Fallstudien: Theorie - Geschichte - Methode

Fallstudien: Theorie - Geschichte - Methode

Organisatoren
Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit; Historisches Seminar; Institut für England und Amerika-Studien; Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2005 - 17.09.2005
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Von
Johannes Süßmann; Susanne Scholz; Gisela Engel

Internationale Konferenz (gefördert von der DFG)

I. Allgemeines
Es nahmen aktiv an der Konferenz 18 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den USA , der Schweiz und Deutschland teil. Sie vertraten folgende Fächer: Soziologie (Karola Brede, Frankfurt; Thomas Loer, Dortmund; Ulrich Oevermann, Frankfurt; Rudolf Schweikart, Leipzig), Medienwissenschaften (Ulrike Bergermann, Paderborn), Geschichte (Susanna Burghartz, Basel; Carlo Ginzburg, Los Angeles; Heinz D. Kittsteiner, Frankfurt/O.; Johannes Süßmann, Fankfurt;), Sinologie (Charlotte Furth, Long Beach, California), Germanistik (Joachim Jacob, Gießen), Psychologie/Psychoanalyse (George C. Rosenwald, Michigan), Klassische Philologie (Lorenz Rumpf, Frankfurt), Anglistik (Susanne Scholz, Frankfurt), Medizingeschichte (Michael Stolberg, Würzburg), Kulturgeschichte (Michael Neumann, Dresden; Xenia von Tippelskirch, Bochum; Gisela Engel, Frankfurt), Romanistik (Anita Traninger, Berlin), Pharmaziegeschichte (Bettina Wahrig, Braunschweig). Ausgerichtet wurde die Tagung vom Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit, dem Historischen Seminar, dem Institut für England und Amerika-Studien und dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

In vier Sektionen wurde die Thematik der Tagung erörtert: Theorie der Fallstudie, Narrativik der Fallstudie, Epistemik der Fallstudie (I und II), Geschichte des Genres Fallstudie unter Berücksichtigung der Pragmatik der Fallstudie. Eine ausführliche Einführung in die Thematik (PD Dr. Johannes Süßmann) und ein Vortrag ("Keynote Lecture") von Prof. Dr. Carlo Ginzburg (UC Los Angeles) gaben Gesichtspunkte für die Diskussionen vor. Eine ausführliche Schlußdiskussion gab Raum für die Formulierung von Ergebnissen der Tagung und von Desideraten für die künftige Forschung zur Sache.

Die Konferenz war gut bis sehr gut von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Frankfurt, Basel, Innsbruck und Karlsruhe besucht. Auch der wissenschaftliche Nachwuchs in Frankfurt nahm die Gelegenheit wahr, sich zu einem zentralen interdisziplinären Thema fortzubilden.

II. Ausgangsfragestellungen
Johannes Süßmann (Frankfurt) umriß in einem einführenden Vortrag die Themenstellung der Konferenz: In den Blick genommen werden sollten neben wissenschaftlichen Gebrauchstexten Falldarstellungen aus lebenspraktischen Zusammenhängen (aus der Rechtsprechung, der Heilkunde, dem Ethikunterricht, der Geschichtsschreibung), ferner fiktionale Fallgeschichten. Es solle zur Diskussion kommen, ob die wissenschaftliche Fallstudie als Ausformung einer viel verbreiteteren Falldarstellung begriffen werden kann und was ihre Zugehörigkeit zu diesem Genre bedingt.

Aus diesem Frageansatz ergab sich ein - selbstverständlich vorläufiger - Definitionsversuch. Fallstudien sind Darstellungen, die das Dargestellte als Fall präsentieren. D.h. sie machen daraus ein konkretes Spezifisches, das über sich selbst hinausweist auf ein abstraktes Allgemeines (sei dies ein Begriff, eine Norm, eine Regel, ein Habitus, eine Fallstruktur). Da sie dies primär darstellerisch tun: im Modus der Anschauung, nicht des Begriffs, teilt sich zunächst sinnlich mit, was der Gegenstand ist und inwiefern er als Fall von etwas aufgefaßt wird. Das gestaltete Verhältnis von Spezifischem und Allgemeinen begegnet also zunächst in darstellerische Mittel eingelassen, implizit. Es kann in der Fallstudie expliziert werden, oft wird es das aber nur zum Teil; auch kann die darstellerische Gestaltung in Spannung zu den eingestreuten begrifflichen Erläuterungen stehen - bis zu dem Extrem, daß sie ihnen (wie viele Novellen der nachgeschobenen Moral oder Nutzanwendung) geradezu widersprechen. Charakteristisch ist jedenfalls der Vorrang der Darstellung; oft ist diese aspektereicher, differenzierter, ambivalenter als die begriffliche Explikation.

