2 Doktoranden-Stip. GK "Untergrundforschung 1600-1800" (Forschungszentrum Gotha)

2 Doktoranden-Stip. GK "Untergrundforschung 1600-1800" (Forschungszentrum Gotha)

Arbeitgeber
Universität Erfurt
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.04.2009 -
Url (PDF/Website)
Von
Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt (FGE)

Untergrundforschung 1600-1800.
Heterodoxie, Dissidenz und Subversion im Spannungsfeld von Religion und Aufklärung.

An dem Graduiertenkolleg am Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt (FGE) sind zum 1. April 2009 zwei Doktoranden-Stipendien (für zunächst zwei Jahre) ausgeschrieben.

Dieses Graduiertenkolleg, als einer von drei Kernen der neuen Graduiertenschule Religion der Universität Erfurt, basiert auf den Kapazitäten des Forschungszentrums Gotha und will „Untergrundforschung“ betreiben.

Zahlreiche Bestände der Forschungsbibliothek Gotha – insbesondere die von Ernst Salomon Cyprian (1673-1745) zusammengetragenen Materialien – reflektieren die Individualität und Vielfalt der nichtorthodoxen religiösen Strömungen in den deutschen Territorien im 17. und 18.Jahrhundert. Ein Teil dieser Strömungen kann der „religiösen Aufklärung“ zugerechnet werden, wenn man darunter Mischformen versteht, die religiöse Vorstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts – etwa aus der „radikalen Reformation“ transformieren und mit Ideen der Frühaufklärung anreichern. So werden etwa alchemistische, okkultistische, mystische, hermetische Wissensformen benutzt, um „aufgeklärte“ Konzepte von Selbsterlösung, Gewissen, religiöser Individualität, aber auch Bibelkritik zu bilden. Wie das im Einzelnen geschieht, ist oftmals noch nicht erforscht.

Doch nicht nur ideengeschichtlich, sondern auch sozialhistorisch ist der „Untergrund“ (hier vornehmlich in den deutschen Territorien betrachtet) von großem Interesse. Als Untergrund kann man jenen gesellschaftlichen Bereich verstehen, in dem verheimlicht wird: religiöse Identitäten, kritische Ansichten, wahre Absichten; im engeren Sinne stellt der Untergrund eine eigene Halbwelt dar, mit eigenen Kommunikationsstrukturen und eigenen Gruppenzugehörigkeiten.

Das Kolleg möchte Projekte zusammenführen, die jeweils spezifische Untersuchungen über heterodoxe Gestalten, Gruppen und Ideen im Spannungsfeld von Religion und Aufklärung vornehmen. In der Zusammenführung wird sich dann erweisen, ob es im Untergrund (oder den Untergründen?) personelle und thematische Überschneidungen gegeben hat. Hatten antiklerikale Separatisten, Freidenker, Kriminelle, Diplomaten, Spione, Charlatane Gemeinsamkeiten? Haben etwa Freidenker von Separatisten-Netzwerken profitiert? Haben verfolgte Dissidenten dieselben Unterschlüpfe wie Kriminelle suchen müssen? Haben Spione ähnliche Geheimkanäle der Kommunikation benutzt wie Diplomaten? Haben Radikale und Charlatane ähnliche Strategien verfolgt und ähnliche kryptische Erkennungszeichen verwendet? Haben Geheimgesellschaften ähnliche soziale und rituelle Muster entwickelt wie religiöse Sekten oder wie Banden? Hat die Notwendigkeit zu heimlicher Publikation und zu Dissimulation ähnliche psychologische und soziale Wirkungen hervorgerufen? Lässt sich eine Art Kartographie des Untergrundes entwickeln?

Das Doktorandenkolleg wird dezidiert interdisziplinär arbeiten.

Willkommen sind Doktoranden aus der Geschichte, Philosophie-, Literatur- und Theologiegeschichte, Religions- und Kirchengeschichte, Sozial- Kultur- und Buchgeschichte mit Projekten, die zu dieser Zielsetzung passen und sich auf eine Arbeit jenseits der Disziplingrenzen einlassen wollen.

Gedacht ist an Arbeit mit Primärquellen, also etwa Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, seltene Drucke, Pamphlete usw.

Die Fragestellung lässt sich in drei Bereichen zusammenfassen:

(1) Zusammenhänge von Radikalpietismus und Radikalaufklärung

Eine große Herausforderung der kommenden Jahrzehnte dürfte in der Zusammenführung von
bisher disziplinär getrennten Bereichen der Aufklärungsforschung liegen. Das gilt
insbesondere für Forschungen zu separatistischen und teilweise im Untergrund operierenden Strömungen. Hier ist von philosophischer Seite die sogenannte „clandestine“ illegale Literatur zu nennen, von kirchen- und theologiegeschichtlicher Seite die vielfältigen Tendenzen, die unter dem Begriff „Radikalpietismus“ nur unzureichend zusammengefasst sind. Die Bestände der Forschungsbibliothek Gotha mit ihren zahlreichen Manuskripten und Rara, nicht zuletzt auch die räumliche Nähe zum Thüringer Staatsarchiv Gotha, ermöglichen es, prosopographisch und thematisch solche Zusammenhänge zu rekonstruieren. Religiöse Aufklärung entsteht in diesen Milieus durch die Entwicklung von institutionenkritischem Bewußtsein, von Abbau religiösen „Aberglaubens“, von Etablierung „innerer“ Kriterien und von neuen religiösen Formen des Zusammenlebens.

