Einfamilienhausidyllen, Shopping-Center, Golfplätze. Grundzüge der interdisziplinären Suburbanisierungsforschung und erfahrungsgeschichtliche Perspektiven

Von
Meik Woyke, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Die in Deutschland verstärkt seit den 1950er Jahren zu beobachtende Suburbanisierung wurde und wird immer wieder kritisiert. Besonders exponierte sich der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich, der zahlreiche Apologeten fand. Die Grenzen von Stadt und Landschaft, so ein gängiger Vorwurf, seien durch die rasant um sich greifende Verstädterung bis zur Unkenntlichkeit zersiedelt, aufgelöst und entstellt worden. Bei den suburbanen Räumen, die häufig als diffuses Gemisch aus Einfamilienhausidyllen, Wohnblocksiedlungen, Autobahnabfahrten, Shopping-Centern auf der "grünen Wiese", Industriegebieten, Golfplätzen und Tankstellen beschrieben werden, handele es sich um Grauzonen der Stadtentwicklung, um einen konturlosen und landschaftsvernichtenden Siedlungsbrei, der sich ohne weiteres als Infrastrukturwüste und soziale Problemzone kennzeichnen lasse. Zudem nehme die Verkehrsintensität zu. Mit dem "Flächenfraß", betonten verschiedene Kritiker, sei zwangsläufig ein Verlust an urbaner Substanz verbunden; die Suburbanisierung verletze die Konventionen von Architektur und Stadtplanung ebenso eklatant wie nachhaltig.

Ungeachtet dieser Fundamentalkritik lebt heute mehr als die Hälfte der Bundesbürger in suburbanen Agglomerationsräumen, nur circa ein Drittel hingegen in den Großstädten selbst. In den USA stellt sich die Situation kaum anders dar, wenn auch ohne substanziellen Einfluss übergeordneter Planungsinstanzen und in erheblich größeren Dimensionen. Suburbane Lebenswelten prägen als Erfahrungsräume die gesellschaftliche Gegenwart in starkem Maße. Eine nennenswerte Rückkehr in die Städte zeichnet sich nicht ab. Vielmehr ist die Suburbanisierung – verstanden als die Ausbreitung von Städten über die jeweiligen administrativen Grenzen hinaus bei gleichzeitiger Urbanisierung stadtnaher, vormals agrarisch strukturierter Regionen – trotz einiger Modifikationen nach wie vor der entscheidende Migrationstrend. Aktuelle Zahlen verdeutlichen das: Der individuelle Wohnflächenbedarf hat sich in der Bundesrepublik seit 1949 nahezu verdreifacht und drei Viertel aller Deutschen möchten heute "im Grünen" wohnen. Bis vor kurzem wurden sie darin von einer Politik bestärkt, die mit Eigenheimzulage und Pendlerpauschale massenwirksame Anreize geschaffen hatte.

Die historischen Wurzeln der Suburbanisierung lassen sich weit zurückverfolgen. Ein 2001 von Tilman Harlander in Verbindung mit Harald Bodenschatz, Gerhard Fehl, Johann Jessen, Gerhard Kuhn und Clemens Zimmermann herausgegebener, wichtiger Sammelband, der den Schwerpunkt auf städtebauliche, architektonische und planungsgeschichtliche Aspekte legt, spannt den Bogen von den ersten suburbanen Lust- und Sommerhäusern betuchter Stadtbürger des 17. und 18. Jahrhunderts über die Villenkolonien des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Gartenstädten und anderen Mustersiedlungen des frühen 20. Jahrhunderts. Auch die gegenwärtig diskutierten Versuchssiedlungen, Wohnparks und Ökosiedlungen werden von dieser interdisziplinär mit Architekten, Stadtplanern, Sozialwissenschaftlern und Historikern besetzten Forscher- und Autorengruppe betrachtet, wobei der suburbane Eigenheimbau im Mittelpunkt des Interesses steht.

