

Zwischenräume II – Raumvorstellungen und Raumpraktiken im Heterochronotopos

Organisatoren
Muriel González Athenas, Ruhr-Universität Bochum; Monika Frohnapfel-Leis, Universität Erfurt; Sabine Schmolinsky, Universität Erfurt; Erfurter RaumZeit-Forschung, Universität Erfurt
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2017 - 25.11.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Tim Thierbach, Lehrstuhl für Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit, Universität Erfurt

Der Workshop „Zwischenräume II – Raumvorstellungen und Raumpraktiken im Heterochronotopos“ bildete die Fortsetzung des ein Jahr zuvor durchgeführten Workshops „Räume des Religiösen: Zwischenraum, third space oder Heterotopie?“. Den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses beider Workshops bildete die übergeordnete Fragestellung, inwiefern Raumkonzepte beispielsweise aus den Literaturwissenschaften für historische Untersuchungen fruchtbar gemacht werden könnten.

Während 2016, basierend auf den theoretischen Überlegungen Michel Foucaults zu Heterotopien und Homi K. Bhabhas zu dritten Räumen und Zwischenräumen, Handlungsspielräume von religiösen Subjekten betrachtet wurden, ging es im zweiten Workshop schwerpunktmäßig um Raum-Zeitlichkeiten, welche ebenfalls als eine Spielart von Zwischenräumen angesehen werden können, und zwar um solche heterotoper Art. Als theoretischer Unterbau hierfür fungierte die Denkfigur des Chronotopos des Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin in Verbindung mit Michel Foucaults Ausführungen zu „anderen Räumen“. Vorrangiges Ziel war es, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, inwiefern die Synthese der Konzepte von Heterotopie und Chronotopos, ausgedrückt im Neologismus „Heterochronotopos“, neue Perspektiven in der historischen Forschung eröffnen könne.

MARTIN J. M. BAMERT (Leipzig) machte den Auftakt mit seinem Vortrag. Er zeigte am Beispiel eines Tempelprojekts in Māyāpur, das sich aktuell in West-Bengalen im Bau befindet, wie sich in Indien eine Re-Sakralisierung des Raums, der Geographie und Topographie vollziehe. Der Bau des Tempels erfolgt durch die hinduistische Reformbewegung „International Society for Krishna Consciousness“ (ISKCON). Diese formierte sich 1966 und sieht sich in der Traditionsfolge von Śrī Caitanya Mahāprabhus, welcher zu Beginn des 16. Jahrhunderts die bengalische Bhakti-Bewegung begründete. Mit dem Großbauprojekt in Māyāpur, dem Geburtsort des Mystikers Caitanya, solle eine ca. 500 Jahre alte Prophezeiung erfüllt werden, die mit der vedischen Zeitrechnung in engem Zusammenhang stehe. Die ISKCON wiederum leitet daraus eine Selbstlegitimation ab. Bamert veranschaulichte, dass sich in der Architektur des Monumentalbaus Elemente bengalischer Tempelarchitektur mit westlichen sakralen und säkularen Komponenten verbinden. So fänden sich beispielsweise deutliche Parallelen zum Capitol in Washington. Interessant sei in diesem Zusammenhang, dass die Funktion des Tempels nicht hauptsächlich in der Verehrung, sondern in der religiösen Bildung von Laien liege. In dieser „Beschwerung“ des Raums mit monumentalen Bauwerken einerseits und in der Entwicklung und Besetzung von Narrativen anderseits sieht Bamert eine Umdeutung von RaumZeit, wodurch sich ein neuer religiöser Heterochronotopos ausbilde. Das Konzept des Heterochronotopos ermögliche es hierbei, verschiedene Ebenen besser zu verknüpfen und verstehen zu können. Lohnenswert scheine es außerdem, Kategorien wie „Gender“ in Bezug auf die ISKCON mit einzubeziehen.

