Soziales Medium Brief. Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert - Neue Perspektiven auf die Briefkultur

Soziales Medium Brief. Sharen, Liken, Retweeten im 18. und 19. Jahrhundert - Neue Perspektiven auf die Briefkultur

Veranstalter
Digitale Edition der Umfeldbriefe, Jean Paul-Arbeitsstelle, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Veranstaltungsort
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2020 - 26.09.2020
Deadline
31.10.2019
Website
Von
Selma Jahnke, Jean Paul-Arbeitsstelle, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Die Briefkultur des 18. und 19. Jahrhunderts scheint auf den ersten Blick Welten entfernt von der digitalen Kommunikation in den Social Media der Gegenwart. Historische Korrespondenzen, die über Einzelbriefwechsel hinausreichen und das korrespondierende Umfeld mit einbeziehen, weisen, was ihre Funktionen betrifft, jedoch eklatante Parallelen mit den digitalen Kommunikationsmöglichkeiten und den Social Networks der Gegenwart auf.

In der Briefkultur des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts begegnen uns interaktive Phänomene, die integraler Bestandteil der Neuen Medien sind, weil sie den gleichen Kommunikationsbedürfnissen entspringen; allerdings bedingen die unterschiedlichen Medialitäten deren Gestaltung. So sind das Versenden von einem Brief an mehrere Personen, das Ersuchen um Bekanntschaft und Freundschaft, die Darlegung von eigenen Interessen und Standpunkten zum Zwecke der Selbstdarstellung und Beliebtheitssteigerung, das Mitschicken von Briefen anderer, das Verwenden von Abbildungen zur Visualisierung des Geschriebenen, die Kommentierung und das „Behalten“ der Äußerungen der engsten oder originellsten Briefpartner strukturelle Konstanten sowohl eines postalischen als auch eines digitalen Korrespondenznetzwerkes.

Im 18. und bis ins 19. Jahrhundert hinein können Briefe – wie Nachrichten in den sozialen Medien heute – privat, halböffentlich oder öffentlich sein, wobei die Grenzen dazwischen oft fließend sind (während vom Beginn des 19. bis lange ins 20. Jahrhundert Korrespondenzen aufgrund der Überzeugung, Briefe zu schreiben bedeute, das wahre Selbst preiszugeben, Privatsache sind). So stehen Korrespondenzen und soziale Medien damals wie heute im Dienst von Gruppen- und Gemeinschaftsbildung.
Nach der Kulturrevolution durch das WWW, die die Kommunikationsrevolution der sozialen Medien nach sich gezogen hat, gilt es, die Geschichte mit neuen Fragen auszuleuchten – auch gegen den sich wieder ausbreitenden Kulturpessimismus. Das bedeutet, Kommunikationsformen der Vergangenheit und der Gegenwart vergleichend in den Blick zu nehmen und vom Jetzt ausgehend Gemeinsamkeiten und natürlich auch Unterschiede zu untersuchen.

Da die jeweilige mediale Infrastruktur die Kommunikation prägt und den Kommunikationsprozess von anderen Perspektiven aus analysiert, verspricht ein frischer, von den Social Media ausgehender Blick auf die spezifischen Eigenheiten, die Komplexität und die Freiräume der Briefkultur um 1800 neue Antworten auf bekannte Fragen – z. B. nach den auf dem Feld zwischen Privatheit und Öffentlichkeit stattfindenden Diskursen und den sich dabei bildenden Gesellschaftsformen in ihren spezifischen Dynamiken.

Die Geschichte der Briefedition ist von einem philologischen Perspektivenwechsel gekennzeichnet, in dem sich der editorische Blick von der Person des Dichters im Zentrum, auf dessen Korrespondenzpartner, und schließlich auf das Umfeld des Dichters erweitert hat. Insbesondere Umfeldbriefe, diese schier grenzenlose ‘Kommunikation im Orbit’, lassen sich nun befreit von den methodischen und praktischen Grenzen des Buchdruckes in digitalen Editionen editorisch fassen und vernetzen. Die digitalen Methoden ermöglichen einerseits eine differenzierte editorische Erschließung komplexer Aspekte der postalischen Kommunikation wie die Entstehung von Korrespondenzkreisen und die Rekonstruktion von Sendungsverläufen. Andererseits schafft die digitale Modellierung die Grundlage, um Briefkorpora mit Verfahren der Social Media wie der Kommunikations- und Netzwerkanalyse weiter zu durchleuchten.

Um diese neuen Perspektiven gemeinsam zu erkunden plant die Jean Paul-Arbeitsstelle (Digitale Edition der Umfeldbriefe) der BBAW eine Konferenz (23.-26.09.2020 in Berlin), zu deren Gestaltung Beiträge aus der Perspektive der Editions- und Literaturwissenschaften, Technikgeschichte, Kommunikations- und Medienwissenschaften und der Digital Humanities willkommen sind.
Anregungen zur Analyse an konkreten Korpora und Editionen oder theoretischen Überlegungen könnten beispielsweise sein:

- In CC und BCC gesetzt: Mehrfachadressierungen und erweiterte Leserschaft
- Copy & paste: Referenzen und Zitationen im Briefnetzwerk
- Sharing und Retweets: Vom brieflichen zum öffentlichen Diskurs
- Emojis: Nicht-sprachliche Kommunikationsmittel, Codierung von Emotionen
- Liken und Disliken: Stimmungsbilder in Kommentaren
- Attachments: Beilagen
- Kurznachrichten: Billets
- News Feeds: “Gossip”
- Discussion Threads: Multipolare Kommunikationsstrukturen
- Netiquette: Briefsteller und Schreibkonventionen
- Freundschaftsanfragen und “Personen, die Du kennen könntest”: Dynamiken des Kennenlernens im Kommunikationsnetzwerk (z. B. Empfehlungsschreiben)
- Selfies: Authentizität und Inszenierung
- ‘Langzeitarchivierung’ von Kommunikation: Briefsammlungen und Kopierbücher
- Fandom: Organisationsformen von Bewunderergruppen

Abstracts von bis zu 3000 Zeichen bitte per E-Mail bis zum 31.10.2019 an:
Dr. Michael Rölcke (roelcke@bbaw.de)

Organisation:

Prof. Dr. Markus Bernauer
Selma Jahnke
Frederike Neuber
Dr. Michael Rölcke

Programm

Kontakt

Michael Roelcke

Jean Paul-Arbeitsstelle, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

roelcke@bbaw.de