Das schlechte Image des Suburbanen im Feuilleton und allgemein in der städtischen Presse ging lange damit einher, dass es sich um ein, wie Heinz Reif in einer Rezension des genannten Sammelbandes hervorhebt, erstaunlich vernachlässigtes Forschungsfeld handelte. Als Gebilde von eigener Qualität und Entwicklungsdynamik wurde der suburbane Raum erst ziemlich spät, dann aber von den verschiedensten Disziplinen wahrgenommen. Dies hatte mindestens zwei Gründe: Erstens galt die Urbanisierung weithin als Vorgang, der eng mit der Industrialisierung verknüpft und daher in Deutschland zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Wesentlichen abgeschlossen war. Tatsächlich haben sich beide historischen Prozesse gegenseitig bedingt und lange Zeit verstärkt. Die jüngeren Entwicklungen der Zwischen- und Nachkriegszeit stellten aus dieser Perspektive lediglich Ausformungen eines früher erreichten Zustands dar, was sich mit dem Vorrücken der Zeitgeschichtsschreibung in die 1950er und 1960er Jahre und nicht zuletzt dem verstärkten Interesse der Soziologie zu ändern begann.

Zweitens bildet vor allem die Suburbanisierung nur einen Teilbereich im breiten Themenspektrum der Stadtgeschichts- und Urbanisierungsforschung. Besondere Aufmerksamkeit erlangten bislang eher Themen wie die Erforschung der Großstädte als dem zentralen Ort der Urbanität, die Genese der städtischen Selbstverwaltung und der kommunalen Infrastruktur, die Ausprägung des städtischen Bürgertums oder anderer sozialer Milieus sowie die Durchsetzung des Urbanen als kulturelles Leitbild. Die "Speckgürtel" von Großstädten, so eine weit verbreitete, aber irreführende Metapher für suburbane Räume – wird doch eine gleichmäßige Ausdehnung städtischer Formationen suggeriert –, gerieten dagegen höchst selten in den Blick. Folgerichtig wies der Historiker Hans Jürgen Teuteberg zu Beginn der 1980er Jahre auf die Suburbanisierung als offenes und dankbares Forschungsfeld hin, zumal sich die bis dahin erschienenen Ortschroniken und Stadtmonografien zumeist auf die Schilderung historischer Daten und Anekdoten beschränkten, ohne diese in größere historische Zusammenhänge einzuordnen. Im Jahr 1985 bezeichnete Jürgen Reulecke die Suburbanisierung als "fünften Akt" der Urbanisierung und widmete der bundesrepublikanischen Entwicklung in seinem Standardwerk zur Geschichte der Urbanisierung immerhin einige Seiten. Mehr ließ der damalige Forschungsstand kaum zu.

Bevor sich die Geschichtswissenschaft stärker für die Suburbanisierung zu interessieren begann, hatte bereits die Raum- und Landesplanung in Kooperation mit der Soziologie die Randzonen und das Umland der größeren Städte als Forschungsgebiet entdeckt. Wegweisende Bedeutung erlangten die 1975 und 1978 von der Akademie für Raumforschung und Landesplanung veröffentlichten "Beiträge zum Problem der Suburbanisierung". Olaf Boustedt, einer der Initiatoren dieses Publikationsprojekts, hatte schon frühzeitig anhand von demografischen, sozioökonomischen und fiskalischen Kriterien ein Konzept zur Klassifizierung von suburbanen Gemeindetypen entwickelt. Er verfolgte das Ziel, die facettenreichen Lebensbedingungen an der städtischen Peripherie möglichst umfassend mit Hilfe von quantitativen Methoden zu beschreiben. Daneben entstand eine Reihe von siedlungsgeografischen und architekturgeschichtlichen Studien, die sich mit dem Phänomen der Suburbanisierung auseinander setzten. Auch die Land- und Agrarsoziologie griff das Thema schließlich auf. Ihr Fokus richtete sich vornehmlich auf die Transformation dörflicher Lebensverhältnisse angesichts umfassender Verstädterungsprozesse im Umland von ausgewählten Städten.