Süßmann schlug eine während der Konferenz zu debattierende Typologie von Falldarstellungen vor, in der die drei Dimensionen: Darstellungsart, dadurch erzeugtes Verhältnis von Besonderem und Allgemeinen und Pragmatik, in ein genaues Verhältnis gebracht sind. In einer allerersten, groben und differenzierungsbedürftigen Annäherung schlug er drei solcher Typen vor:
Eine elementare und genregeschichtlich vermutlich frühe Aufgabe von Falldarstellungen besteht, laut Süssmann, darin, empirische Daten festzuhalten für eine Verwendung außerhalb der Fallbeschreibungen, d.h. für eine applikative Praxis "Wissen vom Besonderen" zur Verfügung zu stellen. Nach den einflußreichen Wissenstheorien der griechischen Philosophen handelt es sich dabei um niederes Wissen. Denn es ist ein Wissen über Phänomene, die man nicht allgemeingültig auf bestimmte Ursachen zurückführen kann; es ist kein Gesetzeswissen; es ist Beobachtungswissen, das an den Einzelfall gebunden bleibt. Nur weil man über die gesetzesförmig-mathematische Formel nicht verfügt, muß man den Fall beschreiben, muß man viele Fallbeschreibungen sammeln, damit dereinst vielleicht doch auf induktivem Wege ein Gesetz formulierbar wird. Als serielle Fallbeschreibungen im Dienste applikativer Praktiken oder induktiver Theoriebildung stellt der erste Typ von Fallstudien sich dar.
Ein zweiter Typ ergibt sich, wie Süssmann ausführte, wenn Besonderes und Allgemeines subsumtionslogisch aufeinander bezogen werden können. Klassischerweise ist dies bei feststehenden Normen und ihren Anwendungen der Fall. Als Fallstudie versteht er, was das vorgeordnete Allgemeine illustriert oder exemplifiziert (dann wird die Fallstudie didaktisch) oder was ein aktuelles, vieldeutiges, beunruhigendes Besonderes als Anwendungsfall eines immergleichen Allgemeinen deutet (dann wird sie - je nachdem - gesetzesrechtlich, moralisch, religiös). Die Fallstudie dient hier nicht der Erkenntnis des Allgemeinen (da dieses immer schon feststeht), sie vollzieht eine Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine oder illustriert dessen Geltung an einem weiteren Fall; sie wird zur Beispielerzählung. Dafür darf sie rhetorisch werden, literarisch ausgefeilt, denn ob Didaxe oder Deutung - wirken und das heißt: bewegen, emotionalisieren, lenken, soll sie bei diesem Typus immer.
Süssmanns dritter Typ von Fallstudien gilt einem Besonderen, das nicht durch Induktion oder Subsumtion in einem Allgemeinen aufgeht, dem das Allgemeine vielmehr so in seine Besonderheit eingewoben ist, daß es nur durch "abduktives Schließen" (C.S. Peirce) sichtbar gemacht werden kann. Das heißt, solche Fälle müssen in ihrer irreduziblen Besonderheit dargestellt werden, damit ihre allgemeine Bedeutung kenntlich wird. Häufig wird behauptet, dieser dritte Fallstudien-Typ sei im ausgehenden 18., frühen 19. Jahrhundert entstanden, vor allem mit dem Aufstieg des Individualitätsbegriffs. In den Geschichtswissenschaften wird auf die Historisierung allen Wissens und Denkens verwiesen, die in jener Epoche sich vollzog. Bezogen auf das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem läßt sich von einer Emanzipation des Besonderen sprechen. Als Darstellung eines irreduzibel Besonderen müssen Fallstudien kunstvoller werden als etwa Beispielerzählungen. In den Vordergrund tritt die Evokation; Analyse oder Erörterung treten zurück. Mit dieser Konkretheit und Anschaulichkeit verbinden sich Möglichkeiten zur Emotionalisierung, die Fallstudien interessant machen für die Kommunikation mit einem allgemeinen Publikum. Möglicherweise wurden Funktionen, die Fallstudien als Datenprotokolle für viele Wissensgebiete besaßen, im Zeitalter der Verwissenschaftlichung von anderen Textsorten übernommen, während die Fallstudie sich als Beispielerzählung oder Evokation des (historisch) Einzigartigen mehr und mehr in ein popularisierendes oder agitatorisches Genre verwandelte, diesen Ruch zumindest angehängt bekam. Auch über solchen Funktionswandel im 19. und 20. Jahrhundert würde zu reden sein.