Es folgte NINA KREIBIG (Berlin) mit ihrem Vortrag. Sie erläuterte zunächst die Entstehungshintergründe und Charakteristika von Leichenhäusern im 19. Jahrhundert. So lagen die Gründe für die Errichtung dieser Gebäude einerseits in einer weitverbreiteten Furcht innerhalb der zeitgenössischen Bevölkerung vor dem lebendig Begrabenwerden und in dem Fehlen sicherer Todesmerkmale – ein Problem, welches auch in heutigen Tagen noch besteht – und anderseits in der Sorge um die Ausbreitung von Seuchen. Anhand eines Kriterienkatalogs aus dem Jahr 1808 erläuterte Kreibig einige Merkmale der Leichenhäuser. Dazu zählten etwa die deutlich sichtbare räumliche Distanz zu den Lebenden wie auch eine ausreichende Belüftung und Beheizung der Räumlichkeiten. Anschließend legte sie dar, dass für die wissenschaftliche Auseinandersetzung die Leichenhäuser sowohl im Sinne Foucaults als Heterotopien bezeichnet werden könnten als auch im Sinne Bachtins, da sie einen chronotopen Charakter mit mehreren verflochtenen bzw. ineinandergreifenden Chronotopoi, wie zum Beispiel Begegnung und Weg, aufwiesen. In Bezug auf die Zweckmäßigkeit des Heterochronotopos-Konzepts betonte Kreibig in ihrer Schlussbetrachtung, dass sich ein heterochronotoper Charakter generell ergäbe, sobald der Aspekt der Zeitlichkeit gegenüber den Heterotopien stärker fokussiert werde.

FLORIAN DIRKS (Erfurt / Bremerhaven) widmete sich anschließend „raum-zeitlichen Merkmalen im früh- und hoch-mittelalterlichen Westfrankenreich (9.-11. Jahrhundert)“. Maßgeblich für den betrachteten Zeitraum sei die Transformation von Grafschaften, die dem König unterstanden, zu eigenständigen politischen Akteuren, die ihrerseits Herrschaftsanteile einforderten. Aufgrund dessen bildeten sich differenzierte zeitgenössische Vorstellungen von herrschaftlichen Räumen heraus, welche sich in raumzeitlichen Kategorien in den Quellen niederschlugen. Beispiele für Materialisierungen solcher Herrschaftsräume und deren Konkurrenz untereinander seien beispielsweise Klöster, Befestigungen und Residenzen. Dirks interessierte zudem, inwiefern Zwischenräume existierten. Aufschlussreich dafür seien vor allem Jahrbücher, aus denen man erkennen könne, dass sich insbesondere geistliche Räume wie Pfarreien und Diözesen bisweilen überlappten und dadurch Zwischenräume ausbildeten. Weltliche und geistliche Räume haben jedoch, so Dirks, in der Peripherie nicht ineinandergegriffen. Ebenfalls als Zwischenräume könnten Marken gelten, die an den Grenzen von Reichen besondere Privilegien, hauptsächlich zu Verteidigungszwecken, innehatten. Einen zeitlichen Aspekt sah Dirks u.a. darin, dass die Herrschaftssicherung durch Anwesenheit vor Ort zu bestimmten Zeiten stattfand.

Der erste Tag des Workshops schloss mit dem öffentlichen Abendvortrag von CHRISTIAN TIETZE (Potsdam / Weimar) zum Thema „Räume in einer altägyptischen Stadt – Amarna und seine Sozialstruktur“. Tietze stellte zunächst heraus, dass die Stadt Amarna, die von Pharao Echnaton zu Ehren des Gottes Aton errichtet wurde, besonders wertvoll für die Analyse der altägyptischen Sozialstruktur sei, da sie innerhalb von wenigen Jahren geplant und erbaut und bereits nach 17 Jahren wieder aufgegeben wurde. Die Grabungen in Amarna seien daher einmalig, weil sie nicht wie normalerweise mehrere Zeitschichten offenbarten, sondern tatsächlich nur eine einzige. Ihre architektonische Gestaltung sei somit eine Blitzlichtaufnahme der ägyptischen Gesellschaft zur Regierungszeit Echnatons. Im Laufe des Vortrags wurden u.a. verschiedene Wohngebäudetypen, die Archäologen vor Ort ausgruben, vorgestellt. Anhand von Grundrissen und anderen Indikatoren wie beispielsweise der Wandstärke können Rückschlüsse auf den sozialen Status der Bewohner gezogen werden. Auf Grundlage der statistischen Auswertung der vorgefundenen Gebäude könne außerdem die Verteilung der Bevölkerungsschichten rekonstruiert werden. Auffällig sei, dass diese nicht repräsentativ für die untersuchte Zeit sei, da ungewöhnlich viele Häuser der Mittelschicht freigelegt wurden. Ebenfalls interessant sei, dass sich anhand der Gebäude Rückschlüsse auf Arbeits- und Lebensgemeinschaften ziehen ließen. So existierten Gebäudeanlagen, in denen Arbeitsräume mit komplexen Prozessen und Hierarchien und Wohnräume ineinandergriffen.

