Anachronismen

Veranstalter
Université de Bourgogne - Franche-Comté und Musée du Temps
Veranstaltungsort
Besançon
Ort
Besançon
Land
France
Vom - Bis
19.03.2020 - 20.03.2020
Deadline
15.10.2019
Website
Von
Deffarges, Anne (C.R.I.T., EA 3224)

In der heutigen Zeit, in der die historische Wahrheit in Verschwörungstheorien verwandelt, von wiedererstarkenden Nationalismen zensiert und in wachsendem Maße von politischen und medialen Mächten offen angegriffen wird, scheint es uns akut darüber nachzudenken, wie wir Geschichte denken und wie wir sie neu interpretieren.

Wenn das 19. Jahrhundert oft als dasjenige beschrieben wird, in dem sich die Geschichte als Wissen konstituiert hat, so ist die positivistische Herangehensweise bei weitem nicht der einzige von den zeitgenössischen HistorikerInnen, DenkerInnen, KünstlerInnen und SchriftstellerInnen gewählte Zugang. Am Rand einer wissenschaftlichen und rationalen Vorstellung der Geschichte zeichnet sich in der Tat eine viel weniger disziplinierte Repräsentation der Geschichte ab, geprägt von Distorsion, Verzweigung und Inkohärenz. Unter all diesen Abweichungen scheint die Figur des Anachronismus besonders vielversprechend. Auf den ersten Blick anekdotisch und amüsant, wenn nicht gar lächerlich, eröffnen die Diskrepanzen des Anachronismus ein weites und fruchtbares Feld an Bedeutungen für die WissenschaftlerInnen zahlreicher Disziplinen.

