Geschichte und Soziologie der Zukunft im 20. Jahrhundert: Die USA als ‘Great Nation of Futurity‘?

Geschichte und Soziologie der Zukunft im 20. Jahrhundert: Die USA als ‘Great Nation of Futurity‘?

Veranstalter
Julia Engelschalt / Stefan Wilbers, Universität Bielefeld/SFB 1288: "Praktiken des Vergleichens"
Veranstaltungsort
Universität Bielefeld, Gebäude X, Raum X-B2-103
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.05.2020 - 15.05.2020
Deadline
07.02.2020
Website
Von
Engelschalt, Julia

Im Jahre 1839 veröffentlichte der Publizist John L. O’Sullivan im Democratic Review einen Artikel mit dem Titel „The Great Nation of Futurity“. Sullivan sagte den noch jungen Vereinigten Staaten eine leuchtende Zukunft voraus und forderte ihre weitergehende Emanzipation von der Geschichte sowie den politischen und kulturellen Errungenschaften Europas. Allein dadurch könnten die USA die ihnen zugedachte Rolle als „Nation des Fortschritts, der individuellen Freiheit und der universellen Rechte“ einnehmen. Die von Sullivan entworfene Zukunft war dabei aus seiner Sicht ebenso erstrebenswert wie unausweichlich, war Utopie und Prognose zugleich. Die so genannte Progressive Era knüpfte semantisch an diesen Begriffshaushalt an und elaborierte ihn weiter. Begriffe wie Gleichheit, Freiheit, Wohlstand und (wissenschaftlich-technologischer) Fortschritt bildeten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wesentliche Elemente insbesondere US-amerikanischer Zukunftsimaginarien, die wiederum von dort aus in weite Teile der Welt ausstrahlten. Diese Zeit des Optimismus und des Vertrauens in einen „progress towards perfection, or at least towards improvement, enrichment, and rightness“ endete in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Berardi 2011: 18, vgl. Mende 2017), als Utopien ihre Überzeugungskraft verloren und durch Dystopien abgelöst wurden. Unterbrochen durch die kurze Hoffnung auf ein Ende der Geschichte (Fukuyama 1992) setzt sich dieser Trend bis heute fort und scheint sich – wie gegenwärtige Debatten um Kriege und Migration, Umwelt und Klimawandel oder die wirtschaftlichen Krisen der jüngeren Zeit nahelegen – sogar zu verstärken.

Diese Umbrüche in der gesellschaftlichen Zukunftssemantik korrespondieren mit Konjunkturen des Themas „Zukunft“ und „Zukunftsentwürfe“ in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Nach vor allem konzeptionell-theoretischen Bemühungen ab den 1960er Jahren (z. B. Koselleck 1979, Schütz 1972, Luhmann 1976, Bell & Mau 1971) und dem Aufkommen der global und systemisch perspektivierten Future Studies in den 1970er Jahren (vgl. Seefried 2018) erleben diese Themen besonders in den letzten Jahren wieder eine bemerkenswerte Aufmerksamkeit. In der Soziologie versucht man sich an einer Verbindung älterer Konzepte mit neueren Ansätzen aus STS und ANT: Demnach gewinnen Annahmen über die Zukunft wie self-fulfilling prophecies nicht nur in einer imaginären Dimension ihre Wirkmächtigkeit, sondern auch und vor allem dadurch, dass sie sich materialisieren (Tutton 2017). In der Geschichtswissenschaft wird an einer Auffächerung und Differenzierung methodischer und theoretischer Konzepte gearbeitet, um historische Zukunftskonstruktionen unter den Bedingungen der Perspektivenpluralität angemessen in den Blick nehmen zu können; aus vergangener Zukunft werden vergangene Zukünfte (Graf & Herzog 2016). Nicht zuletzt verweisen zahlreiche Titel von Tagungen, Graduiertenkollegs und Forschungsclustern auf eine Hochkonjunktur des Zukunftsbegriffs.

