Titel
Soviet Nightingales. Care under Communism


Autor(en)
Grant, Susan
Erschienen
Anzahl Seiten
XVII, 314 S.
Preis
$ 130.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anastasiia Zaplatina, Universität Bielefeld

Florence Nightingale, auf deren Name der Titel dieses Buches zurück geht, war eine britische Aktivistin und die Begründerin der modernen Krankenpflege. Während des Krimkrieges pflegte sie gemeinsam mit anderen Frauen britische Soldaten in Istanbul. Auf der russischen Seite der Front etablierte zeitgleich Dasha Sewastopolskaja den Beruf der Krankenschwester und wurde ebenfalls zur Symbolfigur. Obwohl die Professionalisierung der Krankenpflege in Europa und Nordamerika bereits intensiv erforscht wurde1, ist bisher kaum etwas über ihre Geschichte im Russischen Reich und der Sowjetunion bekannt. Die Historikerin Susan Grant möchte mit „Soviet Nightingales“ diese Lücke füllen. Dafür analysiert sie Lebens- und Arbeitsbedingungen von zumeist Krankenschwestern, Pfleger-Patient-Verhältnisse, ihre internationalen Kontakte und Ausbildung. Das Buch präsentiert unterschiedliche Schicksale von Personen, die sich trotz widriger Umstände um Kranke kümmerten. Dafür benutzt Susan Grant eine Vielzahl an Quellen unterschiedlicher Provenienz: Materialien aus staatlichen und regionalen Archiven in Moskau, St. Petersburg, Sotchi, Tambow, Kyiv sowie eine große Anzahl weiterer Quellen.

Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert, mit einem deutlichen Schwerpunkt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die ersten zwei Kapitel sind den russischen Krankenschwestern in der Zeit des Ersten Weltkrieges und des Russischen Bürgerkrieges gewidmet. Betont wird, dass Krankenpflege für viele privilegierte Frauen auch eine Form der spirituellen Praxis war. Gleichzeitig ermöglichte sie Identitätsbildung, da diese Frauen einen Beitrag für ihr Land leisteten, insbesondere während der schwierigen Kriegszeit. Im dritten Kapitel stehen internationale Hilfsorganisationen im Fokus, vor allem die Quäker, die in den 1920er-Jahren die Ausbildung für das Pflegepersonal zu verbessern versuchten. Kapitel vier ist den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik und des ersten Fünfjahresplans gewidmet, als sich ein sowjetisches Gesundheitssystem entwickelte und die Krankenpflege zu einer rechtmäßigen professionellen Berufstätigkeit wurde. Im fünften Kapitel geht es um die Zeit nach der Stalin-Verfassung von 1936, als die Versorgung der Bürger:innen zur staatlichen Priorität ausgerufen wurde und Krankenpfleger:innen dadurch ein wichtiges Symbol dieser staatlichen Fürsorge wurden. Kapitel sechs erläutert, wie sich das medizinische Personal zusammen mit dem ganzen Land für den großen Krieg vorbereitete. Trotz der umfassenden Mobilisierung erwies sich das Gesundheitssystem unzureichend gewappnet für den Krieg. Das siebte Kapitel skizziert knapp, wie Front-Krankenschwestern nach dem Sieg verstummten. Wie auch anderen Frauen an der Frontlinie, erfuhren die Krankenschwestern häufig sexuelle Belästigungen und Traumatisierungen, wofür sie nach dem Krieg zu Opfern von Beschämungen geworden sind. Kapitel acht enthält eine Fallstudie zur sowjetischen Psychiatrie, die einen neuen Blickwinkel auf das System der Zwangspsychiatrie bietet. Das letzte Kapitel fasst die Geschichte der sowjetischen Krankenpflege nochmal zusammen mit dem Fazit, dass das sowjetische Gesundheitssystem nicht leistungsfähig war und zu immer neuen Problemen führte. Das Buch zeigt, wie unterschiedlich der Staat, die Gesellschaft und das Gesundheitspersonal selbst die Aufgaben und den Sinn der Krankenpflege sahen. Genau wie die Protagonisten der Standardwerke über Ärzte im Russischen Reich und der Sowjetunion von Nancy Frieden, John Hutchinson und Igor Polianski2, suchten die Krankenschwestern nach ihrer beruflichen Identität in einem sich wandelnden Umfeld. Im Gegensatz zu den Ärzten, die dank ihrer fachlichen Expertise einen elitären Platz in der Hierarchie etablieren konnten, wurden die Krankenschwestern dabei in eine untergeordnete und technisch-ausführende Rolle verwiesen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sie in der Geschichtsschreibung bis heute keinen Platz gefunden haben.

Besonders nachdrücklich erarbeitet die Autorin die geschlechtsspezifische Problematik. Die Vorstellung, was „eine gute Krankenschwester“ sei, war auch sehr stark von Geschlechterverhältnissen geprägt. Die „gute“ Krankenschwester sollte „mütterlich“, „weiblich“ und „nett“ sein, während die „schlechte Krankenschwester“ „ambitioniert“, „kalt“ und „ohne wahre Hingabe“ war (S. 27). Während in den 1920er-Jahren diskutiert wurde, ob Männer in Krankenpflegeschulen zugelassen werden sollten, kehrte in den 1930er-Jahren das Idealbild der Krankenschwester zur vorrevolutionären Vorstellung der Pflege als Berufung zurück. Sogar Fachzeitschriften bezogen sich in diesem Kontext auf westeuropäische christliche Ideale der weiblichen Selbstaufopferung (S. 96).

