Globale Ungleichheiten diskutieren — Der Nord-Süd-Konflikt in den internationalen Beziehungen

Globale Ungleichheiten diskutieren — Der Nord-Süd-Konflikt in den internationalen Beziehungen

Organisatoren
Jürgen Dinkel, Universität Leipzig; Steffen Fiebrig, Universität Halle-Wittenberg; Frank Reichherzer, Berlin
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.02.2018 - 17.02.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Johanna Sackel, Arbeitsbereich Zeitgeschichte, Historisches Institut, Universität Paderborn

Was war der Nord-Süd-Konflikt? So lautete eine der zentralen Fragen, die die TeilnehmerInnen und zahlreiche Gäste im Rahmen des von der Fritz Thyssen Stiftung und dem Forum for the Study of the Global Condition geförderten Workshops in Leipzig diskutierten. Die Antwort ist mitnichten so trivial, wie die Frage vorzugeben scheint. Handelte es sich beim Nord-Süd-Konflikt um einen nur kurzen historischen Moment während der 1970er-Jahre, in dem der „globale Süden“ den „globalen Norden“ mit Plänen für eine New International Economic Order (NIEO) herausforderte? Oder zeigen die im zeitlichen und politischen Umfeld des Nord-Süd-Konflikts entstandenen und bis heute existierenden Institutionen, Strukturen und Akteurskonstellationen Kontinuitäten an, die als Vorgeschichte der Gegenwart verstanden werden müssen? Ist der Konflikt somit vielmehr eine Metapher für internationale Aushandlungsprozesse um globale (wirtschaftliche) Schieflagen, deren Wurzeln im Kolonialismus zu suchen sind und, transformiert durch die Dekolonisation, bis heute fortbestehen?

Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Fragen um Definitionen und Kontinuitäten war es ein Ziel des Workshops, zu diskutieren, welche Kontexte den (vermeintlichen) Nord-Süd-Konflikt zu einem solchen machten, wie er verlief, welche Wandlungen er erfuhr, welche Akteure ihn prägten und in welcher Beziehung er zum Ost-West-Konflikt stand. In ihrer Einführung stellten die Gastgeber außerdem die grundsätzliche Frage, inwiefern eine konsistente Erzählung des Nord-Süd-Konflikts angesichts seiner Komplexität und seines Facettenreichtums überhaupt möglich sei. Eine solche Gesamtdarstellung stünde vor der Herausforderung, unterschiedlichste Aspekte und Kontexte ein- und aufeinander beziehen zu müssen. Ein weiteres Ziel des Workshops war es demnach, auszuloten, ob und wie der Nord-Süd-Konflikt auch abseits der durch seine Begrifflichkeit vorgegebenen Semantik erzählbar wird. Dies spiegelte sich in den thematischen Schwerpunktsetzungen der Panels wider, die Institutionen, Debatten, Perzeption und Verarbeitung des Nord-Süd-Konflikts sowie die vielfältigen Beziehungen zwischen und innerhalb der Himmelsrichtungen in den Blick nahmen.

Dass eine regionalhistorische Betrachtung des Nord-Süd-Konflikts viel zu dessen Verständnis beitragen kann, zeigte STELLA KREPP (Bern) am Beispiel der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL / ECLA), deren Personal bei der Theoretisierung der Entwicklungsökonomie eine Vorreiterrolle einnahm. Dabei sei es Ökonomen wie Raúl Prebisch zunächst nicht um eine Fundamentalkritik am liberal-kapitalistischen System gegangen. Vielmehr seien die marxistischen Ideen, die letztlich die Dependenz- und die Weltsystemtheorie formten und für die Formulierung der NIEO eine bedeutende Rolle spielten, als Reaktion auf die autoritäre Wende in den 1960er-Jahren zu verstehen, die außerdem dazu geführt habe, dass die lateinamerikanischen Staaten ihre einflussreiche Position innerhalb des „globalen Südens“ verloren. Lateinamerika entziehe sich der Erzählung von einer „aufständischen Dritten Welt“, betonte Krepp und führte dies zuvorderst auf die durch den „decolonization divide“ verursachten Unterschiede gegenüber erst nach 1945 unabhängig gewordenen Staaten zurück.