Die skizzierte allmähliche Hinwendung der Zeitgeschichtsschreibung zur Suburbanisierung als Thema hängt nicht zuletzt mit dem allgemeinen spatial turn in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft zusammen. Befördert durch die Historikertage von 1986 und 2004 schärfte die seit einigen Jahren verstärkt betriebene Historisierung des Raumes den Blick für die Entgrenzung des Städtischen. Zugrunde liegt häufig ein dynamischer Raumbegriff in Anlehnung an Soziologen wie Pierre Bourdieu und Martina Löw, welcher die Geschichtswissenschaft mit anderen Fachdisziplinen verbindet. Der Geografiehistoriker Hans-Dietrich Schultz brachte die aktuell dominierende, konstruktivistische Sicht auf die interaktive Raumwahrnehmung und -gestaltung, also die Analyse der raumstrukturierenden Normen und des sozialen Handelns der Menschen im Raum, im Jahr 1997 auf die einprägsame Formel: "Räume sind nicht, Räume werden gemacht!" Das gilt im besonderen Maße für das suburbane Umland von Städten, dessen territoriale Gestalt unter anderem von den Verwaltungsgrenzen der jeweiligen Kernstadt abhängt und das insofern als transitorisches Konstrukt betrachtet werden muss.

Zu den einschlägigen Arbeiten, die sich vor diesem Hintergrund um die Dekonstruktion solch hoch aggregierter Konstrukte wie der "Speckgürtel"-Metapher bemühen, gehört der 2001 von Klaus Brake, Jens S. Dangschat und Günter Herfert veröffentlichte Sammelband zu den Grundlagen und aktuellen Tendenzen der Suburbanisierung in west- und ostdeutschen Städten. Er vereint Beiträge von Stadt- und Regionalplanern, Soziologen, Geografen und Architekten. Nur ein Jahr später folgte das ebenfalls interdisziplinär ausgerichtete Themenheft der "Informationen zur modernen Stadtgeschichte", das auch die Entwicklung der nordamerikanischen Suburbanisierung beleuchtet. Schon 1997 hatte sich die Zeitschrift dem ebenso komplexen wie spannungsreichen Beziehungsgefüge zwischen Großstädten und ihrem Umland angenommen, ohne allerdings sonderlich in die Tiefe gehen zu können. Eine der wenigen umfassenden ortsgeschichtlichen Detailstudien, die sich mit dem suburbanen Raum beschäftigen und über einen monodimensionalen Raumbegriff hinausgehen, hat Christian Heppner vorgelegt. Seine 2005 erschienene, von Adelheid von Saldern betreute geschichtswissenschaftliche Dissertation stellt zum einen präzise dar, wie die Suburbanisierung im Zusammenspiel mit der kommunalen Gebietsreform in den 1970er Jahren zur Gründung der Stadt Garbsen am Nordwestrand von Hannover führte. Zum anderen schildert Heppner die zumeist erfolglosen Versuche kommunalpolitischer Akteure und anderer interessierter Kreise, der aus mehreren Dorfgemeinden gebildeten neuen Stadt eine identitätsstiftende Mitte zu geben. Insgesamt entsteht auf diese Weise ein differenziertes Bild einer polyzentrischen Kommune in einer nicht minder dispersen Stadtregion.

Wie die meisten dieser Arbeiten betonen, verschwammen seit der Mitte der 1950er Jahre in der Bundesrepublik zunehmend die Grenzen zwischen den Städten und den jeweils umliegenden Dörfern und Gemeinden. Die Stadt diente in vielerlei Hinsicht als Gestaltungsvorbild für das Land. In manchen suburbanen Orten stieg die Bevölkerungszahl dermaßen stark an, dass sich dort kleinere Städte herausbildeten oder bereits vorhandene Strukturen festigten. Generell fällt die Heterogenität der einzelnen Siedlungstypen ins Auge: Neubaugebiete ohne gewachsenes Zentrum finden sich in "Suburbia" ebenso wie Siedlungen mit langjähriger Dorf-, Gemeinde- oder Kleinstadtanbindung. Die vielfach zu beobachtende Entagrarisierung ging mit einer tief greifenden Agrarmodernisierung einher. Im Zuge dessen wurde die Landwirtschaft immer konsequenter als technisch-industrielles System organisiert, was massive ökologische Probleme aufwerfen konnte. Gleichzeitig verstärkte sich die Tendenz, die sperrige Infrastruktur, die eine moderne Stadtgesellschaft braucht, am Rande der Kernstädte zu lokalisieren. Im Laufe der Jahrzehnte entstanden Industrie- und Gewerbebetriebe, Rangierbahnhöfe, Abfalldeponien und Recyclinganlagen, Baumärkte, Postfrachtzentren, Bürogebäude, Strafvollzugsanstalten, Flughäfen und vieles Ähnliche mehr. Andernorts wurden suburbane Freizeitlandschaften angelegt. Diese Modellierung der Natur brachte zahlreiche Naherholungsgebiete hervor, dazu kamen sogenannte Ferienparks, Sportanlagen oder großzügig dimensionierte Erlebnisbäder.