III. Beiträge
Carlo Ginzburg (Los Angeles) stellte in seinem Vortrag (Keynote Lecture) die Aktualität des Themas heraus: "Casuistry is back". Er knüpfte an die Abgrenzung des Kasus von Beispiel und Exempel von André Jolles (Einfache Formen, Halle 1930) an: "Das Eigentümliche der Form Kasus liegt nun aber darin, daß sie zwar die Frage stellt, aber die Antwort nicht geben kann, daß sie uns die Pflicht der Entscheidung auferlegt, aber die Entscheidung selbst nicht enthält - was sich in ihr verwirklicht, ist das Wägen, aber nicht das Resultat des Wägens" (S. 191). Ginzburg untersuchte die historischen Wurzeln und Formen dieser besonderen Form und stellte die Glossen an den Anfang: Entwickelt wurden Glossen von hellenistischen Philologen zum besseren Homer-Verständnis, und im Mittelalter wurden sie Bibeltexten, den Digesten sowie dem Decretum Gratians hinzugefügt. Dabei sind zwei gegensätzliche Interessen am Werke, wie Ginzburg an den Glossen von Accursio (13. Jhdt.) und Ludovico Bolognini (1502; beide in Bologna) zu den Digesten zeigte: Accursio ging es um die Verwendungsmöglichkeit der Digesten im zeitgenössischen Zusammenhang, Bolognini um die Rettung der korrekten Textgestalt derselben.- Jedenfalls waren die Glossen zu den Digesten wie die zu Bibeltexten ein fundamentales hermeneutisches Werkzeug, ein Genre, das eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung und Verbreitung des Genres Kasus darstellte, weil sie mit der Betonung der Bedeutung des Kontextes die Verbreitung des Genres Kasus als kontextgebundene, relativ geschlossene Erzählung vorbereitete: Ein Kasus handelte ein rechtliches, religiöses oder moralisches Prinzip nicht simpliciter, sondern nach einem secundum quid ab, d.h. nicht als reines Prinzip, sondern mit dem Blick auf die besonderen, historisch spezifischen Umstände.
Ginzburg stellte nun die Entwicklung in Glossen und in der Kasuistik zum Problem des Wuchers dar, und er konnte eine überraschende Rezeption von Giovanni d´Andreas Questiones mercuriales (1490) in Niccolò Machiavellis Komödie La Mandragola und schließlich in Il Principe aufzeigen: Giovanni d´Andrea hatte im Bemühen, dem Geldhandel einen Weg zu öffnen, zwischen moralischen Prinzipien und legitimen Ausnahmen wegen besonderer Umstände unterschieden; Machiavelli wendet diese Unterscheidung (mit deutlichen Bezügen auf d´Andrea) in seiner Komödie auf den Ehebruch an, in Il Principe auf die Regierungskunst (insb. Kap. XV: "Daher muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein..."). Machiavelli beschreibt, so Ginzburg, die Welt, in der wir "nach dem Gebot der Notwendigkeit" (Kap. XV) leben müssen, als die wirkliche Welt mit all ihren spezifischen Ausnahmen von einer allgemeingültigen Regel. Dabei ist Machiavelli kein Machiavellist: Er bezweifelt die Gültigkeit allgemeiner moralischer Regeln nicht. Er hält auch - in den Discorsi - daran fest, daß angesichts der Unwandelbarkeit der Natur und der menschlichen Natur aus der Geschichte wichtige Beispiele für richtige Problemlösungen in der Gegenwart fruchtbar gemacht werden können: Wie es in der Rechtsliteratur und in der medizinischen Literatur üblich sei, so will er in den Discorsi eine Sammlung antiker historischer Beispiele unter dem Aspekt ihrer gegenwärtigen Anwendungsmöglichkeiten analysieren.
Die Nachahmung der Antike und die Vorstellung einer unwandelbaren Natur gehören in den Debatten des 16. Jahrhunderts eng zusammen. Beide Vorstellungen werden im 16. Jahrhundert erschüttert. Ginzburg weist auf ein Manuskript von Sperone Speroni aus dem Jahr 1572 hin, in dem dieser scharf gegen die Gültigkeit antiker Beispiele argumentierte, weil die Natur und die Menschen sich änderten und Beispiele aus der Antike deshalb keine Gültigkeit für aktuelle Entscheidungen haben könnten. In Speronis Augen war die Natur ein Ort von Instabilität geworden, und in einem sich ändernden Kosmos werden neue Fälle und neue Entscheidungen ohne Vorgängerbeispiele immer wichtiger. Der wirklich entscheidende Bruch mit den Sicherheiten Machiavellis findet aber erst in den Schriften Galileo Galileis statt, nämlich eine Trennung von Natur und dem Reich der menschlichen Angelegenheiten, in dem es -im Gegensatz zur Natur - besondere, stets wechselnde Umstände geben mag, das Reich von Kasus und Kasuistik, während in der Natur ewige und unveränderliche Gesetze herrschen. Die Debatte um diese Trennung ist aber wieder eröffnet, und so gibt es eine Renaissance der Kasuistik.

Sektion 1: Theorie der Fallstudie
Lorenz Rumpf (Frankfurt) untersuchte eine Reihe von Texten griechischer und römischer Historiker aus hellenistischer Zeit, der römischen Republik und der Kaiserzeit vergleichend auf je kulturspezifische Deutungsmuster hin. Das Interesse galt wesentlich den Implikationen der Texte; es ging um eine systematische Ermittlung von jeweils mitlaufenden und gerade nicht ausdrücklich thematisierten Prämissen: ziemlich elementaren, kulturspezifischen Ordnungssystemen, einer "Kulturgrammatik", die sich in der konkreten Art und Weise des Umgangs mit dem historischen Material ausdrückt - und gerade in den dabei jeweils erkennbar werdenden, unbefragten Selbstverständlichkeiten.
Lorenz Rumpf plädierte für eine geduldige Analyse von Einzelfällen als einem geeigneten methodischen Weg, sich dem Fundus von Selbstverständlichkeiten zu nähern, für die Operation, wenig Material zur Grundlage für weitreichende Vermutungen zu machen, d.h. auf umfangsmäßige Repräsentativität zu verzichten, mit dem Ziel, möglichst aussagekräftige Hypothesen zu bilden - und so scharf umrissene Typen vor Augen zu bekommen. Zunächst richte sich die Suche auf ‚Charakteristisches', auf ein Prinzip, und nicht auf numerische ‚Repräsentativität'. Es gehe nicht darum, schon zu verallgemeinern, sondern möglicherweise Verallgemeinerbares zu formulieren.