Im Vordergrund rezenter historischer wie auch soziologischer Diskussionen um vergangene Zukunftsentwürfe stehen insbesondere deren Entstehungskontexte und -bedingungen, ihre intendierten wie tatsächlichen Umsetzungen und ihre diskursive oder institutionelle Wirkmächtigkeit. Den Forschungsdesigns solcher Untersuchungen liegen oftmals nationale Kontexte zugrunde. Dabei fällt jedoch auf, dass US-amerikanische Zukunftsentwürfe zumeist im euroatlantischen Kontext (und nicht beispielsweise in ihren Verflechtungen mit Zukunftsentwürfen aus dem Globalen Süden) und gelegentlich als Vergleichsfolie für auf europäische Nationen bezogene Fallstudien betrachtet werden. Nur vereinzelt treten sie als eigenständiger Untersuchungsgegenstand in Erscheinung. Als Ausnahme ist hier der von Thomas Etzemüller herausgegebene Band Ordnung der Mo-derne (2009) zu nennen, der mit dem Blick auf gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen im euroatlantischen Raum wichtige Anknüpfungspunkte für die Analyse von Zukunftsentwürfen (auch innerhalb der USA) bietet. Zugleich ist im Bereich der Amerikastudien eine genuine Beschäftigung mit Zukunftsentwürfen weitgehend ausgeblieben.

Mit dem Nachwuchs-Workshop „Geschichte und Soziologie der Zukunft im 20. Jahrhundert“ im Rahmen des SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens“ setzen wir uns zum Ziel, dieser doppelten empirischen Leerstelle konstruktiv zu begegnen, und nehmen deshalb gezielt die Besonderheiten US-amerikanischer Zukunftsentwürfe sowie ihre spezifischen transatlantischen bzw. globalen Effekte im 20. Jahrhundert in den Blick. Besonderes Augenmerk gilt dabei unter anderem der Frage nach dem handlungsleitenden Potenzial zeitlich codierter Vergleiche im Zusammenhang mit angestrebten gesellschaftlichen Ziel- und Idealvorstellungen.

Die empirisch oder konzeptionell angelegten Workshop-Beiträge (max. 30 Minuten Vortrag) können sich u.a. an folgenden Leitfragen orientieren:
- Welche soziopolitischen, kulturellen bzw. wissenschaftlich-technologischen Zukunftsentwürfe wurden im Kontext der USA im 20. Jahrhundert unter welchen Bedingungen und in welcher Weise virulent?
- In welchem Verhältnis standen im 20. Jahrhundert US-amerikanische Zukunftsentwürfe mit vorgestellten gesellschaftlichen Zukünften anderer Weltregionen; welche Diffusions- bzw. Verflechtungsprozesse lassen sich identifizieren?
- Welche Akteure bzw. Akteursgruppen entwarfen Zukünfte, und welche Akteure bzw. Akteursgruppen wurden auf welche Weise adressiert?
- Lassen sich Kontinuitäten und/oder Konjunkturen bestimmter Zukunftsvorstellungen in den USA im 20. Jahrhundert identifizieren? Und umgekehrt: Wann und unter welchen Umständen wandelten sich Zukunftsentwürfe?
- Inwiefern lassen sich Wirkungsweisen von Zukunftsentwürfen analysieren? Anders formuliert: Worin liegt und wie zeigt sich die handlungsleitende Dimension von Zukunftsentwürfen? Wo wird kooperiert, wo regt sich Widerstand? In welchen Kontexten lassen sich Gegenentwürfe zu hegemonialen Zukunftsvorstellungen identifizieren und analysieren?
- In welchem Verhältnis stehen Utopie und Dystopie, und wie lässt sich diese Dichotomie produktiv aufbrechen?
- Wie lassen sich historische Zukunftsentwürfe theoretisch-konzeptionell fassen? Welche neueren Entwicklungen der Theoretisierung von (historischen) Zukunftsentwürfen gibt es, und welche Aspekte bleiben dabei weiterhin unberücksichtigt?
- Welche Rolle kommt bei alledem (insbesondere zeitlichen) Vergleichen zu?

Der Workshop richtet sich an Promovierende und Postdoktorand/innen.
Einsendeschluss für Abstracts im Umfang von max. 350 Wörtern ist der 7. Februar 2020. Die Einreichungen sind zu senden an: zukunft2020@uni-bielefeld.de.

Zur Diskussionsvorbereitung bitten wir außerdem um Einsendung eines kurzen Arbeitspapiers (7-10 Seiten) bis zum 15. April 2020. Die Papiere werden ausschließlich unter den Teilnehmenden verteilt.

An- und Abreise sowie die Unterbringung während der Veranstaltung werden durch den SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“ finanziert. Für die Kostenkalkulation bitten wir neben dem Abstract um Zusendung eines formlosen Kostenvoranschlags für An- und Abreise.

Programm

Kontakt

Julia Engelschalt

Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld

j.engelschalt@uni-bielefeld.de