Cover
Titel
Lebenslauf und Bürokratie. Kleine Formen der preußischen Personalverwaltung, 1770–1848


Autor(en)
Strunz, Stephan
Reihe
Minima
Erschienen
Berlin 2022: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 302 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Maurer, Seminar für Volkskunde/Kulturgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Mit welchen Farben würde wohl ein Designer ein wissenschaftliches Werk über historische Bürokratien versehen? Grau und etwas bräunlich, wie vergilbte Akten. Genau so hat man es auch bei de Gruyter gemacht, als es darum ging, diesen Band zu gestalten. Es handelt sich um eine Dissertation, die aus dem DFG-Graduiertenkolleg „Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen“ hervorgegangen und 2020 an der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin angenommen worden ist.

Stephan Strunz hat dafür umfangreiche Aktenbestände des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam, des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin, des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen in Duisburg und des Landesarchivs Sachsen-Anhalt in Magdeburg und Wernigerode ausgewertet, und zwar die Bewerbungsakten von Beamten des Baudepartements aus den Jahren 1770–1848. Dabei galt sein spezielles Augenmerk den Lebensläufen, die auch heute noch entscheidende Unterlagen bei Bewerbungsverfahren darstellen, wenn auch mit einem formalen Unterschied: Während heutzutage der tabellarische Lebenslauf ubiquitär ist, war im Untersuchungszeitraum eine narrative Einbettung die Regel. Auf die Frage, seit wann diese Formverwandlung einsetzte, weiß der Autor keine überzeugende Antwort; vermutlich, meint er, seit dem Ersten Weltkrieg.

Freilich bedeutet die Formverwandlung auch einen Wandel der Inhalte, denn außer den auf eine zielstrebig verlaufende Karriere verweisenden Daten enthielten die narrativen Lebensläufe vergangener Zeiten oft auch Hinweise auf Hindernisse der Karriere, unvorhergesehene Schicksale, nicht vom Bewerber zu verantwortende Rückschläge und Zurücksetzungen durch Vorgesetzte.

Überhaupt lässt sich feststellen, dass Lebensläufe im Berichtszeitraum in das allgemeine Supplikenwesen eingeordnet waren: Schon deshalb konnten sie nicht autonom formalisiert werden. Mit Recht setzt sich der Autor deshalb ausführlich mit der Rhetorik von Suppliken auseinander und mit der graphischen Gestaltung von behördlichen Schreiben, bei denen bestimmte Verteilungskonventionen von Buchstaben auf dem Papierbogen zu beachten waren. Grundsätzlich halbbrüchig geschrieben, kam den Anreden und Titulaturen der angesprochenen Autoritätspersonen entscheidende Bedeutung zu, aber auch dem respektvollen Abstand zwischen Anrede und Text. Die von Stephan Strunz untersuchte Aktenüberlieferung zeigt einen gewissen Wandel von barocker Formkunst zu bürgerlicher Sachlichkeit im 19. Jahrhundert, aber dabei doch eine alles überwölbende Kontinuität. Diese erklärt sich größtenteils aus der Institution, der Beamtenhierarchie und der Bewerbungssituation.

Trotzdem ist die Untersuchung natürlich genau dort am interessantesten, wo sich historischer Wandel feststellen lässt. Hier wäre zu differenzieren, wie weit es sich um einen literarischen Wandel handelt, um eine Gattungsveränderung der Textsorte „Lebenslauf“, und wie weit um einen realen sozialen Wandel des Beamtentums in Preußen. Die Untersuchung von Stephan Strunz trennt das nicht konsequent, weil sie die „Textsorte Lebenslauf“ als Indikator für Realgeschehen nimmt. Über weite Strecken ist deshalb seine Untersuchung zu Lebensläufen eine Untersuchung zur Entwicklung des preußischen Beamtentums. Dabei kann er dann die reichhaltig vorliegende historische und soziologische Fachliteratur zu diesem Phänomen heranziehen.