Während sich die Suburbanisierung auf dem Gebiet der DDR bis 1990 in Grenzen hielt und erst nach der Deutschen Vereinigung unter enorm deregulierten Bedingungen an Dynamik gewann, sprengte der wachsende Platzbedarf in der alten Bundesrepublik zusammen mit der fortschreitenden Citybildung das bisherige Stadtgefüge. Die Kernstädte verloren an Bevölkerung und Arbeitsplätzen; traditionell städtische Funktionen, auch die Versorgung, wurden zunehmend ins Umland verlagert. Zu den wichtigsten Voraussetzungen für diesen Entwicklungsprozess gehörte der Ausbau des Öffentlichen Personennahverkehrs. Noch stärkere Impulse gingen von der seit den 1950er Jahren rasant zunehmenden Automobilisierung aus. Künftig ließen sich Distanzen leichter überwinden, wodurch die Intensität der räumlichen und sozialen Wechselbeziehungen zwischen den Städten und ihrem Umland abermals erheblich zunahm. Die Suburbanisierung avancierte zum strukturbestimmenden Prozess der bundesrepublikanischen Stadtentwicklung in einer arbeitsteiligen und mobilen Gesellschaft. Nach einer These von Walter Siebel ist Urbanität als Lebensweise heute nicht mehr an Städte gebunden, sondern längst ubiquitär geworden. Auf jeden Fall spielen sich wichtige Teile des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens mittlerweile in suburbanen Räumen ab, nicht zuletzt aufgrund der Entwicklung neuer Kommunikationstechniken wie Telefon und Internet.

Die raumüberwindende Kraft dieser Medien, die übrigens bislang keineswegs die vollständige Einebnung regionaler Milieus und Orientierungen bewirkte, ist in den letzten Jahren von der interdisziplinären Forschung auf verschiedene Begriffe gebracht worden. Bei einer Durchsicht der einschlägigen Veröffentlichungen zur Suburbanisierung fällt das Übergewicht tendenziell negativ konnotierter Begriffe auf. Soziologen und Stadtplaner wie Walter Prigge, Thomas Krämer-Badoni und Michael Bose sprechen üblicherweise von der Amerikanisierung, dem Zerfall, der Auflösung, dem Verschwinden oder sogar vom Ende der Städte. Auch wenn der oben kurz dargestellte Bedeutungsverlust der kompakten "europäischen Stadt" als Kommunikations-, Versorgungs- und Dienstleistungszentrum kaum abzustreiten ist, sollten die Begrifflichkeiten und Konzepte, mit denen städtische Agglomerationen und Urbanität im Zeitalter der Digitalisierung beschrieben und analysiert werden, keinen pejorativen Charakter haben. Weithin unstrittig ist, dass so verkürzende Dichotomien wie "Stadt und Land" oder "Zentrum und Peripherie" nur bedingt ausreichen, um die von der Industrialisierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts abgekoppelten Verstädterungsprozesse angemessen zu erfassen. Treffender ist der "Netzstadt"-Begriff (Franz Oswald) sowie die von dem Architektursoziologen Thomas Sieverts als "Zwischenstadt" in die wissenschaftliche Diskussion eingeführte Zustandsbeschreibung komplexer urbaner Verflechtungszusammenhänge. Demnach lässt sich gerade in polyzentrischen Stadtregionen eine "Verinselung des alltäglichen Lebens" konstatieren. Sieverts beleuchtet das Phänomen einer verstädterten Landschaft und verlandschafteten Stadt, verbunden mit über Verwaltungsgrenzen hinausreichenden teilräumlichen Spezialisierungen, wodurch die Anforderungen an die individuelle Mobilität steigen und sich die Ortsbindungen lockern, ohne dass zwangsläufig ein ausgeprägtes Regionalbewusstsein entsteht.