Dieser dritten Dekolonisationsphase widmete sich EVA-MARIA MUSCHIK (Berlin). Sie fragte nach der Bedeutung des 1956 vom UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld vorgestellten International Administrative Service, der den Dekolonisierungsprozess organisieren und mit der Entsendung technischer Experten die Entwicklung unterstützen sollte. Hammarskjölds Vorstellungen wurden letztlich nicht umgesetzt, unter anderem weil in Zweifel gezogen wurde, dass es sich bei der zumeist durch westliche Experten unterstützten öffentlichen Verwaltung um eine neutrale Technik handelte. Insofern liege die historische Bedeutung der UN-Initiative darin, eine Debatte darüber angestoßen zu haben, welche Art von internationaler Entwicklungshilfe nötig und zulässig sei und wie der Dekolonisierungsprozess generell verlaufen solle.

Die wohl wichtigste Institutionalisierung des Nord-Süd-Konflikts war die 1964 gegründete United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD), die STEFFEN FIEBRIG (Halle) als eigenständigen Akteur und zentrales Forum der „Dritten Welt“ für die Aushandlung inhaltlicher Aspekte einer NIEO wertete. Die Staaten der G77 hätten als „solidarische Front“ überdies versucht, die UNCTAD für das Abschütteln kolonialer Strukturen zu instrumentalisieren. Interne Spannungen, die Abwehrhaltung der Industriestaaten, steigende Staatsverschuldung sowie die Sonderstellung der OPEC-Staaten und wirtschaftlichen Turbulenzen in Folge des zweiten Ölpreisschocks 1979 hätten jedoch letztlich dazu geführt, dass sich „der Süden“ nach einer kurzen Phase der Frontbildung wieder in Partikularinteressen auflöste und die UNCTAD an Bedeutung verlor.

Auch der intellektuelle Rahmen der NIEO war fragil, wie MICHEL CHRISTIAN (Genf) in seinem Beitrag nachwies. Er sah die Gründe für das Scheitern einer „neuen internationalen Arbeitsteilung“ zum einen in den inneren Widersprüchen des von der UNIDO propagierten industriellen „Umschichtungsprogramms“. So hätten einige Entwicklungsländer befürchtet, dass nach der Verlagerung arbeitsintensiver Industrien von „Nord“ nach „Süd“ die dortige Wettbewerbsfähigkeit nur auf Kosten niedriger Löhne hätte gewährleistet werden können. Marxistische Wirtschaftswissenschaftler hätten außerdem diagnostiziert, dass die Industrialisierung der Entwicklungsländer bisher nicht zu einer veränderten Arbeitsteilung hatte beitragen können, sondern tatsächlich multinationalen Unternehmen der OECD-Staaten die Weltwirtschaft dominierten. Der Ausbau der Zusammenarbeit zwischen souveränen Staaten sei somit sinnlos erschienen.

Die West-West-Perspektive des Konflikts beleuchtete SAMUEL BEROUD (Genf) anhand der OECD und der G7. Er argumentierte, dass der Ölpreisschock und die Deklaration einer NIEO in Europa und den USA als gemeinsame Bedrohungen wahrgenommen wurden und somit zu einer Revitalisierung der transatlantischen Beziehungen während der Ost-West-Détente beitrugen. Gepaart mit der Wiederbelebung des Freihandelsprinzips, kulminierte dies in den von Helmut Schmidt als atlantische Antwort auf die OPEC initiierten G7-Gipfeln, die fortan die internationale ökonomische Agenda beherrschten und die NIEO sowie die UNO insgesamt marginalisierten. Eine Interpretation der 1970er-Jahre als Dekade einer (aktiv vorangetriebenen) neoliberalen Revolution wies Beroud zurück. Den westlichen Staaten sei es in erster Linie um den Erhalt der keyenesianischen Nachkriegsordnung gegangen.