Der Anachronismus ist oft das erste Anzeichen einer historischen Fälschung. Er signalisiert eine Neubearbeitung der Geschichte, manchmal bewusst, manchmal unbewusst, aber in jedem Fall ein Zeugnis zeitgenössischer Projektionen auf die Vergangenheit, von denen sich kein Historiker und keine Historikerin – selbst die bewusstesten – vollkommen befreien zu können scheint.
Er wirft auf ungehörige Weise die Frage der Geschichtsinterpretation und der zahlreichen Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Er spielt bei Übersetzungen eine gravierende Rolle, wie man es beispielsweise in den mittelalterlichen Übersetzungen antiker Werke feststellen kann, die mit christlichen Bezügen versehen sind – oder, um ein zeitgenössisches Beispiel zu wählen, in der Einführung mittelalterlicher Begriffe in die französische Fassung von Game of Thrones, während das Original von George R. R. Martin in sehr moderner Sprache geschrieben ist. Da der Anachronismus jedoch hilft, uns mit der Vergangenheit zu identifizieren und sie auf diese Weise besser zu verstehen, ist er nicht nur eine Abweichung, sondern eröffnet eher einen besonderen Zugang zur Geschichte. In diesem Sinn lädt er auch die HistorikerInnen zu einer epistemologischen Reflexion ein, weshalb einige von ihnen den Anachronismus loben. In dieser Form der Neubearbeitung der Geschichte können die Dialoge der Literatur und der bildenden Kunst mit der Geschichte analysiert werden, um dabei insbesondere der Frage nachzugehen, wie sie Geschichte schreiben, welche Geschichte sie schreiben und in welchem Verhältnis sie zu den eher spezifischen, wissenschaftlichen Arbeiten der HistorikerInnen stehen (Jablonka).
In der Tat hat die Etablierung der Geschichte als wissenschaftliche Disziplin als großen Rivalen den zeitgleichen Aufschwung des Romans, der sich als essentielles Werkzeug durchgesetzt hat, um die schnellen Verwandlungen der Gesellschaft zu beschreiben (man denke hier an die Comédie humaine von Balzac, diese große Freske der sich gerade herausbildenden Gesellschaft). Es ist zeitgleich die Geburtsstunde der Fotografie, von der François Brunet aufgezeigt hat, dass sie eine wahrhafte Geschichte darstellt, aber auch eine Gegen-Geschichte. Ohne der Theorie der Widerspiegelung zu folgen, kann man die Literatur und die bildenden Künste als wertvolle Quelle für die Geschichtswissenschaft betrachten, auch wenn sie vielleicht keine historischen Quellen im engeren Sinne darstellen.
Der Anachronismus ermöglicht es, die gängige Vorstellung von Fiktion und historischer Wirklichkeit in Frage zu stellen, indem man die Vielfalt ihrer Begegnungen und Kreuzungen erforscht. Beispielhaft ist hierfür die Art und Weise, in der Patrick Boucheron die „Konkordanz der Zeiten“ und der historischen Narration erforscht.
Auch das kreative Potenzial des Anachronismus (Lowenthal), das die Aneignung der Vergangenheit in der bildenden Kunst und der Literatur freisetzt, ist von Interesse. Es wird, wie Pierre Bayard vorschlägt, darum gehen, sich von der Vorstellung einer linearen Konzeption der Geschichte freizumachen und die – diskordante oder im Gegenteil sinfonische – Koexistenz mehrerer Zeitstrukturen in ein und demselben Werk zuzulassen (Didi-Huberman, Karlhom und Moxey).
Ob der Anachronismus absichtlich oder unabsichtlich erfolgt, ob er die Frucht einer bewussten Manipulation oder unbewusster Verblendung ist, er ist vor allem eine Sichtweise auf die Welt, auf die Welt der Gegenwart wie die der Vergangenheit, die es als solche zu untersuchen gilt. Das Kolloquium will auch die politischen Fragen beleuchten, die der Anachronismus aufwirft. Der Anachronismus ist oft eine Vergangenheit, die in der Gegenwart spricht – denken wir an Philippe Le Bel aus den Rois maudits (Maurice Druon), der in den Zügen des General de Gaulles dargestellt wird. Aber er kann auch als eine Form des Widerstands gelesen werden, als Fortdauern einer Zeit, die sich weigert zu vergehen und die uns ebenso formt wie wir sie umformen. Mit der Instrumentalisierung historischer Fakten kann der Anachronismus versuchen, zur historischen Konstruktion beizutragen oder einen herrschenden Diskurs zu festigen. Zolas Romane sind hierfür ein frappierendes Beispiel. Er war einer der ersten Romanschreiber, der die moderne Welt in sein Werk aufnahm. Gleichzeitig jedoch bringt er die neuen Fragen mit überholten Problemstellungen in Verbindung: die Figuren haben Persönlichkeiten und Gefühle, die für den Beginn der Dritten Republik typisch sind, bewegen sich jedoch im Zweiten Kaiserreich. Zola stellt mit Hilfe seiner Anachronismen die Frage, die erst in der Zeit seines Schreibens entscheidend war: die Wahl zwischen Republik und Kaiserreich. Er trägt auf diese Weise zu den Bemühungen der republikanischen Anführer bei, die sozialen Kräfte in solche politischen Bahnen zu kanalisieren und eine Öffentlichkeit zu schaffen, die so überlegt. Diese Herangehensweise, die beim Erscheinen von Zolas Romanen zu heftigen Polemiken führte, hat sich letztlich durchgesetzt und zwar so vollkommen, dass ein Leser der heutigen Zeit glauben kann, dass die von Zola dargestellten Problemstellungen zeitgenössischer Natur sind. Zola ist so nicht nur historische Quelle. Seine Romane haben in Wahrheit zur Geschichtsschreibung und -darstellung beigetragen.
Umgekehrt kann der Anachronismus auch als Mittel genutzt werden, die Zensur zu umgehen und so aufschlussreiche Analogien und eine indirekte Kritik hervorzubringen, deren Sinngehalt eben in dem Abstand zwischen der historischen Wahrheit und ihrer Neugestaltung zu finden ist. So übertragen etwa der Dramatiker Gerhart Hauptmann und die Künstlerin Käthe Kollwitz die zeitgenössische soziale Agitation des Kaiserreichs, die allen präsent ist, auf den Aufstand der Schlesischen Weber 1844.
Theater und Kino nutzen oft anachronistische Effekte bei ihrer Inszenierung. Der Film Transit von Christian Petzold (2018) bleibt in Erzählung, Personen und Dialogen seiner Vorlage (dem Roman von Anna Seghers, 1944) absolut treu. Doch er transponiert ihn radikal in die heutige Zeit und Lebensweise. Wie in dem Roman spielt die Handlung in Marseille, die Polizisten sind Franzosen, die Flüchtlinge Deutsche, der drohende Angreifer ebenfalls deutsch. Die Handlung spielt aber nicht im Jahr 1940, sondern heute. Ohne eine einzige Anspielung zu machen, verschiebt diese Diskrepanz das Thema des Films hin zur Lage der MigrantInnen, die heute versuchen, das Mittelmeer zu überqueren. Das Interesse des Films liegt daher ebenso in seiner Rezeption wie in seiner Produktion, so offensichtlich ist das Ziel des Regisseurs, die ZuschauerInnen zum Nachdenken anzuregen. Die Aktualität dieses Beispiels stellt auch die Frage seiner zukünftigen Relevanz: Wenn die Bedingungen sich änderten, würde der Film auf völlig andere Weise verstanden werden. Paradoxerweise ist der Anachronismus einerseits unzeitgemäß und andererseits im Grunde ein Produkt seiner Zeit.

Überzeugt, dass das Thema des Anachronismus über die Disziplinen hinweg fruchtbare Diskussionen eröffnen kann, hoffen wir, dass dieses Call for Papers für KollegInnen in sehr unterschiedlichen Forschungsgebieten von Interesse ist.

Programm

Wir laden die ForscherInnen der verschiedensten Disziplinen, Spezialgebiete und Länder ein, ihr Abstract (max. 1 Seite) bis zum 15. Oktober 2019 auf Deutsch, Englisch oder Französisch einzureichen.

Kontakt

Anne Deffarges

Université de Franche-Comté
32 rue Mégevand - (F) 25000 Besançon

anne.deffarges@univ-fcomte.fr