Der zweite Tag begann mit MYRIAM NAUMANN (Berlin) und ihrem Beitrag, durch den der Workshop um eine literaturwissenschaftliche Perspektive, die auf den theoretischen Ausführungen Bachtins fußte, erweitert wurde. Basierend auf dem Roman des portugiesischen Schriftstellers José Saramago „Das steinerne Floß“, in dem Iberien physisch von Europa abgespalten wird und als Insel aufs offene Meer treibt, zeigte Naumann zunächst, wie Chronotopoi den Text durchsetzen. Spezifisch interessierten sie sowohl die Chronotopoi, welche durch das Auflösen räumlicher Koordinaten in Bezug auf die stetig abdriftende bzw. umherziehende Insel zustande kommen, als auch die chronotopologische Struktur Iberiens selbst, welches im Roman einen einheitlichen Raum ohne nationalstaatliche Grenzen bilde. Die Paradoxie der sich entfernenden Insel könne als imaginierter Chronotopos verstanden werden, der außerdem mit zahlreichen historischen Fragmenten gespickt sei. Des Weiteren beschäftigte sich Naumann mit der realen historischen Zeit und dem historischem Raum, welche im Roman thematisiert werden. Nicht zufällig seien das Erscheinungsjahr des Romans 1986 mit dem Beitritt Portugals und Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft zusammengefallen. Hier ging es ihr vor allem um die Aneignungsverfahren des Autors. In diesem Zusammenhang sei der Roman als eine postkoloniale Lesart der portugiesischen Vergangenheit zu interpretieren. Abschließend stellte sie Bezüge zu Jacques Derridas Gedanken her, Europa jenseits vom Eurozentrismus von den Rändern her zu denken. Der mögliche Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Anwendung des Neologismus „Heterochronotopos“ bestehe darin, ihn auch abseits von Foucaults Ausführungen als eine weitere Differenzierungskategorie anzuwenden, um dadurch beispielsweise der Analyse von im Roman eingewobenen historischen „Partikeln“ und Personen gerecht zu werden bzw. eine Verdichtung herzustellen.

CHRISTIAN HOLTORF (Coburg) zeigte in seinem Vortrag anhand von Kartenbeispielen aus dem 19. Jahrhundert die Schwierigkeiten des zeitgenössischen Kartographierens des Nordpolarmeeres. Die sich ständig bewegenden Eismassen, wechselnde Winde und Meeresströmungen hätten spezielle Visualisierungstechniken hervorgebracht, die jedoch auch graphisch-technischen Beschränkungen unterlegen hätten. Dabei seien im Wesentlichen drei Arten vorzufinden, wie versucht wurde, die Zeit in den Karten zu visualisieren: durch Symbole und Jahreszahlen, durch das Einzeichnen von Reisewegen (Entwicklungskarten) und durch das Aneinanderreihen mehrerer Karten (Serienkarten). Als besonders interessant bezeichnete Holtorf das Einzeichnen von „Möglichkeitslinien“, wie beispielsweise eine Luftlinie zum Nordpol in einer Petermannkarte von 1865, die u.a. auf Wegräume in der Zukunft hindeuten könnte. Holtorf wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass geographische Punkte wie der Nordpol ebenso wie Breiten- und Längengrade und Zeitzonen generell raumzeitliche Konstrukte seien. Die Anwendung des Heterochronotopie-Begriffes sei daher durchaus sinnvoll für die Analyse der Karten, da zum einen Wendepunkte von Expeditionen in die Karten eingezeichnet wurden und zum anderen Karten raumzeitliche Konstrukte par excellence seien und somit als Heterochrontopien betrachtet werden können.