Andere begriffliche Prägungen betonen die Bedeutung von Impulsen aus dem Umland einer Großstadt im Suburbanisierungsprozess und heben somit ebenfalls auf die zwar nicht gleichberechtigte, aber gewöhnlich wechselseitige Durchdringung ländlicher und städtischer Lebenswelten ab (Rurbanisierung). Ferner existieren Ansätze, die sich mit den als postsuburban charakterisierten, vor allem in den USA zu findenden edge cities beschäftigen. Diese Außenstadtzentren besitzen funktional die Qualität einer Kernstadt, zumeist geht ihr Angebot an Wohn-, Arbeits-, Versorgungs-, Bildungs- und Erholungsmöglichkeiten sogar darüber hinaus, was einen Einpendlerüberschuss in dem ehemals suburbanen Gemeinwesen mit sich bringt. Zu erwähnen ist schließlich der Begriff der Reurbanisierung. Er steht im engen Zusammenhang mit der Anti-Sprawl-Bewegung, zielt auf die mancherorts auszumachende Revitalisierung von Innenstädten und mündet in das Wunschbild einer "Stadt der kurzen Wege" mit vergleichsweise niedrigen Mobilitätskosten.

Alle diese Forschungsansätze haben gemeinsam, dass sie die subjektiven Dimensionen der Suburbanisierung in der Regel unterbelichten. Selbst Thomas Sieverts, der sich bei seinem als Ladenburger Kolleg organisierten "Zwischenstadt"-Projekt auf die finanzielle Unterstützung der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung stützen konnte, leistet keine umfassende Erfahrungsanalyse, differenziert nach den verschiedenen Bevölkerungsgruppen im suburbanen Raum. Nach wie vor ist kaum bekannt, welche Wahrnehmungen und Erfahrungen zum Beispiel für die zahlreichen Berufspendler und ihre Ehefrauen, die sogenannten "Grünen Witwen", typischerweise prägend waren. Desgleichen steht eine vertiefte erfahrungsanalytische Betrachtung der alteingesessenen Bewohner von "Suburbia" noch aus. Noch seltener rückten bisher die Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und Senioren ins Blickfeld der hierfür ausgewiesenen Fachdisziplinen.

Diese Forschungslücken sollen unter der Leitung von Axel Schildt und Michael Ruck durch ein an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg betriebenes DFG-Projekt geschlossen werden. Vor dem Hintergrund der Wohnsituation und ausgewählter sozialgeografischer Daten ist nicht bloß nach den Geschlechterbeziehungen und Familienstrukturen zu fragen, sondern auch nach den Konsummustern und Freizeitstilen, die in den vielgestaltigen, sozial konstruierten suburbanen Erfahrungsräumen, so die heuristische Leitkategorie des Projekts, zwischen der Endphase des Wiederaufbaus bis in die 1970er Jahre vorherrschten. Als Beispiel dient Hamburgs nördliches Umland. Dort nahm die Einwohnerzahl durch Zuwanderungen aus der Hansestadt, den strukturschwachen Regionen in Schleswig-Holstein und aus dem übrigen Bundesgebiet, etwa im Rahmen der Migration hochqualifizierter Arbeitskräfte, von 1955 bis 1975 fast um das Vierfache zu. Mit den "langen 1960er Jahren" konzentriert sich die angestrebte sozial- und kulturgeschichtlich dichte Beschreibung auf eine Zeit, für die ein stetiger Einkommenszuwachs, der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme und die Ausweitung des persönlichen Zeitbudgets charakteristisch ist, während staatliche Förderungen wie die bereits erwähnte Pendlerpauschale zusammen mit der Eigenheimzulage als Suburbanisierungsprämien wirkten. Außerdem erörtert das Projekt die Frage, inwieweit sich in suburbanen Räumen spezifische Identitäten ausgebildet haben. Das mitunter spannungsreiche Verhältnis zwischen Hamburg und seinem nördlichen Umland verdient dabei ähnlich große Aufmerksamkeit wie die unterschiedlichen Formen der lokalen und regionalen Selbstrepräsentation, die oftmals medial verstärkt oder überhaupt erst konstruiert wurden.