Ulrich Oevermann (Frankfurt) ging es um die methodologische Begründung von Fallstudien, die nicht als Vorstufe, sondern als Normalform und als Königsweg der Grundlagenforschung in bestimmten Disziplinen, eben den Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt, zu gelten haben. Das solle vor allem auch für die kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen gelten, in denen jenseits einer ihnen gar nicht abgeforderten klinischen oder Interventionspraxis, vom historischen oder ästhetischen Gegenstand bestimmt, traditionell schon immer die "Fallstudie" in der einen oder anderen Form die Forschungstätigkeit konkret ausmache, und dies schließe ein, die "Fallstudie" von der Fesselung an Erzählung und Deskription zu lösen, also die Lösung des Problems der Generalisierung und gesetzmäßigen Erklärung in die Fallanalyse zu integrieren.

George C. Rosenwald (Michigan) diskutierte in seinem Beitrag den Ertrag der multiple-case-Methode. Er betonte, daß psychologische Fallstudien potentiell ein tieferes Verständnis von Subjektivität ermöglichen, indem sie verstehen lassen, wie die besondere Lebensgeschichte eines Menschen und seine soziokulturellen Dispositionen die Reaktionen eines Menschen auf "äußere" Ereignisse, Bedingungen, Beziehungen usw. beeinflussen. Wenn man aber wirklich verstehen will, wie unsere soziale Welt den Individuen ihren Stempel aufdrücke, müsse man eine Vielzahl von Fällen analysieren, ohne jedoch die Intensität der Fokussierung auf das Subjektive zu schmälern. Die Analyse einer Vielzahl von Fällen solle unter pragmatischen Gesichtspunkten stattfinden (Erleichtern diese Studien den gesellschaftlichen Fortschritt? Stützen sie professionelle Effektivität? usw.).

Sektion 2: Narrativik der Fallstudie
Rudolf Schweikart (Leipzig) stellte in seinem Beitrag anhand von teilnehmenden Beobachtungen in einer pädagogischen Einrichtung Fragen nach den Möglichkeiten einer nichthermeneutischen Fallanalyse. Es ging um eine Rekonstruktion von Elementen beruflichen Erfahrungswissens. Dieses personengebundene Wissen (implicit knowledge, tacit knowledge, Können) setze sich im Wesentlichen aus nicht bewusstseinsfähigen Bestandteilen zusammen. Mit dem Blick auf berufliche Praxis und personengebundenes Erfahrungswissen ließe sich, so die Schlussfolgerung, der Untersuchungsgegenstand nicht auf Sinnverwendung reduzieren und damit auch nicht als Sinnverwendung analysieren, selbst wenn die Analyse eine Form der Sinnverwendung sei. Mit anderen Worten: Die (berufliche) Performanz/Praxis könne als Geschichte rekonstruiert werden, nicht nur die Narration darüber. Insofern beruhten die Fallstudien auf einem Untersuchungsgegenstand, der sich hermeneutischer Engführung entziehe.
Susanne Scholz (Frankfurt) untersuchte die Tatsache, daß ein ansehnlicher Teil der spätviktorianischen phantastischen Literatur in der Form von Fallstudien daherkommt. Dies eröffne eine weitere Perspektive auf das Problem der Normierungen des Menschlichen, die in wissenschaftlichen Fallstudien im 19. Jahrhundert vorgenommen werden. Phantastische Literatur sei eine Literatur der Verunsicherung von kulturellen Normen, speziell der Wissensbildung über die Normen des Humanen. In phantastischen Fallstudien würden die Produktionsbedingungen medizinischen Wissens offengelegt und damit ihre evidenzbildenden Verfahren unterminiert.
Susanna Burghartz (Basel) untersuchte den aufsehenerregenden Fall des Leonhard Thurneisser (geboren 1531 in Basel), d.h. dessen "durch noth gedrungenes Ausschreiben", eine Rechtfertigungsschrift aus dem Jahre 1584. Sie plädierte dafür, Geschichten - Fälle - wie die des Leonhard Thurneisser zu nutzen, um immer neue Versionen der Geschichte und ihrer Gegengeschichte(n) zu schreiben. Polyphonie und Vielschichtigkeit solcher Fallgeschichten produzierten so viele Bedeutungen, dass immer Überschüsse entstünden, die sich keiner Geschichte restlos subsumieren ließen, weder dem grand récit noch seiner Gegengeschichte.
Michael Neumann (Dresden) analysierte Kleists Drama Die Hermannsschlacht (1808) als Fallstudie. Das Ziel des Dramas liege darin, die Rezeption seiner Effekte mit der Wirklichkeit kurzzuschließen, Aufführung und Wirklichkeitswahrnehmung sollten ineins fallen. Der Konfiguration des Dramas sei es dann aufgegeben, die Konfiguration der Wirklichkeit nicht nur abzubilden, sondern vielmehr noch sie hervorzubringen. Es sei in epistemologischer Hinsicht kaum zu überschätzen, daß das Medium der historischen Fallstudie Hermannsschlacht das Theater sei; im Vollzug dieses Textes realisiere sich nämlich ein Anspruch, der über die Bühne hinausweise und die Frage nach den Geltungsbedingungen des Textes der Geschichte überantworte. Deren gegenwärtige Verfassung - die Besetzung durch römische bzw. französische Truppen - gelte es sowohl im Drama wie auch in der Wirklichkeit zu überwinden; die Fallstudie wolle dazu Anleitung und Vollzug in einem sein. Das Theater sei nicht nur der Ort der Vorführung des Falls, er sei vielmehr das Modell für dessen Vollzug. Im Medium des Theaters werde die Machbarkeit der Geschichte verbürgt.