JULIA MAYER (Würzburg) erörterte in ihrem Vortrag die Möglichkeiten und Grenzen einer Popularisierung von Museen. „Disneyfizierung“ sei ein Begriff, der aus der Architektursoziologie stamme und Inszenierungstechniken der Unterhaltungsindustrie in Bezug auf die Stadtplanung bezeichne. Beispiele hierfür sind der Themenpark Disneyland oder auch die Stadt Celebration City in den USA. Mayer betrachtete das Museum als Heterotopie, in welcher aufgrund der „Disneyfizierung“, die sich dort vor allem durch Digitalisierung und neue Ausstellungstechnologie vollziehe, eine Hyperrealität geschaffen werde, die beim Besucher ein „Flowerlebnis“ auslösen solle. In diesem Zusammenhang zeigte Mayer, wie interaktionistische Konzeptionen wie beispielsweise eine App, durch welche Bilder von van Gogh in ihre Bestandteile zerlegt und farblich verändert werden können, die Partizipationsmöglichkeiten von BesucherInnen erweitern könnten und somit neue interaktive bzw. virtuelle Räume geschaffen würden. Schlussendlich sei von Interesse, wie diese Veränderungen in die Raum-Zeit-Konstellation eingreifen können, und ob dadurch der wesentliche Kern des Ausstellungsobjekts erhalten bleibe. In Bezug darauf dränge sich zudem die Frage auf, inwiefern das Museum als Institution notwendig sei, wenn es digitale Alternativen gebe, wenn es also aufgrund technischer Mittel entbehrlich werde, ins Museum zu gehen. Abschließend stellte Mayer die Frage in den Raum, wie diese Transformationen das Museum als Heterotopie verändern könnten.

In einem Abschlusskommentar fasste SUSANNE RAU (Erfurt) noch einmal einzelne Aspekte der unterschiedlichen Vorträge zusammen, indem sie danach fragte, welchen Mehrwert das Begriffskonstrukt „Heterochronotopos“ bringe. Sie regte zum Nachdenken darüber an, ob wir mit dem Analyseinstrument des „Heterochronotopos“ unseren Beobachtungsgegenstand nicht letztlich auflösen würden. Außerdem setzte sie sich mit dem Einwand auseinander, ob die Trennung von Raum und Zeit physikalisch und philosophisch überhaupt haltbar sei. In der Abschlussdiskussion wurden diese Anregungen aufgenommen und rege diskutiert. Als allgemeines Fazit kann gelten, dass die Anwendung des „Heterochronotops“ als Analysekategorie durchaus vielversprechend für historische Untersuchungen sein könnte. Allerdings müsse immer kritisch geprüft werden, welcher tatsächliche Erkenntnisgewinn dadurch möglich sei. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass es vielerlei Anknüpfungsmöglichkeiten für künftige Fragestellungen gibt. Daher soll die Workshopreihe fortgesetzt werden.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Muriel González Athenas (Bochum) / Monika Frohnapfel-Leis (Erfurt) / Sabine Schmolinsky (Erfurt)

Sebastian Dorsch / Katharina Waldner (Erfurt): Einleitung

Panel 1: Tempel und Leichenhallen
Moderation: Babette Reicherdt (Berlin)

Martin J.M. Bamert (Leipzig): Die Re-Sakralisierung des Raumes in Indien. Die Genese eines neuen Heterochronotopos und der Bau des Temple of the Vedic Planetarium in Māyāpur.

Nina Kreibig (Berlin): Die (Berliner) Leichenhäuser des 19. Jahrhunderts als historische Heterotopien, Chronotopien oder Heterochronotopien? Versuch einer ontologischen Bestimmung.

Panel 2: Chaos und Ordnung
Moderation: Sabine Schmolinsky (Erfurt)

Florian Dirks (Erfurt / Bremerhaven): Raumzeitliche Merkmale im früh- und hochmittelalterlichen Westfrankenreich (9.-11. Jahrhundert)

Reihenpräsentation „SpatioTemporality / RaumZeitlichkeit“ (de Gruyter)

Christian Tietze (Potsdam): Räume in einer altägyptischen Stadt – Amarna und seine Sozialstruktur

Panel 3: Höhlen und Inseln
Moderation: Katharina Waldner (Erfurt)

Myriam Naumann (Berlin): Auf offenem Meer. Chronotopologien der Abspaltung Iberiens von Europa.

Panel 4: Speicher und Archiv
Moderation: Anna-Katharina Rieger (Graz)

Christian Holtorf (Coburg): Kartographien von Bewegung – lässt sich RaumZeit fixieren?

Julia Mayer (Würzburg): Die Disneyfizierung des Museums

Susanne Rau (Erfurt): Kommentar

Abschlussdiskussion
Moderation: Muriel González Athenas (Bochum) und Monika Frohnapfel-Leis (Erfurt)