Raumaneignung und lokale Transformationsprozesse im Kontext russischsprachiger Migration. Russische und deutsche Wissenschaftssysteme im Dialog

Raumaneignung und lokale Transformationsprozesse im Kontext russischsprachiger Migration. Russische und deutsche Wissenschaftssysteme im Dialog

Organisatoren
Anna Flack / Jannis Panagiotidis, Universität Osnabrück; Christina Lokk, Stiftung Universität Hildesheim; Julia Person, Universität Erfurt; Sara Reith, Universität Mainz; Natalja Salnikova, Universität Freiburg, Andrey Trofimov, Universität Marburg
Ort
Osnabrück
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2017 - 11.10.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Manuel Rommel, Freie Universität Berlin

Zwölf Nachwuchswissenschaftler/innen aus Deutschland, Russland und Kirgistan waren im Oktober 2017 nach Osnabrück eingeladen, um sich aus verschiedenen theoretischen und methodischen Blickwinkeln mit dem Konzept des Raums in Bezug auf die russischsprachige Migration in Deutschland zu beschäftigen, aktuelle Forschungsprojekte vorzustellen und zu diskutieren sowie sich untereinander auszutauschen.

Der Workshop war bereits der dritte dieser Art. Nachdem der Workshop für Nachwuchswissenschaftler/innen 2015 zum ersten Mal in Mainz und 2016 zum zweiten Mal in Sankt Petersburg stattgefunden und jeweils nationale Identitätskonstruktionen und Erinnerungskulturen zum Thema hatte, fand der Workshop diesmal am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück statt und rückte Raumkonzepte in Bezug auf russischsprachige Migration in den Fokus.

In der Forschung wurde der Raum, der zunächst geographisch-physisch verstanden worden ist, um die soziokulturelle Komponente sozialer Beziehungen erweitert. Dieser spatial turn führte zu einer Fülle von Überlegungen und Publikationen zum Raum in den Geistes- und Kulturwissenschaften. So war der Zeitpunkt gekommen, sich intensiver mit Raumkonzepten auch in Bezug auf russischsprachige Migration zu beschäftigen. Wie verändern Migrant/innen durch alltägliche Praktiken Räume? Wie eignen sie sich diese an und wie gestalten oder schaffen sie neue Orte? Wie werden grenzüberschreitende ökonomische, soziale und kulturelle Elemente in der Migration genutzt, neu definiert und in Lebensentwürfen verbunden? Dies waren die leitenden Fragen des Workshops, auf die Antworten gefunden werden wollten.

ANDREAS POTT (Osnabrück), Direktor des IMIS, eröffnete den Workshop und gab in seinem Grußwort den Teilnehmer/innen mithilfe einer Papierschachtel einige grundsätzliche theoretische Überlegungen zum Raum mit auf den Weg, warnte aber auch vor „Fallstricken“ des räumlichen Blicks. JANNIS PANAGIOTIDIS (Osnabrück) führte mit seinem Vortrag in die Thematik der russischsprachigen Migration in Deutschland ein und verband diese mit Konzepten und Theorien des Raumes. So geschieht einerseits eine Konstruktion von Räumen durch die postsowjetischen Migrant/innen und andererseits eine Konstruktion des Raumes von außen anhand eines Labellings durch die Mehrheitsgesellschaft. Spätestens seit dem „Fall Lisa“, die in den russischen Staatsmedien propagandistisch präsentierte Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch Flüchtlinge, was eine Mobilisierung russischsprachiger Migrant/innen gegen die deutsche Flüchtlingspolitik zur Folge hatte, nehmen die Medien wieder vermeintliche Migrationsräume in den Blick und spekulieren über Sympathien zur rechtspopulistischen AfD. So finden Bezeichnungen wie „Klein-Moskau“, „Stalin-Allee“ oder „Charlottengrad“ für den Berliner Bezirk Charlottenburg Verbreitung und werden oft als „Parallelwelten“ problematisiert. Äußerlich erkennbar seien diese Räume laut Medienberichten vor allem durch „russische“ Supermärkte. Charakterisiert seien sie hauptsächlich durch das Auftreten „kyrillischer“ Aufschriften, die Präsenz der russischen Sprache und durch ein bestimmtes Warensortiment, wobei besonders häufig Essiggurken, Kaviar und Wodka genannt würden. Laut Jannis Panagiotidis seien diese Räume der russischsprachigen Migration aber oft gar keine Problemviertel. Durch ein kulturelles Othering und die negative Besetzung des Begriffs „Parallelwelt“ könne aber eine Stigmatisierung dieser Räume erfolgen, was erst zur tatsächlichen räumlichen Segregation führe. Wichtig seien also das kritische Hinterfragen solcher Parallelwelt-Diskurse und die Suche nach dem Migrantischen jenseits der Stereotype und Klischees.