Sektion 3: Epistemik der Fallstudie I
In dieser Sektion fielen leider die Beiträge von Margarete Schlüter (Frankfurt) und Annette Meyer (Köln) krankheitsbedingt aus.
Charlotte Furth (South California) führte aus, daß Fallstudien im modernen europäischen Zusammenhang einen Platz zwischen verschiedenen Denkmustern haben, nämlich zwischen einem statistischen und einem, das die Leser von Fallstudien kraft der narrativen Überzeugungskraft zu einem empathischen Verständnis verschiedener Facetten menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten befähige. Fallstudien, so Furth, lassen die Grenzen zwischen einem positivistischen (naturwissenschaftlichen) und einem sozialen, humanistischen Verstehen verschwimmen. Sie sieht darin eine Chance, aber auch die Problematik von Fallstudien.- Sie stellte die Fallstudien chinesischer Ärzte und Juristen vor und zeigte, wie diese das professionelle Erfahrungswissen so weiterentwickelten, daß es einem erfolgsorientierten Handeln in einer Welt diente, deren Prämissen sie nicht festschrieben, sondern erfahrungsgestützt weiterentwickelten. "Thinking with Cases" stellte Charlotte Furth in ihrer Betrachtung der chinesischen Fallstudien-Praxis als ein erfolgversprechendes Modell von erfahrungskontrollierter Innovation und professionalisierter Intervention in Innovationsprozessen dar.
Bettina Wahrig (Braunschweig) berichtete aus ihren laufenden Forschungen zur klinisch-forensischen Erfahrung in Vergiftungsfällen 1750-1850. Sie wertet Darstellungen von Vergiftungsfällen aus. Einige der Beispiele sind Fallstudien, wie man sie auch in anderen Gebieten der Medizin finden würde, andere sind Anekdoten oder Berichte über Fallberichte. Diese Vielfalt entspricht einer Situation, so Wahrig, in der die Kompetenzen zwischen verschiedenen Experten noch ungeklärt waren und sich auch aufgrund von Reformen im Rechtswesen sowie von politischen Veränderungen verschoben. Erst in den 1820er Jahren bilde sich das Bewußtsein für eine erforderliche Form von Fallberichten heraus. Auch nehme schon von 1800 an die Zahl der nicht nachträglich überprüften ad-hoc-Nachweise ab. Es bilde sich eine durch Printmedien gestützte diskursive Vernetzung zwischen dem juridischen und dem medizinischen Bereich heraus, die Frage nach den Katalysatoren der Vernetzungen soll im Fortgang ihrer Forschungen geklärt werden.