Für die Geschichtswissenschaft stellt ein solcher erfahrungsgeschichtlicher Zugriff im Dialog mit der Soziologie und weiteren Nachbardisziplinen eine besondere Herausforderung dar. Erstens ist die Zahl der aussagekräftigen Quellen in der Regel stark begrenzt. Die in Landes- und Kommunalarchiven lagernden Planungsakten geben über die subjektiven Dimensionen der Suburbanisierung nur gelegentlich Auskunft. Tiefere Einblicke in die Lebenswelt der interessierenden Bevölkerungs-, Alters- und Berufsgruppen kann die systematische Auswertung von Lokal- und Regionalzeitungen vermitteln. Auch Ortschroniken, die hierin oftmals abgedruckten Erinnerungsberichte, manche Schülerzeitungen und die Imagebroschüren etlicher suburbaner Dörfer und Gemeinden, die aus fiskalischen Gründen um Einwohner und Gewerbebetriebe warben, lassen vermutlich typische Wahrnehmungs- und Erfahrungsmuster aufscheinen. Kaum zu überschätzen ist zudem der Wert von explorativen narrativen Zeitzeugeninterviews. Allerdings verfügt jeder Mensch letztlich über ein individuelles Reservoir an genuinen und vermittelten Erfahrungen, die verarbeitet, teilweise gezielt ausgedeutet und auch kollektiven Sinnkonstruktionen unterworfen werden. Diese Prozesse bilden neben der Quellenlage ein zweites gravierendes Problem und sind von der historischen Stadt- und Urbanisierungsforschung kaum vollständig zu entwirren. Vielmehr gilt es, das breite Spektrum von gegensätzlichen und parallel laufenden Entwicklungstendenzen anzuerkennen; die Unterschiede zwischen einzelnen Stadtvierteln können einschneidender sein als der überkommene Stadt-Land-Gegensatz. Einen "homo suburbanicus" mit vorhersagbaren standardisierten Befindlichkeiten und Wunschvorstellungen gibt es jedenfalls nicht, wie Michael Ruck einmal treffend festgestellt hat.

Eine wichtige Aufgabe der erfahrungsanalytischen Suburbanisierungsforschung besteht somit darin, ein belastbares und zugleich flexibles Modell zur Rubrizierung des vielschichtigen Beziehungsgefüges von Raumerfahrungen und Handlungsoptionen zu entwerfen, und zwar orientiert an den genannten sozialen Gruppen und möglichst unter Berücksichtigung der verschiedenen Siedlungstypen. Hierbei fällt dem Konzept der mental maps, das in den Kulturwissenschaften zur Beschreibung von räumlichen Orientierungen dient, spezielle Bedeutung zu. Denn gerade in dispersen Stadtregionen, etwa in Hamburg und seinem Umland, präsentiert sich der (sub)urbane Raum nicht als homogenes Wahrnehmungs- und Sinnkontinuum. Vielmehr wird er üblicherweise in einer alltäglich-episodischen Form an verstreut liegenden Fix- und Orientierungspunkten erlebt.

Mit Hilfe dieses theoretischen Gerüsts lassen sich die unterschiedlichsten Phänomene erfassen. Auch in dieser Hinsicht verfolgt das kurz vorgestellte Projekt übrigens durchaus eine paradigmatische Absicht, wiewohl keine repräsentativen Ergebnisse für die gesamte deutsche Suburbanisierungsgeschichte zu erwarten sind. Es sollen jedoch inhaltliche und methodische Anschlussmöglichkeiten für vergleichende Komplementärstudien erarbeitet werden, zum Beispiel mit Blick auf die DDR oder polyzentrische städtische Agglomerationen wie das Ruhrgebiet.

Auf diese Weise erfährt die Suburbanisierungsforschung eine instruktive Bereicherung. Künftige Arbeiten und Projekte sollten ebenfalls darauf zielen, die Ergebnisse der lange dominierenden quantitativen und siedlungsgeografischen Forschungen auf der Grundlage eines dynamischen Raumbegriffs mit erfahrungsanalytischen Fragestellungen zu verknüpfen. Ein solches Vorgehen eröffnet neue Perspektiven zur tieferen Durchdringung einer bislang kaum näher betrachteten Dimension der Suburbanisierung.

