Was war die Normalisierung? Die Tschechoslowakei 1969–1989. Jahrestagung des Collegium Carolinum 2018

Was war die Normalisierung? Die Tschechoslowakei 1969–1989. Jahrestagung des Collegium Carolinum 2018

Organisatoren
Collegium Carolinum
Ort
Pelham (Bayern)
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2018 - 11.11.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Judith Brehmer, München

Die letzte Jahrestagung des Collegium Carolinum hatte mit dem Jahrestag zum Prager Frühling eines der großen Jubiläen des zu Ende gehenden Gedenkjahres thematisiert. Daran knüpfte die diesjährige Konferenz, die vom 8. bis 11. November 2018 in Pelham stattfand, direkt an: Sie widmete sich der Frage, was die Normalisierung war, die der Niederschlagung des reformsozialistischen Experiments folgte. Handelte es sich um eine rein restaurative Epoche, oder lassen sich Kontinuitäten zu den 1960er-Jahren, vielleicht sogar Bemühungen um Modernisierung ausmachen?

Zur informellen Eröffnung stand der Film „A bude hůř“ („Und es wird noch schlimmer“) auf dem Programm, in den Zuzana Jürgens (München) einführte. Gedreht im Jahr 2007 nach dem Roman von Jan Pelc, zeigt der Film in bedrückenden Schwarz-Weiß-Bildern die letztlich zum Scheitern verurteilten Versuche einer Gruppe Jugendlicher, ein Leben außerhalb der Ideologie und des Systems der Normalisierung zu führen. Dieser sehr düsteren Retrospektive hatte das Tagungsprogramm jedoch eine Vielfalt an Perspektiven entgegenzusetzen.

CHRISTIANE BRENNER (München), die die Tagung gemeinsam mit MICHAL PULLMANN (Prag) und ANJA TIPPNER (Hamburg) konzipiert hatte, skizzierte einleitend die Fragen und Themen, die die Teilnehmenden erwarteten: Mit welchen Mitteln wurde die neue staatliche und gesellschaftliche Ordnung nach der Niederschlagung des Prager Frühlings etabliert? Wie eigneten sich verschiedene gesellschaftliche Gruppen diese Ordnung an? Besondere Aufmerksamkeit sollte in dieser Hinsicht der Untersuchung der Geschlechterverhältnisse als Zugang zu Lebensstilen und -modellen zukommen. Die Kultur der Normalisierung bildete einen weiteren Schwerpunkt der Tagung. Schließlich warf Brenner die Frage auf, ob der Quellenbegriff „Normalisierung“ überhaupt für den analytischen Zugang geeignet sei.

THOMAS LINDENBERGER (Dresden), der nach einem Grußwort des deutschen Botschafters in der Slowakei, Joachim Bleicker, konzeptionelle Überlegungen zum Begriff „Normalisierung“ unternahm, verneinte letztere Frage klar. Dazu verortete er den Begriff zunächst im Wortfeld „Norm, normal, Normalität“ und betonte die dahinterstehende Erwartung, dass bestimmte Normen eingehalten würden sowie die damit einhergehende Pathologisierung von Abweichungen. Davon ausgehend plädierte er gegen eine Verwendung des Ausdrucks „Normalisierung“ als analytischen Begriff, da dies die Gefahr berge, Machtstrukturen unreflektiert zu transportieren und daher ungeeignet für einen kritischen Diskurs sei. Normalität müsse stets kontextabhängig betrachtet werden.

Das erste Panel widmete sich dem Komplex „Legitimation und Herrschaftspraxis“. MARTIN SCHULZE WESSEL (München) fragte nach der Bedeutung des Prager Frühlings für die Repräsentanten der Normalisierung. Er sah die politischen Akteure nach 1968 vor die Entscheidung gestellt, einen Kompromiss mit den durch die Reformpolitik der 1960er-Jahre ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen einzugehen, oder aber „das Übel an der Wurzel zu fassen“ und den status quo ante anzustreben. Anhand von Debatten des Zentralkomitees (ZK) der KSČ (Komunistická strana Československa) und der Programmschrift „Poučení z krizového vývoje“ (Lehren aus der krisenhaften Entwicklung) beleuchtete er das Ringen der Akteure um die Frage, wie weit die Uhr überhaupt zurückgestellt werden müsse, um zu dem Punkt zu gelangen, vor dem die Entwicklung die „falsche Richtung“ genommen habe. Zugleich wies er auf die Föderalisierung der ČSSR 1969 als Errungenschaft der Reformpolitik und somit als Kompromiss der neuen Ordnung mit den Reformen hin. ZUZANA POLÁČKOVÁ (Bratislava) zeigte anschließend die zentrale Rolle Gustav Husáks bei der Durchsetzung und Etablierung der Föderalisierung auf.

