Entscheidung zur Heiligkeit? Autonomie und Providenz im legendarischen Erzählen vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Entscheidung zur Heiligkeit? Autonomie und Providenz im legendarischen Erzählen vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Veranstalter
WIN-Forschergruppe „Heiligenleben: Erzählte Heiligkeit zwischen Individualentscheidung und kollektiver Anerkennung“ (Dr. Daniela Blum, Ass.-Prof. Dr. Nicolas Detering, Dr. Marie Gunreben, Dr. Beatrice von Lüpke)
Veranstaltungsort
Heidelberger Akademie der Wissenschaften
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2020 - 26.09.2020
Deadline
30.11.2019
Von
WIN-Forschergruppe „Heiligenleben: Erzählte Heiligkeit zwischen Individualentscheidung und kollektiver Anerkennung“

Heiligkeit wird bisweilen als eine dem menschlichen Zugriff enthobene, transzendent bewirkte Qualität verstanden, die sich metahistorisch und transkulturell definieren lässt. Die Behauptung von Heiligkeit bedarf aber der narrativen Plausibilisierung, wenn nicht sogar der gemeinschaftlichen Anerkennung. Heiligkeit steht damit am Ende eines diskursiven Prozesses, der den historisch spezifischen Usancen legendarischen Erzählens verhaftet ist. Damit verbinden sich vor allem zwei Spannungsfelder:

1. Auf der Ebene legendarischer Einzelerzählungen stehen die Willensfreiheit der Heiligen und ihre providentielle Steuerung in einem Spannungsverhältnis: Einerseits setzt Heiligkeit als Auszeichnung eines moralisch vorbildlichen Lebenswegs die Entscheidungsfreiheit der dargestellten Person für das Gute oder das Böse voraus. Andererseits trägt die erzählerische Darstellung aber auch der Tatsache Rechnung, dass das Individuum in seinen Entscheidungen abhängig von einer transzendenten, vorhersehenden Macht ist, über deren Eingreifen prinzipiell nicht verfügt werden kann. Immer wieder interferieren daher Erzähl- und Handlungslogiken: Die finale Erzählweise der Legende, die sich in Omen, in Präfigurationen oder Prolepsen niederschlägt, signalisiert den Leserinnen und Lesern die providentielle Auserwähltheit der Heiligen. Ihre wiederholte Wundertätigkeit scheint stets nur zu bestätigen, was vorherbestimmt war. Zugleich erfordert die Darstellung es aber, an zentralen Stationen des Lebensweges die Entscheidungsmacht des oder der Heiligen zu unterstreichen, Konversion, Weltabkehr oder Martyrium als bewusste Zeugnisse der Glaubensgewissheit zu präsentieren. In der europäischen Legendendichtung seit dem 18. Jahrhundert wird dieses Verhältnis noch problematischer, gehört doch die Plausibilisierung von Figurenhandeln durch introspektive Motivierung zu den zentralen Techniken modernen Erzählens.

2. Im Diskurs über Heiligkeit steht die behauptete Erwähltheit zudem in Spannung zur Notwendigkeit kollektiver Anerkennung. Obwohl der oder die einzelne Heilige und seine oder ihre Taten unnachahmlich sind, dienen Narrationen als literarisch vorgeformte Entwürfe der Orientierung in gattungspoetischer wie ethischer Hinsicht. Sie erheben ein bestimmtes Handeln zur Norm und ermöglichen dadurch allererst die Entstehung und Ausbildung von Verehrerkollektiven. Im Mittelalter gilt es, die Zusammenhänge zwischen narrativen Heiligkeitsentwürfen und jenen Institutionen, die Prozesse der Heiligsprechung formalisieren, aufzudecken. Legendarische Erzählungen entstehen in Abhängigkeit von Kollektiven, seien es lokale Rezeptionsgemeinschaften oder translokale Instanzen wie Ordensgemeinschaften oder Vertreter der abendländischen Kirche. Letztere treffen Entscheidungen über Heiligkeit, und zwar seit dem Spätmittelalter mit zunehmender formalrechtlicher Rigidität und seit dem 17. Jahrhundert unter Verwendung ›moderner‹ Prüfmittel der Quellenkritik.

Im Rahmen einer interdisziplinären Tagung soll die Trias von Individualität, Kollektivität und Transzendenz aus einer breiten historischen Perspektive in den Blick genommen werden: Dabei werden zum einen die legendarischen Texte des Mittelalters im Zentrum stehen: Auf welche Weise wird in ihnen die skizzierte Spannung zwischen Handlungsautonomie, transzendenter Steuerungsmacht und kollektiver Anerkennung narrativiert? Welche politischen und gesellschaftlichen Funktionen erfüllen diese Erzählungen? In welchen institutionellen Zusammenhängen stehen sie? Zum anderen sollen literarische Texte des 18. bis 21. Jahrhunderts diskutiert werden, die zwar auf Heiligenfiguren und legendarische Erzählmuster rekurrieren, sich aber von institutionellen Funktionalisierungen weitgehend gelöst haben: Wie lässt sich die Attraktivität von Heiligkeit im Kontext moderner Säkularität erklären? Welches Provokationspotenzial bergen religiöse Absolutheitsansprüche in einer durch neue Glaubenskonflikte geprägten Gegenwart? Tauchen in den Rissen moderner Individualität und Autonomie providentielle Deutungsmuster wieder auf?
Willkommen sind Beiträge, die religiöse und literarische Erzählungen von Heiligkeit in verschiedenen Medien (Text, Bild, Film etc.) thematisieren sowie in ihren jeweiligen historischen, religiösen, kulturellen und ästhetischen Kontexten verorten.

Die Vortragsdauer beträgt 30 Minuten. Die Reisespesen sowie die Verpflegungs- und Übernachtungskosten der Referentinnen und Referenten können erstattet werden.

Vorschläge für Paper erbitten wir bis 30. November 2019 an daniela.blum@uni-tuebingen.de in Form einer PDF-Datei. Die Vorschläge sollten folgende Daten enthalten:
- Abstract (ca. 300–500 Wörter exklusive Literaturangaben)
- Kurzer CV

Mit einer Rückmeldung auf Ihren Paper-Vorschlag ist bis Ende Dezember zu rechnen.

Programm

Kontakt

Daniela Blum

Liebermeisterstr. 12, 72076 Tübingen

daniela.blum@uni-tuebingen.de

https://www.hadw-bw.de/group/23/heiligenleben