(2) Untergrundkommunikation

Wesentliche Voraussetzung für die Aufhellung der kommunikativen Strukturen im religiösen und antireligiösen Untergrund ist der Nachvollzug der Textzirkulationen. Die Provenienz von Manuskripten, der Austausch innerhalb von Korrespondenz und die Signifikanz von paratextuellen Bestandteilen spielt dabei eine entscheidende Rolle. Außerdem ist die Personenzirkulation entlang der Netzwerke geheimgehaltener religiöser Gruppierungen (etwa der sogenannten Engelsbrüder) zu berücksichtigen. Neuere Forschungen wie diejenigen von John Marshall zur Entstehung des Toleranzbegriffs in den Untergrundmilieus von Holland
und England im 17. und frühen 18. Jahrhunderts zeigen, wie sehr praktische
Notwendigkeiten bei der Herausbildung von Toleranzdenken beteiligt waren. Daher werden die Erfahrungshorizonte innerhalb des religiösen Untergrundes (Migration, Kulturaustausch, Exil) und insbesondere transnationale und interreligiöse Verflechtungen zu erforschen sein. Angestrebt ist die Zusammenarbeit insbesondere mit der niederländischen Separatismusforschung. Das methodische Rüstzeug, das hier einzusetzen ist, reicht von der Sozialgeschichte bis zur Historischen Anthropologie, von der Kommunikationsgeschichte bis zur historischen Semiotik.

(3) Wahrnehmungen anderer Religionen

Ein neues Forschungsfeld ergibt sich auch durch den Blick auf die Zusammenhänge von radikalaufklärerischen oder „radikalpietistischen“ Theoretikern mit früher Orientalistik und Judaistik in Deutschland. Orientalistik wurde bis ins 18. Jahrhundert – zumeist in apologetischer Absicht – fast nur von Theologen betrieben. Das zunehmend reicher werdende Wissen über andere Religionen bot aber radikalen Autoren Potentiale des Vergleichs, der Relativierung und der Kritik christlicher Dogmen und Praktiken. Daher spielte das Interesse an Judentum, am Islam oder am Konfuzianismus eine nicht geringe Rolle in der Entwicklung der religiösen Aufklärung. Die reichen Bestände der Forschungsbibliothek Gotha an orientalischen Manuskripten erlauben es, Schneisen in das noch weitgehend unerforschte
Gelände der frühneuzeitlichen Orientalistik zu schlagen und nach den Querbeziehungen zur religiösen Aufklärung zu fragen.

4) Jüdische Aufklärung

Vor allem auch, was das Judentum angeht, läßt sich eine innovative Linie ziehen von der Wahrnehmung jüdischer Traditionen durch die frühe Radikalaufklärung (mit all ihren – etwa antitrinitarischen oder deistischen – Projektionen einer Rationalreligion in das Judentum hinein) bis zur „wirklichen“ jüdischen Aufklärung, der Haskala, in der Epoche der Spätaufklärung. Zu fragen wäre, wie sich Projektion und Wirklichkeit zueinander verhalten und welche Verlaufsformen vom frühen zum späten 18. Jahrhundert auszumachen sind. Hier ist noch wesentliche Forschung notwendig, um etwa Unterstützergruppen der jüdischen Aufklärung und ihre Netzwerke zu identifizieren, um die Wahrnehmung der „christlichen“ Aufklärung von jüdischer Seite her zu bestimmen und vor allem die Frage zu stellen: Wie sind die „elitären“ jüdischen Aufklärer in den jüdischen Gemeinden selbst wahrgenommen worden?

Das Forschungszentrum Gotha ist eine zentrale Einrichtung der Universität Erfurt und wird von Prof. Dr. Martin Mulsow geleitet, der zugleich den Lehrstuhl „Wissenskulturen der Frühen Neuzeit“ an der Universität Erfurt inne hat.

Bewerbungen um ein Stipendium müssen beinhalten

- ein Exposé des Dissertationsvorhabens (von ca. 5 Seiten, in dem die Fragestellung klar präzisiert wird, Forschungsstand, methodische Herangehensweise
und Hypothesen dargestellt werden und ein Arbeits- und Zeitplan enthalten ist)

- einen Lebenslauf

- eine Kopie des ersten Hochschulabschlusses (kann ggf. nachgereicht werden)

- ein Empfehlungsschreiben bzw. Gutachten eines Hochschullehrers zu Person bzw.
Projekt.

Ein Stipendium beträgt für Doktorand/inn/en 1.000 EUR/Monat und kann für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren gewährt werden. Hinzu kommen Sach- und Reisemittel. Jedem Stipendiaten wird ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt. Es besteht Präsenzpflicht sowie die Verpflichtung, an den Veranstaltungen des Doktorandenkollegs teilzunehmen.

Bewerberinnen und Bewerber um ein Doktorandenstipendium, die Mitglieder der
Universität Erfurt sind, müssen mit der Bewerbung nachweisen, dass sie sich gleichzeitig bei einem externen Mittelgeber (Förderungswerk, Stiftung o.ä.) beworben haben (Eingangsbestätigung des Förderers).

Die ausgewählten Bewerber/innen werden ab 1. April ihre Arbeit in Gotha aufnehmen.

Bewerbungen können jederzeit eingereicht werden und sind zu richten an:

Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt
Prof. Dr. Martin Mulsow
Postfach 10 05 61
99855 Gotha

Bewerbungen sind schriftlich und elektronisch (martin.mulsow[at]uni-erfurt.de) einzureichen. Die Datei darf 2 MB nicht überschreiten.

Für organisatorische Rückfragen zum Verfahren wenden Sie sich bitte an Miriam Rieger (miriam.rieger[at]uni-erfurt.de).