Sektion 4: Epistemik der Fallstudie II
Ulrike Bergermann (Paderborn) setzte sich mit dem 'exemplum' im Spannungsfeld von Allgemeinem und Singulärem auseinander, das mit Derridas und Agambens Fassungen von Inklusion und Exklusion zu beschreiben wäre, wie sie dies in William Ross Ashbys populärer "Einführung in die Kybernetik" (1956) geleistet sieht. Eine Fülle von Beispielen, etwa für mathematische "Vielfalt" mit Geschichten um Kartenspiel, Bakterienvermehrung, Spionagesignale, Buchstabenkombinationen, Persönlichkeitstests oder dem Eheleben macht in Form von Übungsaufgaben die Theorie nachvollziehbar, wie im (Gedanken-)Experiment mit vorgezeichnetem Ausgang: eine Übersetzung, deren erfolgreiche Anwendung rückwärts wiederum die Theorie beweist. Hier wuchern die Beispiele umso mehr, je allgemeiner die Lehre von der Regelung und Steuerung alle Lebensbereiche zu durchdringen beansprucht. Wie in einer Konjugationstabelle (amare: amo, amas, amat...) können dann Regeln auf alles angewandt werden, worin entsprechende strukturelle Voraussetzungen erkannt wurden, was wiederum mit Hilfe von Ähnlichkeitsrelationen eingeübt werden muss. Dem Bedingungsgeflecht von Einzigartig-Beispielhaftem und den Gesetzen der Ähnlichkeit ging der Vortrag anhand des genannten Lehrbuchs nach.
Michael Stolberg (Würzburg) untersuchte Formen und Funktionen ärztlicher Fallbeobachtungen in der Frühen Neuzeit (1500-1800). Sein Ausgangspunkt waren die zahlreichen Sammlungen von Fallbeobachtungen, also das literarische Genre der ärztlichen Fallgeschichten. Dabei skizzierte er die Gründe für die große Popularität dieses Genres in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Medizin und stellte dann im Hauptteil die wichtigsten Spielarten ärztlicher Fallgeschichten in ihrer historischen Entwicklung und in ihren unterschiedlichen Zielrichtungen und Funktionen vor: Consilia sind Produkt und unmittelbarer Ausdrück ärztlicher Praxis; Observationes medicinales sind klinische Fallbeobachtungen, Observationes rarae sind Berichte über ungewöhnliche Fälle und Begebenheiten. Medizinische Fallbeobachtungen in der Frühen Neuzeit wurden den Ärzten umso wichtiger, je wichtiger die "Empirie", die direkte, persönliche Erfahrung am Krankenbett im Vergleich zur Berufung auf autoritative Texte oder übergreifende medizinische Theorien wurde.
Xenia von Tippelskirch (Bochum) suchte nach den Spuren einer Vorgeschichte der modernen Fallstudie, indem sie eine Rekonstruktion der im 16. und 17. Jahrhundert geführten Diskussionen über die Rezeption von Exempla unternahm. Exemplum wurde hier nicht im mediävistisch restriktiven Sinne einer kurzen Erzählung mit religiöser Absicht verstanden, sondern im - auf die antike Definition zurückgehenden - weitergefassten Sinne einer narrativen Kurzform, die als Beleg einer allgemeingültigen Aussage im Kontext einer Argumentation verwendet wird. Sie beleuchtete die Bedeutung des narrativen Charakters der modernen historischen Fallstudie und die Nähe von Faktizität und Fiktionalität in der historischen Rekonstruktion, ein Thema, das auch in jüngsten Überlegungen zur Mikrostoria wieder aktuell geworden ist. Sie stellte die Frage in den Mittelpunkt, welche Wirkungen sich Verfasser von Fallgeschichten erhoff(t)en. Die Arbeiten zeitgenössischer Mikrohistoriker wie Carlo Ginzburg und Natalie Zemon Davies wurden dementsprechend unter dem ganz spezifischen Gesichtspunkt ihrer Auseinandersetzung mit ihrem intendierten Publikum betrachtet.
Thomas Loer (Dortmund) versuchte in seinem Vortrag über die Region Ruhrgebiet als Fall in Abgrenzung und unter Nutzung von beschreibend verfahrenden Fallstudien eine Explikation der Fallrekonstruktion als aufschließendes Verfahren, das zu in ihrer Geltung methodisch abgesicherten Ergebnissen führt. Die Geltung der Beschreibungen, die von Fallstudien geliefert würden, in denen der Fall in einer bestimmten - sei es subjektiven, sei es theoretischen - Perspektive beschrieben werde, beschränke sich in Abhängigkeit von der Angemessenheit der Intuition des Forschers oder der theoretischen Perspektive darauf, einen angemessenen Ausdruck - methodisch gesprochen: ein (weiteres) angemessenes Protokoll - des Gegenstands bereitzustellen. Die Erklärung der Struktur des Gegenstandes und die Erklärung ihrer Genese bedürfe jedoch der hermeneutischen Rekonstruktion.

Sektion 4: Geschichte des Genres Fallstudie unter Berücksichtigung der Pragmatik der Fallstudie
Heinz. D. Kittsteiner (Frankfurt/O.) näherte sich den Problemen von Fallstudien über eine Untersuchung der Analogiebildung bei Marx und Oswald Spengler anhand des "18. Brumaire" und des "Untergang des Abendlandes". Er kam zu dem Schluß, daß Marxens Schrift nur insofern eine Fallstudie sei, als sie für die Revolution von 1848 den "Fall" der Revolution von 1789 als ironisch gebrochenes Schema zugrundelege. In diese Analogiebildung mische sich aber die Konstruktion eines historischen Symbols, eines "Geschichtszeichens" (Kant). Marx habe sich also als Zeichendeuter in seiner Gegenwart betätigt, er habe keine Fallstudie geliefert, sondern eine Geschichtsdeutung vor dem Hintergrund eines Theoriegebäudes. Gleiches gelte - wiewohl mit anderen Bewertungen - für Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes". In beiden Schriften fänden wir keine Fallstudie, sondern ein Gemisch von Analogiebildungen und die Konstruktion symbolischer Geschichtszeichen.