STEFAN LEHR (München) setzte sich mit der konkreten Praxis der politischen Entscheidungsfindung auseinander. Anhand von Protokollen der Sitzungen des Präsidiums des ZK der KSČ belegte er, dass dieses als Machtzentrum geltende Gremium weniger der Entscheidungsfindung diente, als vielmehr bereits vorformulierte Entscheidungen in pseudodemokratischen und eher auf Parteihierarchien denn Inhalt fokussierten Debatten legitimierte. In der anschließenden Diskussion ging es zum einen um das Protokoll als Quelle, zum anderen um die Frage, wie sich derartige Entscheidungsprozesse umfassender untersuchen lassen.

Das folgende Panel war den „(Gegen-)Kulturen“ in der Normalisierung gewidmet. MAREK NEKULA (Regensburg) vollzog anhand von Jan Palachs Briefen, die dieser vor seiner Selbstverbrennung an die Öffentlichkeit verfasst hatte, dessen Pläne nach, die nach 1968 verloren gegangene kritische Öffentlichkeit durch eine Revolution von unten wiederzubeleben. Auch zeigte Nekula, dass Palachs Botschaft posthum eher als moralische denn als politische rezipiert wurde. PETER JAŠEK (Bratislava) richtete den Blick auf die Slowakei und illustrierte die Vielfalt der slowakischen inoffiziellen Kultur anhand verschiedener literarischer und künstlerischer Gruppierungen, die Teil des Dissidenten-Milieus bildeten. Abgerundet wurde das Panel mit einem Vortrag über die Prager Bühne „Laterna Magika“. LIBUŠE HECZKOVÁ und KATEŘINA SVATOŇOVÁ (beide Prag) untersuchten das experimentelle Theater als der Normalität entgegengesetzten „strange place“, in welchem sich offizielle und inoffizielle Kunst begegnen und technische und kreative Experimente in einem politisch „sicheren“ Rahmen durchgeführt werden konnten. In der „Laterna Magika“ begegnete auch Touristen eine moderne tschechoslowakische Kultur, die die Traditionen der Avantgarde mit neuen technischen Mitteln verband.

Anschließend wandte sich das Plenum dem zweiten inhaltlichen Schwerpunkt der Tagung zu, den Geschlechterverhältnissen in der Normalisierung. CELIA DONERT (Liverpool/Berlin) steckte das Thema in einer internationalen Perspektive ab und fragte, welche Bedeutung der Normalisierung für die Genderfrage in einem breiteren historischen Kontext zukommt. Dabei kontrastierte sie die konservative, pro-natalistische Ausrichtung der tschechoslowakischen Gender- und Familienpolitik der 1970er-Jahre, die im Vergleich zur emanzipatorischen Rhetorik insbesondere der „Aufbauphase“ als „roll-back“ wahrgenommen wird, mit der Perspektive internationaler Frauenbewegungen, für die der Sozialismus eine echte Alternative dargestellt habe. Vor diesem Hintergrund diskutierte Donert genderpolitische Entwicklungen des Postsozialismus in Ostmitteleuropa, der für viele Frauen einen Verlust an Rechten, aber auch die Fokussierung gesellschaftlicher Debatten auf neue Themen wie Arbeitslosigkeit und häusliche Gewalt bedeutet habe.

Hier knüpften die folgenden Beiträge direkt an: PETER HALLAMA (Bern) und FRANZ SCHINDLER (Gießen) präsentierten Fallstudien zu den Geschlechterverhältnissen während der Normalisierung. Hallama zeigte anhand medialer Debatten über alleinerziehende Väter sowie die Anwesenheit von Vätern bei der Geburt ihres Kindes, dass Männer kaum als Akteure in der Familie gesehen wurden und mit entsprechenden Schwierigkeiten, etwa bei Sorgerechtsfragen, konfrontiert waren. Doch seien diese Stereotype durchaus diskutiert worden; gerade in der Debatte um Väter im Kreißsaal habe sich der Wille in Fachkreisen wie auch in der Öffentlichkeit ausgedrückt, bisherige Gewohnheiten experimentell in Frage zu stellen.

Schindler wiederum stellte mit seiner Betrachtung der tschechoslowakischen Fernsehserie „Žena za pultem“ (Die Frau hinter dem Ladentisch) gängige Interpretationen der beliebten Serie als Ausdruck des konservativen „roll-backs“ der 1970er-Jahre in Frage. Er argumentierte mit der bejahenden Darstellung weiblicher Sexualität durch die Handlungsstränge um verschiedene Charaktere der Serie, die dem Bild konservativer Geschlechterrollen in der Normalisierung widersprechen.