Den Rahmen des Workshops bildeten drei Panels: 1. „Theoretische Betrachtungen“, 2. „Methoden und Techniken im Feld“ sowie 3. „Aktuelle Forschungen – Praxisbeispiele“.

Im ersten Panel gab RITA SANDERS (Köln) einen Überblick über theoretische Konzepte ihrer bisherigen Forschungsarbeiten. Dazu gehörte vor allem die kritische Auseinandersetzung mit dem Diaspora-Begriff und mit Konzepten der Translokalität, die in Bezug auf „zurückgebliebene“ Kasachstandeutsche diskutiert wurden. In einem aktuellen Forschungsprojekt zu Mobilität und translokaler Verbundenheit in Russlands Exklave Kaliningrad spielen vor allem Grenzen und Grenzräume und deren Implikationen für Identitätskonzepte eine bedeutende Rolle.

Im zweiten Panel standen methodische Zugänge zu verschiedenen Räumen der russischsprachigen Migration im Vordergrund. CHRISTINA LOKK (Hildesheim) referierte über Praktiken in migrantisch geprägten Konsumräumen am Beispiel osteuropäischer Lebensmittelläden und erläuterte diese anhand von Beispielen aus leitfadengestützten Interviews mit Ladenbesitzer/innen und Konsument/innen. Auch anhand von Fotografien konnten visuelle Eindrücke dieser migrantischen Räume vermittelt werden. Diesen Zugang wählte auch ANDREJ TROFIMOV (Marburg) und präsentierte ihn am Beispiel einer Reihe von Fotografien zu Gedenkfeiern anlässlich des 9. Mai. Vor allem durch die Präsenz verschiedener Symboliken und die „Markierung“ von Territorium wird die Raumaneignung russischsprachiger Migrant/innen und die Aushandlung von Identitäten in diesen Räumen auf den gezeigten Fotografien deutlich. Ebenfalls einen qualitativen, ethnographischen Zugang für die Bearbeitung ihrer Forschungsfragen wählte ELENA CHOMJAK (Hamburg) für die Analyse des Deutschlandbilds russischer Jugendlicher am Beispiel von Sankt Petersburger Studenten und stellte den Teilnehmer/innen des Workshops vor, wie sie die Methode der „Grounded Theory“ in ihrer Arbeit anwendet.

Im dritten und letzten Panel „Aktuelle Forschungen – Praxisbeispiele“ wurden weitere Forschungsprojekte vorgestellt und Ergebnisse empirischer Studien diskutiert. Mit Praktiken der Raumaneignung russischsprachiger Asylbewerber in Deutschland beschäftigt sich ALENA ZELENSKAJA (Bischkek). Sie untersuchte private und staatliche Asylheime und zeigte, dass sich die Praktiken der Raumaneignung in den Asylheimen abhängig von der Nationalität und religiöser Zugehörigkeit, aber auch von der Dauer des Aufenthalts unterscheiden und auch durch Objekte bzw. Möbel verwirklicht werden. ZHANNA SERZHANOVA (Krasnojarsk) stellte Ergebnisse ihrer Untersuchung zum Sprachverhalten von Russlanddeutschen im Omsker Gebiet vor und ging dabei besonders auf das Phänomen des „Code-Switchings“ ein, also das Wechseln vom Deutschen ins Russische oder umgekehrt innerhalb einer kommunikativen Handlung, was von verschiedenen Kontextfaktoren abhängig ist. Schließlich stellte MANUEL ROMMEL (Berlin) Interviewpassagen aus seiner Arbeit zur Transnationalität postsowjetischer Migrant/innen im Kontext der Studienwahl vor.

Eine Bereicherung für den Workshop war auch der Vortrag von TATIANA GOLOVA (Berlin), in dem sie den Teilnehmer/innen einen vertieften theoretischen Einblick in Raumkonzepte gab und diese anhand von aktuellen Beispielen erläuterte. Dabei ging sie im Besonderen auf das gesellschaftszentrierte Raumkonzept ein. Aufmerksam machte sie vor allem auch auf die theoretische Unterscheidung von Raumaneignung und -produktion, was die Teilnehmer/innen zu weiteren Überlegungen motivierte.