Joachim Jacob (Gießen) stellte in seinem Beitrag die kunsttheoretische Vorgeschichte der Fallstudie im 18. Jahrhundert dar. Ausgehend von der erstaunlichen Koinzidenz, daß einer der Begründer der modernen empirischen psychologischen Forschung, nämlich Karl Philipp Moritz, nicht nur der Sammler von psychiatrischen Fallstudien war (in seinem Magazin für Erfahrungsseelenkunde) und sich selbst zum Gegenstand einer literarisch-psychologischen Fallstudie gemacht hat (in seinem Roman Anton Reiser), sondern andererseits auch eine radikale Theorie des autonomen Kunstwerks entwarf (Über den Begriff des In-sich-selbst-vollendeten), diskutierte Jacob diese Wechselbeziehung zwischen der Kunsttheorie eines absoluten, schließlich symbolischen Werks und der Idee der besonderen Allgemeinheit eines historischen Falls. Er ging von der Überlegung aus, daß die Ästhetik das heuristische Modell der Fallstudie im 19. Jahrhundert nicht nur adaptiert, sondern ihm auch voraus- bzw. parallelgeht.
Anita Traninger (FU Berlin) analysierte zunächst eine Gruppe von Texten des 17. Jahrhunderts, die sich im Hinblick auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse mit dem lapsus hominis auseinandersetzen: im Hinblick auf die Kapazität des menschlichen Verstandes und die Perfektion des Wissens vor dem Fall, auf die durch den Fall verursachte Korruption der perzeptiven und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen sowie den Verlust allen Wissens, und schließlich auf die Bedingungen seiner Restauration. Im Anschluß daran ging sie der Frage nach, ob die Geschichte des Falles auch sinnvoll als Fallgeschichte konzeptualisiert werden könne. Dazu untersuchte sie die Ambiguitäten der Begriffe Fall, Beispiel und Exempel.

IV. Ergebnisse
Nach drei Dimensionen von Falldarstellungen wurde gefragt: nach ihrer Darstellungsart bzw. Narrativik (sofern es sich um erzählende Texte handelt); nach ihrer Epistemik, also danach, in welche Art von Spezifischem oder Besonderem der dargestellte Fall jeweils verwandelt wird und zu welcher Art von Allgemeinem er dadurch in Beziehung gesetzt wird; nach ihrer Pragmatik, d.h. nach dem Gebrauch, der von den jeweiligen Falldarstellungen gemacht wird.

Um mit der Fehlanzeige anzufangen: Über die Darstellungslogik von Fallgeschichten war auf dieser Konferenz so gut wie nichts zu erfahren. Die Narratologie der Fallstudie bleibt ein dringendes Desiderat. Hier tun sich, wie in der Schlußdiskussion bestätigt wurde, riesige unbeackerte Gebiete auf: In der Rechts- und in der Medizinhistorie, in der Literaturgeschichte und in der Historiographiehistorie, überall wäre eine solche Narratologie hochwillkommen; für die aktuelle Kontroverse um die Fallstudie in den Sozialwissenschaften und in der Psychoanalyse hätte sie erhebliche wissenschaftstheoretische Bedeutung. Rhetorik wie Erzähltheorie könnten mit einer solchen Arbeit erhebliche transdisziplinäre Wirkung erzielen. Ihre spezifische Kompetenz ist dringend gefragt - bleibt zu hoffen, daß diese Feststellung stimulierende Wirkung hat.

Umso ertragreicher war die Konferenz im Hinblick auf die anderen beiden Dimensionen: Über den Zusammenhang von Fallstudienverwendung und Konzeptualisierung des jeweiligen Falls sind wichtige Klärungen gelungen. Das scheint systematische Gründe zu haben: Offenbar gibt es einen engen, wenn nicht notwendigen Zusammenhang zwischen der Fallstudie als Denkform und der Praxis, in die sie jeweils eingelassen ist.

Evident wurde das vor allem für diejenigen Falldarstellungen, die als Teil einer professionalisierten Praxis entstehen: also in der Rechtsprechung, in der Heilkunde, in der Politik (sofern diese als Regierungskunst professioneller Amtsträger aufgefaßt wird).
Für diese Art von Falldarstellungen professionalisierter Praktiken hat die
Konferenz ergeben, daß es verkehrt ist, sie als bloße Vorstufe allgemeinen Wissens zu perspektivieren. Offenbar handelt es sich bei ihnen um mehr als um bloßes Material induktiver Theoriebildung, offenbar haben sie in der Praxis ein Eigenrecht, das der wissenschaftstheoretischen Diskussion vorausliegt und mit deren Kategorien nicht angemessen aufgeschlossen werden kann. Zumindest gilt dies, wenn die jeweilige Kasuistik den Einzelfall nicht subsumtionslogisch in einem feststehenden Raster zum Verschwinden bringt, sondern umgekehrt ihren Vorrat an Kategorien verwendet, um den Einzelfall in seiner Spezifizität zu profilieren. Für das historische Studium professionalisierter Praktiken ergeben sich daraus faszinierende Perspektiven.