Die im Buch genannten Probleme der Krankenschwester reflektieren größere Systemprobleme in der sowjetischen Medizin. Der Staat kündigte freie und für alle zugängliche medizinische Versorgung als einen der Vorzüge des Sozialismus an, wodurch gewisse gesellschaftliche Erwartungen entstanden. In den offiziellen Diskursen macht Grant zwei Narrative aus: Zum einen lobte das Heldennarrativ die Arbeiter:innen für besondere Leistungen, während sie zugleich zu Sündenböcken für die bestehenden Probleme wurden. Die extrem niedrigen Gehälter, die das Personal mitunter an die Grenze der Hungersnot brachten, führten zusammen mit hohen Arbeitsbelastungen häufig zu Burn-Outs und hoher Fluktuation. Grant zeigt in diesem Zusammenhang auch, dass die Patient:innen ebenfalls an dieser Situation litten und ständig Beschwerden gegen das medizinische Personal erhoben, auch als Rache oder Bestrafung (S. 83–88). Die Autorin übersieht jedoch, dass diese Praxis die einzige Form der Qualitätskontrolle über ihre Gesundheit war, die den Patient;innen zur Verfügung stand.

Nach Grant erreichten die genannten Probleme der Krankenschwestern in den 1970er- und 1980er-Jahren ihren Höhepunkt, als es nicht mehr möglich war, die Kluft zwischen der Realität und dem staatlichen Diskurs zu überdecken. Obwohl die Autorin Beispiele dafür anführt, dass sich Krankenschwestern systematisch über zu hohe Belastung, mangelnde Ausrüstung, Nachlässigkeit und schlechte Arbeitsbedingungen beschwerten, bleibt der Eindruck, dass es sich dabei um lokal begrenzte Einzelfälle handelt. Überraschend ist allerdings die Nichtbeachtung einer weit diskutierten Tragödie aus der kalmückischen Hauptstadt Elista, wo 1988 bedingt durch Fehlverhalten von Krankenschwestern mehr als 70 Kinder mit dem HI-Virus infiziert wurden. Kein Fall zeigt die Unterschiede zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei den Krankenschwestern so deutlich wie dieses weithin bekannt gewordene Ereignis.3

Nur bedingt überzeugend ist Grants Fallstudie zur sowjetischen Psychiatrie (S. 157–185). Die Autorin versucht die humane Seite der psychiatrischen Pflege sowie die Patient:innenperspektive zu berücksichtigen und dabei bewusst vermeintliche „nicht politische Krankenhäuser“ statt der politisierten Anstalten der Zwangspsychiatrie zu analysieren (S. 159). Ihre im Buch beschriebenen Praktiken belegen aber gerade, dass das gesamte System der psychiatrischen Kliniken in der Sowjetunion nahezu exemplarische foucauldianische Institutionen war, die primär der Überwachung und Inhaftierung der Patient:innen diente.

Das vorliegende Werk lässt einige Fragen unbeantwortet: Wer waren die Frauen, die diesen Beruf trotz aller widriger Bedingungen doch übernahmen und welche Umstände brachten sie dazu? Auch bleiben die Machtverhältnisse in der stark hierarchisierten medizinischen Welt unklar. So erfährt man zum Beispiel nur wenig über die tatsächlichen Aufgaben und Verantwortungsbereiche der Krankenschwestern und ihren Wandel, oder die Beziehungen zwischen ihnen, den Ärzt:innen und anderem medizinischen Personal, oder zwischen unterschiedlich spezialisierten Krankenschwestern, wie zum Beispiel Geburtshelferinnen und chirurgischen Krankenschwestern. Ein Einblick in diese Aspekte wäre jedoch wichtig, um einschätzen zu können, wie sich die im Buch genannten Probleme und Widersprüche in der alltäglichen Praxis und Wahrnehmung der Krankenschwestern niederschlugen und ihre Handlungsspielräume absteckten. Dass die Autorin die Thematik nicht nur im Hinblick auf die Profession der Krankenschwester selbst betrachtet, sondern diese in einen umfassenden Kontext stellt, macht ihr Buch trotzt dieser kritischen Punkte zu einer wertvollen Studie. Darüber hinaus ist es generell für alle lesenswert, die an einem tieferen Verständnis des sowjetischen Gesundheitssystems und seiner Wechselwirkungen mit anderen gesellschaftlichen Strukturen (z. B. Geschlechterverhältnissen) interessiert sind.

Anmerkungen:
1 Robert Dingwall / Anne Marie Rafferty / Charles Webster (Hrsg.), An Introduction to the Social History of Nursing, London 1988; Christine E. Hallett (Hrsg.), The History of Nursing, London 2015; Susan Reverby, Ordered to Care. The Dilemma of American Nursing, 1850–1945, New York 1987.
2 Nancy Frieden, Physicians in Pre-Revolutionary Russia. Professionals or Servants of the State?, in: Bulletin of the History of Medicine 49 (1975), S. 20–29; dies., Russian Physicians in an Era of Reform and Revolution, 1856–1905, Princeton 2014; John Hutchinson, Society, Corporation or Union? Russian Physicians and the Struggle for Professional Unity (1890–1913), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 30 (1982), S. 37–53; Igor Polianski, Das Schweigen der Ärzte. Eine Kulturgeschichte der sowjetischen Medizin und ihrer Ethik, Stuttgart 2015.
3 Jacob Reuster, AIDS in der Sowjetunion, 28.11.2019, https://www.dekoder.org/de/gnose/aids-hiv-sowjetunion (21.02.2024).

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