Die analytische Unschärfe des Begriffs Nord-Süd-Konflikt – in nahezu allen Beiträgen durch die Tatsache belegt, dass heterogene Staatsinteressen es kaum zulassen von „dem Norden“ oder „dem Süden“ zu sprechen – explizierte RÜDIGER GRAF (Potsdam). Pointiert trug er die These vor, dass ein Nord-Süd-Konflikt als solcher nicht stattgefunden habe. Zwar seien auf der UN-Generalversammlung 1974 für einen kurzen Moment einheitliche Fronten in „Nord“ und „Süd“ entstanden. Jedoch habe sich die Konfrontation dann in Rhetorik erschöpft, denn die NIEO-Resolution war weder bindend, noch seien Durchsetzungsversuche sonderlich konfliktbehaftet gewesen. Vielmehr habe es sowohl „im Norden“ als auch „im Süden“ massive Differenzen zwischen rohstoffreichen und rohstoffarmen Staaten gegeben. Warum wurde dennoch einem Nord-Süd-Konflikt das Wort geredet? Hierfür sah Graf drei Gründe: erstens habe der Westen vor dem Hintergrund vermeintlicher Öl-/Rohstoffknappheit einen Machtzuwachs der Entwicklungsländer befürchtet. Zweitens sei die diagnostizierte Zunahme globaler Interdependenz als Voraussetzung für einen Machtverlust der Industrieländer interpretiert worden und drittens habe der Westen den vorgeblichen Nord-Süd-Konflikt instrumentalisiert, um seine Hegemonie gegenüber dem Ostblock zu sichern.

MARTIN DEUERLEIN (Tübingen) griff den Interdependenzbegriff als Schlagwort globalistischer Gegenwartsdiagnostik der 1970er-Jahre auf. Vielfach sei versucht worden, aus der Interdependenzdiagnose politische Handlungszwänge abzuleiten. Während einige Interdependenz als Aufforderung interpretierten, auf den Süden zuzugehen, propagierte bspw. Henry Kissinger die wechselseitige Abhängigkeit von Norden und Süden, wie sie insbesondere während der „Ölkrise“ sichtbar wurde. Vertreter des „globalen Südens“ wiederum werteten den Interdependenzbegriff als Feigenblatt, dessen Nutzung die tatsächlichen Dependenzen und Machtverhältnisse verdeckte. Die Interdependenz sei schließlich vom Globalisierungsbegriff verdrängt worden, der jedoch gleichermaßen die Frage nach dem Verhältnis von Verflechtung und Selbstbestimmung evoziere.

STEFFI MARUNG (Leipzig) analysierte die Aushandlung von Wissen und postkolonialen Weltordnungen anhand der Arbeiten sowjetischer Wissenschaftler, Historiker und Afrikanisten. Bei der Auseinandersetzung mit globaler Ungleichheit seien diese mit konzeptionellen Schwierigkeiten konfrontiert gewesen, da sie parallel zwei sich überschneidende, teilweise auch miteinander konfligierende geographische Logiken zugrunde legten: zum einen den Gegensatz Kapitalismus bzw. Sozialismus, bei dem „der Süden“ keine Berücksichtigung fand und zum anderen den zwischen Imperialismus bzw. Neokolonialismus und Antiimperialismus, in dessen Logik die sozialistischen Staaten mit dem Süden vereint waren. In dieser Lesart fungierte das sozialistische Europa als Modell und Partner für die Entwicklungsländer. Angesichts der ländlichen Strukturen in afrikanischen Staaten wurde hierfür ein „agrarian proletariat“ konstruiert, von dem die sozialistische Revolution ausgehen sollte. Diese Verbindung von innenpolitischen mit weltwirtschaftlichen Transformationen sei somit zugleich ein Vorschlag zur Überwindung der Marginalisierung sowohl der Sowjetunion als auch des „globalen Südens“ innerhalb der Weltwirtschaftsordnung gewesen.