Auch für die Geschichtsschreibung ergaben sich von den Falldarstellungen professionalisierter Praxis her neue Perspektiven. Was für die vorwissenschaftliche Historiographie bereits deutlich war: daß sie, von politischen Praktikern für die Selbstverständigung von Gemeinwesen geschrieben, als Teil politischer Praxis entstand und daher - einen bestimmten Politikbegriff vorausgesetzt - durchaus als Sonderform jenes ersten Typus von Falldarstellungen begriffen werden kann, das wurde auch für die Geschichtsschreibung der Moderne (jedenfalls für bestimmte Richtungen darin) reklamiert. Denn nicht unter erkenntnistheoretischen Prämissen, sondern unter politischen, ethischen oder didaktischen wurde sie in den ihr gewidmeten Beiträgen primär diskutiert. Als Praxisform trat sie mithin in den Blick; als Praxis bezeichnete Carlo Ginzburg in seinem Abendvortrag die gesamten humanities, indem er ihre Kasuistik als Zersetzung des Anspruchs auf eindeutigen Textsinn interpretierte und sie professionsethisch auf den Kampf gegen den Fundamentalismus verpflichtete.
Wie immer man dazu stehen mag (d.h. wie man für die Geschichtswissenschaft das Verhältnis von professionalisierter Praxis und wissenschaftlicher Theoriebildung bestimmt, von Geschichtsschreibung und wissenschaftlicher Literatur), eng rücken unter dieser Perspektive die elementaren Falldarstellungen professionalisierter Praxis und die avancierten Fallstudien der Geschichtsschreibung, der Soziologie und der Psychoanalyse zusammen.

Grundsätzliche Unterschiede ergaben sich hingegen zu den Beispielerzählungen und Exempeln. Denn in ihnen wird bei der Darstellung ein Allgemeines eingeführt: sei es beim Beispiel als Begriff, auf den der konkrete Fall durch das Argument bezogen wird; sei es beim Exempel als Handlungsmaxime oder Lehre, die daraus abgeleitet wird. Beide Möglichkeiten wurden auf der Konferenz durch den Rückgriff auf die rhetorische Tradition sorgfältig unterschieden. Schon dies machte eine Differenzierung der oben vorgeschlagenen Typologie erforderlich. Noch wichtiger aber war der Hinweis, daß weder das Beispiel in sich bereits den Begriff enthält, den es verdeutlichen, noch das Exempel die Lehre, zu der es anhalten soll. Beides kommt vielmehr erst durch die Argumentation hinzu. Daher sind - wie hervorgehoben wurde - Beispiel und Exempel keine eigenen Textsorten, sondern spätestens seit der Frühen Neuzeit Funktionsbezeichnungen für Textteile innerhalb von umfassenderen Argumentationen. Sie in eine Typologie unterschiedlicher Falldarstellungsarten aufzunehmen, ist daher wohl grundsätzlich verfehlt. Sinnvoller scheint es nach dem jeweiligen Gebrauch zu fragen, der von Fallerzählungen innerhalb von anderweitig definierten Textsorten gemacht wird.

Auch in den Falldarstellungen professionalisierter Praxis können Fälle möglicherweise als Beispiele oder Exempel verwendet werden, in der diskursiven wissenschaftlichen Literatur geschieht dies ohnehin. Wichtig bleiben beide Möglichkeiten für die Epistemik der Falldarstellung. Denn das Beispiel steht für ein logisches Verhältnis, in dem der Einzelfall als Besonderes (concretum) einen Allgemeinbegriff (abstractum) verdeutlichen soll. Und auch das Exempel ist bei aller Differenz zum Beispiel, wie Kant in der "Metaphysik der Sitten" erläutert, "ein besonderer Fall von einer praktischen" - man wird ergänzen dürfen: allgemeinen und abstrakten - "Regel". Beide Male handelt es sich also um ein Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem. Davon ist das Verhältnis von Spezifischem (Individuellem) und seinen allgemeinen Voraussetzungen (Ermöglichungsbedingungen) zu unterscheiden. Das Spezifische ist - wie auf der Konferenz mit Hilfe der ästhetischen Theorie gezeigt wurde - eben kein Besonderes im Gegensatz zu einem Allgemeinen, sondern etwas Einzigartiges, das sich durch Auseinandersetzung mit allgemeinen Bedingungen gebildet hat und diese dadurch gleichsam in sich hineingeklappt enthält. Offen blieb die Frage, ob dieses Verhältnis schon in den älteren Falldarstellungen professionalisierter Praxis anzutreffen ist (womit diese auch epistemisch mit den modernen Falldarstellungen zusammenrückten) oder ob es wie seine Theorie erst Ende des 18. Jahrhunderts entstanden ist. Wie verhält es sich zur Epistemik der Falldarstellungen professionalisierter Praxis - auch zu solchen in der Gegenwart? Denn daß es sich dabei ausnahmslos um Individuierungsgeschichten handelt, wird niemand behaupten wollen. Wie lassen sich die einzelfallbezogenen Problemlösungen der Professionen und die Individuierungsgeschichten erkenntnistheoretisch aufeinander beziehen?

Anmerkung:
[1] Wie sie seit einigen Jahren von Ulrich Oevermann und seinen Schülern im Rahmen des Frankfurter Forschungskollegs "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel" vorangetrieben wird, grundlegend: Ulrich Oevermann: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Hrsg. v. Arno Combe und Werner Helsper. Frankfurt/M. 1996, S. 70-182.


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