Der Anfangspunkt 1770 ergibt sich aus der Einrichtung der Oberbaukommission. Seit diesem Jahr lässt sich auch ein zunehmend obligatorisches Prüfungswesen feststellen. Eine entscheidende Krise lässt sich in der Zeit der Napoleonischen Besetzung nach 1806/07 erkennen. Und nach den „Freiheitskriegen“ konnten preußische Bewerber damit punkten, dass sie als Freiwillige für ihren Staat in den Krieg gezogen waren – wenn man dies nicht gar von ihnen erwartete.

Strunz widmet sich ausführlich der Frage der Patronage, denn das ganze Supplikenwesen lässt sich natürlich auch als verschriftlichter Ausschnitt aus Patronageprozessen interpretieren. Indem nun im Zuge der Aufklärung, sodann der Stein’schen Reformen, das Ideal einer rein nach Leistung organisierten Verwaltung in den Vordergrund gerückt wurde, mussten die Schreiben an Behörden, die von Lebensläufen begleitet waren, zwangsläufig einen sachbezogeneren Ton annehmen. Wobei aus dem verschriftlichten Niederschlag von Bewerbungen und Eingaben um Pensionen usw. natürlich nicht immer zu erkennen ist, wie weit in Wirklichkeit persönliche Beziehungen, als Patronage, den Ausschlag gaben. Auf diesem Gebiet ist die Untersuchung trotzdem ergiebig, weil Strunz differenzieren kann zwischen verschiedenen Arten der Bezugnahme auf Namen von Patronen und Fachautoritäten.

Die vorliegende Dissertation bietet eine klar gegliederte, ergiebige Untersuchung, bei der allgemeine Erwägungen, Vorgaben der Forschungsliteratur, verallgemeinerbare Aussagen aufgrund der Aktenbefunde und die Erzählung aufschlussreicher Einzelfälle in einen kohärenten, sinnvollen Zusammenhang verwoben wurden. Die Darstellungsweise ist freilich in einem soziologisch angehauchten Jargon geschrieben und aufgrund des einschüchternden Fremdwortgebrauches etwas ungelenk.

Fehler halten sich in Grenzen. Doch fällt auf, dass gleich auf der ersten Seite an markanter Stelle eine Jahreszahl ausgefallen ist: 1788, das Geburtsjahr des Antragstellers Joseph von Eichendorff, das man sich aus dem beigegebenen Faksimile ergänzen kann. Der bekannte Pädagoge und Sprachforscher heißt Joachim Heinrich Campe, nicht Johann. Und zwischen „der Verdienst“ und „das Verdienst“ müsste man differenzieren: Gerade auch bei Beamten fällt das zuweilen auseinander.

Ansonsten liest man das Buch mit Gewinn. In der schwierigen, ja unlösbaren Frage, ob die Textsorte „Lebenslauf“ nun eine literarische Form sei, die man als solche untersuchen könne, oder eher ein pragmatisch zu nehmendes Aktenstück aus bürokratischem Verwaltungshandeln, bezieht der Autor keine eindeutige Stellung. Sein Versuch, am Beispiel des Todes die Lebensläufe von Leichenreden mit den Lebensläufen im Zusammenhang von Bewerbungsschreiben zu kontrastieren, läuft ins Leere: Es versteht sich nämlich von selbst, dass der Tod einer anderen Person, der bei Bewerbungsschreiben zum Auslöser wird, anders eingeordnet und gedeutet wird als der aktuelle Todesfall, aus dessen Anlass ein Prediger am Grab einer Person deren Lebensumstände rekapituliert.

Setzt man die kritische Frage anders an, ob es nicht Vergleichsmöglichkeiten gegeben hätte, die noch weiteres Licht auf die „kleine Form“ des Lebenslaufes geworfen hätten, böte sich der Vergleich mit der Langform von Lebensläufen in Autobiographien an – freilich eine Zugangsweise, die nur in Form von Einzelstudien möglich wäre und die wohl auch den Rahmen dieser Dissertation gesprengt hätte.

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