Ein Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen „Ost“ und „Süd“ lieferte ANDREAS HILGER (Moskau), der sich den Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Sowjetunion und Indien widmete. Um in Indien den Weg zum Sozialismus anzubahnen, habe man dort ein Industrieproletariat aufbauen wollen, dabei aber versäumt, die wirtschaftlichen Ziele Indiens in die Planungen einzubeziehen, für die eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zuvorderst der eigenen (selbstbestimmten) Entwicklungs- und Modernisierungspolitik dienen sollte. Zwar habe die Zusammenarbeit mit Indien für die Sowjetunion neue Importmöglichkeiten und Absatzmärkte eröffnet. Die Strategie, durch wirtschaftliche Großprojekte einen sozialistischen Sog zu erzeugen, sei jedoch fehlgeschlagen. Wenngleich Indien ein „Herzstück“ der sowjetischen Beziehungen zur „Dritten Welt“ gewesen sei, habe sich das sowjetische Engagement dort auf wenige Bereiche beschränkte, was Hilger unter anderem auf wirtschaftsbürokratische Schwerfälligkeiten, die Überfrachtung der konkreten Beziehungen sowie die Einflüsse wirtschaftspolitischer Agenden Chinas und des Westens zurückführte.

BENCE KOSCEV (Leipzig) beleuchtete, ausgehend von Ungarn, die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit einer NIEO innerhalb der RGW-Staaten. Ungarische Wissenschaftler hätten im Kampf um eine NIEO neue Möglichkeiten sowohl für den „globalen Süden“ als auch für die sozialistischen osteuropäischen Staaten gesehen und Szenarien entwickelt, die eine Dezentralisierung der Weltwirtschaft und der globalen Ordnung vorsahen. Ziel sei es gewesen, die Einflussmöglichkeiten der osteuropäischen Staaten, auch jenseits der sowjetischen Linie, zu stärken. Dabei hätten die NIEO-Forderungen als Rechtfertigung für eine Marktöffnung gegenüber den Entwicklungsländern gedient.

Dass die Bewegung der Bündnisfreien keinesfalls mit der UNCTAD oder der G77 gleichgesetzt werden darf, wohl aber eine wichtige Rolle für den Nord-Süd-Konflikt spielte, wurde in gleich drei Beiträgen deutlich. NATAŠA MIŠKOVIĆ (Basel) fragte speziell nach der Rolle Jugoslawiens im Nord-Süd-Konflikt. Die Allianz mit den unabhängigen Staaten des Südens sei eine Win-Win-Situation gewesen, die die „Blockfreien“ zu einem erfolgreichen Akteur gemacht und Jugoslawien vor dem Einmarsch der Sowjetunion geschützt habe, so Mišković. Dabei wies sie Tito die Rolle des Maklers zu. Seine Kontakte zu Nehru hätten Jugoslawien die Tür zu den dekolonisierten Staaten geöffnet, die ihrerseits an den Erfahrungen im Umgang mit der Sowjetunion interessiert gewesen seien. Dabei habe Tito Jugoslawien sowohl als Musterstaat für einen erfolgreichen Sozialismus als auch als Symbol für das solidarische, nicht imperialistische Europa repräsentiert.

ARNO TRÜLTZSCH (Leipzig) schrieb Jugoslawien eine Mittlerrolle zu, deren Schwerpunkt für ihn im Beitrag jugoslawischer Diplomaten und Rechtsexperten zur Völkerrechtspolitik lag, die zwar einen begrenzten, jedoch deutlichen Einfluss auf die Entwicklung besonders des Wirtschafts- und Umweltvölkerrechts gehabt habe. Auch wenn die NIEO-Resolution nicht bindend war, so habe sie doch mittelbare Effekte gehabt, indem das Prinzip der Souveränität über natürliche Ressourcen und Handelsbegünstigungen von Entwicklungsländern auf andere Regelungsbereiche übertragen wurden.