Dr. Meik Woyke ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Er arbeitet u.a. zur mecklenburgischen Arbeiterbewegung, zum Generationsbegriff und zur Regionalgeschichte Hamburgs, speziell zur Suburbanisierung im nördlichen Umland der Stadt. E-Mail: woyke@zeitgeschichte-hamburg.de

Literaturempfehlungen:
Aring, Jürgen, Suburbia – Postsuburbia – Zwischenstadt. Die jüngere Wohnsiedlungsentwicklung im Umland der größeren Städte Westdeutschlands und Forderungen für die regionale Planung und Steuerung (Arbeitsmaterial der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 262), Hannover 1999.
Beiträge zum Problem der Suburbanisierung (Veröffentlichungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Forschungs- und Sitzungsberichte 102), Hannover 1975.
Beiträge zum Problem der Suburbanisierung. 2. Teil: Ziele und Instrumente der Planung im suburbanen Raum (Veröffentlichungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Forschungs- und Sitzungsberichte 125), Hannover 1978.
Bose, Michael (Hg.), Die unaufhaltsame Auflösung der Stadt in die Region? Kritische Betrachtungen neuer Leitbilder, Konzepte, Kooperationsstrategien und Verwaltungsstrukturen für Stadtregionen (Hamburger Berichte zur Stadtplanung 9), Dortmund 1997.
Brake, Klaus; Dangschat, Jens S.; Herfert, Günter (Hgg.), Suburbanisierung in Deutschland. Aktuelle Tendenzen, Opladen 2001.
Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 3, Themenschwerpunkt "Mental Maps".
Harlander, Tilman (Hg.), Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland, Stuttgart 2001.
Heppner, Christian, Garbsen – Neue Mitte am Rand? Die Entstehung einer Stadt im suburbanen Raum 1945-1975, Hannover 2005.
Informationen zur modernen Stadtgeschichte (1997), 2, Themenschwerpunkt "Stadt und Umland".
Informationen zur modernen Stadtgeschichte (2002), 2, Themenschwerpunkt "Suburbanisierung".
Ipsen, Detlev (Hg.), Stadt und Region – StadtRegion. Dokumentation einer Tagung am 3. und 4. November 1994 in Kassel (Demokratie, Ökologie 5), Frankfurt am Main 1995.
Krämer-Badoni, Thomas (Hg.), Das Verschwinden der Städte. Dokumentation des 16. Bremer Wissenschaftsforums der Universität Bremen, 14. bis 16. November 1996 (Forschungsberichte 8), Bremen 1997.
Matthiesen, Ulf (Hg.), An den Rändern der deutschen Hauptstadt. Suburbanisierungsprozesse, Milieubildungen und biographische Muster in der Metropolregion Berlin-Brandenburg, Opladen 2002.
Mitscherlich, Alexander, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt am Main 1965.
Oswald, Franz; Schüller, Nicola (Hgg.), Neue Urbanität – Das Verschmelzen von Stadt und Landschaft, Zürich 2003.
Priebs, Axel; Saldern, Adelheid von; Scholl, Rose (Hgg.), Junge Städte in ihrer Region (Schriftenreihe zur Stadtgeschichte 10), Garbsen 2001.
Prigge, Walter (Hg.), Peripherie ist überall (Edition Bauhaus 1), Frankfurt am Main 1998.
Reif, Heinz, Rezension zu: Harlander, Tilman (Hg.), Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland, Stuttgart 2001, in: H-Soz-u-Kult, 04.02.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/GA-2002-006> (11.07.2006).
Reulecke, Jürgen, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt am Main 1985.
Schultz, Hans-Dietrich, Räume sind nicht, Räume werden gemacht. Zur Genese "Mitteleuropas" in der deutschen Geographie, in: Europa Regional 5 (1997), S. 2-14.
Siebel, Walter (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt am Main 2004.
Sieverts, Thomas, Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land (Bauwelt-Fundamente 118), 2. Aufl., Braunschweig 1998.
Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.), Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und Geographische Aspekte (Städteforschung, Reihe A, 16), Köln 1983.
Westfälischer Kunstverein Münster (Hg.), Die verstädterte Landschaft. Ein Symposium, München 1995.
Zimmermann, Clemens (Hg.), Dorf und Stadt. Ihre Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2001.

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