Im Rahmen der Feldforschungsexkursionen zu verschiedenen Räumen postsowjetischer Migrant/innen in Osnabrück ließen sich die zuvor eifrig diskutierten Theorien und Methoden in der Praxis erproben. Dafür wurden drei Gruppen gebildet, die diese Räume, einen „osteuropäischen“ Lebensmittelladen, ein Reiseunternehmen und einen Großhandel, aufsuchten und anhand zuvor besprochener Forschungsfragen analysierten. Dabei interessierte die Gruppen vor allem, wie diese Räume von den Migrant/innen angeeignet oder konstruiert werden und inwiefern sich diese als ethnische Räume präsentieren. In Bezug auf den Lebensmittelladen war zum Beispiel ein interessantes Ergebnis, dass hier vor allem sozioökonomische Faktoren eine Rolle spielen, denn der Laden befindet sich nicht in einem migrantisch geprägten Stadtviertel und ist eher auf eine zahlungsschwächere Klientel ausgerichtet. Die Exkursionen wurden im Plenum ausgewertet und die vorgefundenen Räume wurden kontextualisiert. Außerdem wurde über eigene Erwartungen und die Wahl der Forschungsmethoden im deutsch-russischen Kontext diskutiert.

Der Abschlussvortrag von EKATERINA DEMINTSEVA (Moskau) widmete sich der Raumaneignung durch Migrant/innen in postsowjetischen Städten. Am Beispiel Moskaus erläuterte sie essentielle Unterschiede in den Gegebenheiten der Migration zwischen postsowjetischen und westlichen Großstädten. So existierten in Moskau im Vergleich zu französischen Großstädten keine migrantisch geprägten Stadtviertel, wodurch die Erforschung von Migration und migrantischen Räumen andere methodische Zugänge erfordere.

Das Abschlussplenum diente dazu, die an den drei Tagen geführten Diskussionen rund um Raumkonzepte in Bezug auf russischsprachige Migration zu rekapitulieren und zu erörtern, wie sich die Ergebnisse für weitere Forschungsvorhaben verwenden lassen. Dabei waren sich die Nachwuchwissenschaftler/innen einig, Überlegungen zum Raum stärker in die eigene Forschung einzubinden.

Insgesamt bot der Workshop eine gute Möglichkeit, sich mit den verschiedenen Theorien und Konzepten rund um den Raum sowie mit verschiedenen Forschungsmethoden vertraut zu machen, miteinander zu diskutieren, sich über eigene Forschungsprojekte auszutauschen und untereinander zu vernetzen. Zudem wurde deutlich, dass es Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten in den Perspektiven und wissenschaftlichen Zugängen im deutschen und russischsprachigen Wissenschaftssystem gibt. Da der Workshop auf Deutsch und Russisch stattfand, konnten auch Sprachkenntnisse verbessert und vor allem die Fähigkeit zum wissenschaftlichen Diskutieren in der jeweiligen Fremdsprache erprobt werden. Gefördert wurde die Veranstaltung durch die BKM-finanzierte Juniorprofessur für „Migration und Integration der Russlanddeutschen“ an der Universität Osnabrück, die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius sowie den Schroubek-Fonds Östliches Europa.

Konferenzübersicht:

Panel 1: „Theoretische Betrachtungen“
Moderation: Hans-Christian Petersen

RITA SANDERS(Köln): Mobilität und translokale Verbundenheit in Kaliningrad

Panel 2: „Methoden und Techniken im Feld“
Moderation: Jannis Panagiotidis

CHRISTINA LOKK (Hildesheim): Praktiken migrantisch geprägter Konsumräume

ANDREJ TROFIMOV (Marburg): Raumaneignungsstragien russischsprachiger Migrant/innen am Beispiel von Gedenkfeiern zum 9. Mai

ELENA CHOMJAK (Hamburg): Analyse des Deutschlandbilds russischer Jugendlicher am Beispiel von Sankt Petersburger Studenten

Panel 3: „Aktuelle Forschungen – Praxisbeispiele“
Moderation: Antonie Schmiz

ALENA ZELENSKAJA (Bischkek): Praktiken der Raumaneignung russischsprachiger AsylbewerberInnen in Deutschland

ZHANNA SERZHANOVA(Krasnojarsk): Sprachverhalten von Russlanddeutschen im Omsker Gebiet

MANUEL ROMMEL(Berlin): Transnationalität postsowjetischerMigrant/innen im Kontext der Studienwahl