JONAS KREIENBAUM (Rostock) wies nach, dass die ökonomische Wende der Bündnisfreien, die sich 1973 in Algier in der NIEO manifestierte, bereits 1970 auf dem Lusaka-Gipfel der Bündnisfreien 1970 eingeleitet worden war. Dass die Themen Entwicklung und Weltwirtschaftsordnung es schafften, sich vor Probleme im Kontext des Ost-West-Konfliktes zu schieben, führte er unter anderem auf die enttäuschenden Ergebnisse der ersten beiden UNCTAD-Konferenzen und der UN-Entwicklungsdekade zurück. Die NIEO habe nun eine neue gemeinsame Basis für die Bündnisfreien geliefert. Entgegen der These, die Bewegung habe in den 1970er-Jahren an Bedeutung verloren, belegte Kreienbaum anhand zeitgenössischer Berichte, dass in Lusaka der Grundstein für die aktivste und bedeutsamste Phase der Bündnisfreien gelegt wurde.

Im letzten Panel befassten sich die TeilnehmerInnen mit dem Nachwirken des Nord-Süd-Konflikts und seinem Ausstrahlen auf Bereiche abseits der internationalen Beziehungen. BENJAMIN MÖCKEL (Köln) analysierte das „Re-enactment“ des Nord-Süd-Konflikts auf Ebene der deutschen Weltläden, in denen anhand ethischen Konsums eine praktische Diskussion globaler Ungleichheiten stattgefunden habe. Die Weltläden inszenierten sich als „Mikrokosmos des Globalen“, in dem eine globale Partnerschaft symbolisch zum Ausdruck kommen sollte. Meist sei es jedoch bei dieser Inszenierung geblieben, denn nur wenige Läden hatten tatsächlich Kontakte zu lokalen Produzentenkooperativen im Süden.

Auch DAVID KUCHENBUCH (Gießen) fragte in seinem Beitrag nach der lokalen Rezeption des Konflikts in der Bundesrepublik und betrachtete Milieus des „kritischen Globalismus“ und dessen Übersetzung in die politische Bildungsarbeit. In diesem Zusammenhang hätten Aktivisten und Akteure aus NGOs, dem BMZ sowie aus Kirchenkreisen einerseits die historisch-moralische Dimension des Nord-Süd-Konflikts hervorgehoben und andererseits einen „Informationsnotstand“ diagnostiziert, dem man mit „Bewusstseinshilfen“ (z.B. aussagekräftigen Weltkarten) und Responsibilisierung habe entgegenwirken wollen. Im Sinne der „Nahbereichsthese“ wurde eine Politisierung des Alltags angestrebt, innerhalb dessen sich die Wirkungsmöglichkeiten individuellen Handelns entfalten sollten. Sowohl Kuchenbuch als auch Möckel wiesen darauf hin, dass die lokal hergestellten Imaginationen von Globalität zunehmend mit einer Selbstrefenzialität des eigenen Handelns und des eigenen Lebensstils einhergingen, was Kuchenbuch treffend als „Dialog Nord-Nord“ interpretierte.

Auf die vorangegangenen Beiträge reagierend plädierte TIMOTHY NUNAN (Berlin) vor dem Hintergrund konkurrierender Panislamismus-Entwürfe Saudi-Arabiens und Irans dafür, bei der Auseinandersetzung mit globaler Ungleichheit die Vielfalt von Solidaritäten unterschiedlicher Gruppen zu berücksichtigen. Als Beispiel führte er muslimische nationale Minderheiten an, die sich über die visionären Angebote des Panislamismus als globales Kollektiv hätten präsentieren können. Die panislamische Solidarität sei dabei als Beitrag zur Überwindung des Imperialismus, aber auch globaler Ungleichheit gesehen worden. Dass pro-iranische Intellektuelle die Verstrickung Saudi-Arabiens in das internationale Schuldenregime des IWF und damit die finanzielle Hegemonie des Westens anprangerten, werfe zudem die Frage nach Verbindungen zwischen dieser islamistischen Kritik an der „realen Weltwirtschaftsordnung“ (Mazower) und der z.B. im Rahmen der UNCTAD vorgebrachten Forderungen auf.