Das folgende Panel galt Lebensstilen in den 1970er- und 1980er-Jahren. MARTIN FRANC (Prag) sprach über Luxus. Für einen luxuriösen Lebensstil hätten besonders westliche Waren gestanden, zu denen Parteikader und Diplomaten Zugang hatten, aber auch Vertreter der Schattenwirtschaft. Für das Bild von Luxus hätten TV-Filme eine besondere Rolle gespielt – schließlich gab es in der sozialistischen Tschechoslowakei keine Boulevardpresse. In Krimis, so Franc, waren es dann meistens die Täter, die mit allen Zeichen westlicher Dekadenz ausgestattet waren: einem Mercedes, westlicher Unterhaltungselektronik und einer gewaltigen Villa, wo eine dekorative Frau auf sie wartete.

Auch JAKUB MACHEK (Prag) konnte für die offizielle Popmusik der 1970er- und 1980er-Jahre einen Einfluss der Vorstellungen vom Westen ausmachen. Er zeigte, wie der Staat versuchte, die aus einer Krise der Popmusik nach 1968 entstandene Disco-Strömung zu reglementieren, etwa durch Genehmigungen für DJs und der Verbindung von Popmusik mit Sportereignissen und politischen Debattenveranstaltungen, die sicherstellen sollten, dass die Jugend von der Musik nicht fehlgeleitet würde. Dass die Popmusik einerseits einen Hauch westlichen Lebensstils transportierte, andererseits für die materialistische Konsumkultur der Normalisierung anknüpfungsfähig gewesen sei, habe sie für die Gesellschaft wie auch das Regime annehmbar gemacht.

Im letzten Panel des Tages wurden „Retrospektive Konzeptualisierungen“ untersucht. ANNA ARTWIŃSKA (Leipzig) zeigte am 1992 erschienenen Familienroman „Báječná léta pod psa“ („Blendende Jahre für Hunde“) von Michael Viehwegh die Rezeption makrohistorischer Entwicklungen auf mikrohistorischer Ebene: Der Roman schildere die Zeit nach 1968 als dauerhaften Ausnahmezustand für die Familie, wobei die eigentlich politisch uninteressierten Protagonisten sich in einer „Wir versus sie“-Dichotomie zum Staat wiederfänden. Artwińska stellte in diesem Zusammenhang auch einen Wandel des Genres Familienroman fest: Die Thematisierung eines Generationenkonflikts über Kriegserfahrungen sei in Viehweghs Roman einer Geschichte einer ungeklärten und somit unheimlichen Vergangenheit gewichen, der Familienroman zu einem Medium des historischen Gedächtnisses geworden, in dem der Spätsozialismus als Geschichte der Anderen dargestellt wird.

MARKETA SPIRITOVA (München) richtete den Blick anschließend auf die Rezeption der Normalisierung in der populären Erinnerungskultur. Anhand von Blogeinträgen und Internetdebatten, etwa auf der Facebook-Seite „Vzpomínky na socialismus“ (Erinnerungen an den Sozialismus), demonstrierte sie die positive, nostalgische Erinnerung der Kommentatoren an Güter der spätsozialistischen Konsumkultur. Dabei hob sie neben der Idealisierung von Kindheit als einem allgemeinen Phänomen auch die Bedeutung von Rechtfertigungsgeschichten nach dem Motto „Hand aufs Herz: Nicht alles im Sozialismus war schlecht“ hervor. Der Vortrag löste eine rege Debatte um Verbindungen von Normalisierungsnostalgie und Xenophobie sowie den Umgang mit dem methodisch schwer zu greifenden Quellentyp der Internetkommentare aus.

Schließlich ging JAN MERVAT (Prag) der Rezeption der Normalisierungszeit in den Geschichts- und Sozialwissenschaften nach. Für die Historiografie diagnostizierte er dabei einen bemerkenswert unreflektierten Umgang mit Postulaten der Totalitarismustheorie, neben der sich nur langsam andere Perspektiven etablieren könnten. Die Ursache dieses „intuitiven Totalitarismus“ machte er in den Biografien der Forscher aus, die mehrheitlich die Reformbewegung der 1960er-Jahre unterstützt hätten. Im Gegensatz dazu betonen die Sozialwissenschaften weniger den repressiven Charakter des Normalisierungsregimes, als vielmehr dessen Komplexität und die damit einhergehende Schwäche bei der Umsetzung einheitlicher Ziele.