In der Gesamtschau war der Workshop ein inspirierender Auftakt für eine Historisierung des Nord-Süd-Konflikts. Dass sich die Diskussionen während des Workshops überwiegend um Definitionsfragen und die Zusammenhänge der Kategorien Nord-Süd und globaler Ungleichheit drehten, verdeutlicht umso mehr, wie überfällig eine systematische Auseinandersetzung mit dem Nord-Süd-Konflikt ist. So waren sich die TeilnehmerInnen einig, dass er als Kampf- und Erwartungsbegriff zu historisieren sei. Gleichzeitig wurde der Begriff jedoch wie selbstverständlich als Chiffre für die Auseinandersetzung um ökonomische globale Ungleichheiten in verschiedenen Formen und Foren genutzt, was seinen heuristischen Wert bestätigt. Dabei birgt er aber die Gefahr eines methodischen Rückschritts in Richtung einer klassischen Diplomatiegeschichtsschreibung, weswegen die TeilnehmerInnen für eine verstärkte Einbeziehung glokaler Prozesse und Akteure plädierten.

Konferenzübersicht:

Einführung

Jürgen Dinkel (Leipzig) / Steffen Fiebrig (Halle) / Frank Reichherzer (Berlin)

Panel 1: Entwicklungsdebatten und –projekte
Moderation: Patrick Wagner (Halle)

Eva-Maria Muschik (Berlin): Managing the World: Die Vereinten Nationen und die Debatte um Staatsverwaltung als Mittel zur Modernisierung in den 1950er Jahren

Stella Krepp (Bern): Die ECLA/CEPAL, Lateinamerika und der „decolonization divide“, 1948-1973

Panel 2: UNCTAD, UNIDO und G7
Moderation: Isabella Löhr (Leipzig)

Steffen Fiebrig (Halle): Die Neue Weltwirtschaftsordnung der UNCTAD

Michel Christian (Genf): Technologietransfer und die neue internationale Arbeitsteilung in den 1970ern: die Rolle der UN- Organisationen im Nord-Süd-Konflikt (UNCTAD & UNIDO)

Samuel Beroud (Genf): The reaffirmation of the free market principles. The OECD and G7 opposition to the New International Economic Order

Panel 3: West-Süd-Beziehungen
Moderation: Matthias Midell (Leipzig)

Rüdiger Graf (Potsdam): Der Konflikt, den es nicht gab. Ressourcen, Interdependenzen, Sicherheit und die Konstruktion des Nord-Süd-Konflikts

Martin Deuerlein (Tübingen): Inter-Dependenz: Nord-Süd-Beziehungen, Globalismus und die Auseinandersetzung um die Deutung der Welt in den langen 1970er-Jahren

Panel 4: Ost-Süd-Beziehungen
Moderation: Sönke Kunkel (Berlin)

Steffi Marung (Leipzig): Jenseits von Nord und Süd: Sowjetische Deutungen postkolonialer Entwicklung, 1950er- bis 1970er-Jahre

Andreas Hilger (Moskau): Sozialismus, Weltwirtschaft und die Dritte Welt: Sowjetisch-indische Wirtschaftsbeziehungen

Bence Koscev (Leipzig): Reshaping the Global Order. European CMEA countries and the concept of the New International Economic Order

Panel 5: Bündnisfreie
Moderation: Dirk van Laak (Leipzig)

Jonas Kreienbaum (Rostock): Lusaka 1970. Die ökonomische Refokussierung der Bündnisfreien

Nataša Mišković (Basel): Tito-Jugoslawien als Makler im Nord-Süd-Konflikt

Arno Trültzsch (Leipzig): Globale Gerechtigkeit durch Völkerrecht? Der Nord-Süd-Konflikt in den Vereinten Nationen und die Mittlerrolle Jugoslawiens

Panel 6: Nach dem Nord-Süd-Konflikt
Moderation: Patrick Merziger (Leipzig)

Benjamin Möckel (Köln): Die „Dritte Welt“ in der Fußgängerzone. Weltläden als postkoloniale Imaginationsräume

David Kuchenbuch (Gießen): Dialog „Nord-Nord“? Globalistische Selbstkritik und entwicklungspolitische Bildungsarbeit in der Bundesrepublik Deutschland der 1970er- und frühen 1980er-Jahre

Timothy Nunan (Berlin): Neither North Nor South? Saudi and Iranian Networks in Competition

Abschlussdiskussion