Der letzte Tag der Konferenz richtete den Blick auf die Post-Normalisierung. ONDŘEJ DANIEL (Prag) erkannte Motive mährischer „Weinkomödien“ aus der Normalisierung in der aktuellen tschechischen Migrationsdebatte wieder, beispielsweise in der medialen Selbstdarstellung des rechten Politikers Tomio Okamura. Diese gingen mit einem Revival der Filmkomödien durch Neuauflagen oder Fortführungen einher. Aus dem Comeback solcher Motive seit den 2000ern vor dem Hintergrund zahlreicher internationaler Krisen leitete Daniel die Rezeption der Normalisierung im öffentlichen Gedächtnis als Zeit der Sicherheit und Vertrautheit ab.

MICHAL KOPEČEK (Prag/Jena) nahm zum Abschluss einen rechtsphilosophischen Blick auf die Normalisierung ein. Dem liberalen Paradigma, demzufolge die staatsozialistischen Systeme Ostmitteleuropas unmöglich als Rechtsstaat angesehen werden können, stellte er das Modell eines „autoritären Rechtsstaats“ entgegen. Seine Forderung begründete er unter anderem mit dem zunehmenden Interesse der Regime an einer Berechenbarkeit staatlichen Handelns und des Rechtssystems und dem regulatorischen Anspruch an das Gesetz.

In seinem Schlusskommentar hob Michal Pullmann den Erkenntnisgewinn der Tagung sowohl bezüglich der Pluralität der kulturellen und sozialen Erscheinungen als auch deren Kontinuitäten vor 1968 und nach 1989 hervor. Zudem formulierte er mit der Frage nach dem Sozialstaat in der Normalisierung wie auch nach deren Ende zwei Forschungsdesiderate, die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufgegriffen wurden. Das Plenum fügte dem als weitere offene Frage die Thematisierung der Slowakei hinzu, deren Rolle und Entwicklung auch bereits im Tagungsband intensivere Aufmerksamkeit zukommen müsse.

Die Normalisierung war weit mehr als eine Epoche des gesellschaftlichen Stillstands. Der interdisziplinäre Blick, der bei der Tagung auf die 1970er- und 1980er-Jahre gerichtet wurde, hat deutlich gezeigt, wie vielfältig und mitunter widersprüchlich viele der Phänomene und Entwicklungen dieser Zeit waren. Dem Tagungsband kann man daher mit Spannung und Vorfreude entgegenblicken.

Konferenzübersicht:

Einführung

Thomas Lindenberger (Dresden): „Was war die Normalisierung?“

Legitimation und Herrschaftspraxis

Martin Schulze Wessel (München): Der „Prager Frühling“ in der Normalisierung

Zuzana Polačková (Bratislava): Gustáv Husák, Slovak Federalism, and the Making of ‘Normalisation’, 1968–1970

Stefan Lehr (Münster): Kollektive Entscheidungsfindung im Präsidium des Zentralkomitees der KSČ?

(Gegen-)Kulturen I

Marek Nekula (Regensburg): Jan Palach und der Wandel der Öffentlichkeit

Peter Jašek (Bratislava): Unofficial Culture as a Part of the Slovak Dissent

(Gegen-)Kulturen II

Libuše Heczková / Kateřina Svatoňová (Prag): Czech Experimental Stage Laterna Magica During the Time of Normalisation – the Case of Cultural Dislocation and Defense

Geschlechterverhältnisse

Celia Donert (Liverpool / Berlin): Gender in Socialism, Late and Post-Socialism

Peter Hallama (Bern): Normalisierte Geschlechterverhältnisse? Tschechische Väter in den 1970er und 1980er Jahren

Franz Schindler (Gießen): „Žena za pultem“ revisited

Lebensstil

Martin Franc (Prag): Weißer Mercedes vor moderner Villa: Luxuriöse Lebensstile während der Normalisierung

Jakub Machek (Prag): Between Bubblegum and Disco – Searching for a New Form of Official Popular Music

Retrospektive Konzeptualisierungen

Anna Artwińska (Jena): Wiederspiegelungseffekte: Zur Verschränkung von „Makro“- und „Mikrogeschichte“ in Michael Vieweghs Familienroman „Bájecná léta pod psa“ (1992)

Marketa Spiritova (München): „Hand aufs Herz: Nicht alles im Sozialismus war schlecht“. Die Normalisierung in der populären Erinnerungskultur

Jan Mervart (Prag): Differing Approaches to the Normalization Era in Czech Historiography and Social Sciences

Übergänge, Post-Normalisierung

Ondřej Daniel (Prag): “Wine Comedies” of Czechoslovak Normalization Period: Conservative Skeleton in the Closet?

Michal Kopeček (Prag/Jena): From Socialist Legality to Rule of Law? Law and Jurisprudence between Communist Authoritarianism and Liberal Constitutionalism