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Titel
Irish London. A Cultural History 1850–1916


Autor(en)
Kirkland, Richard
Erschienen
London 2023: Bloomsbury
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
£ 85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Christ, Max-Weber-Kolleg, Universität Erfurt

London ist seit Jahrhunderten eine heterogene Stadt, in der eine Vielzahl verschiedener Ethnien, Nationalitäten und religiöser beziehungsweise konfessioneller Gemeinschaften leben und interagieren. Eine der größten unter ihnen sind die Iren, da die Kolonisation Irlands durch England einen besonders regen Austausch an Ideen, Gütern und Personen zwischen den beiden Gebieten hervorbrachte. Die irische Bevölkerungsgruppe war dabei vor allem im London des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert besonders einflussreich. Sie stehen im Mittelpunkt von Richard Kirklands Monographie, die in erster Linie den Einfluss von Iren auf das kulturelle Leben der Hauptstadt behandelt, wobei aber auch politische und wirtschaftliche Themen tangiert werden. Der Untersuchungszeitraum der gut lesbaren und grob chronologisch angeordneten Studie beginnt mit der großen Migrationswelle, die aus dem „Great Famine“ der 1850er-Jahre resultierte. Sie endet im Jahr 1916, als sich auf Grund des „Easter Rising“ in Dublin die Stellung der Iren auch in London drastisch änderte.

In der Einleitung skizziert Kirkland kenntnisreich wesentliche historiographische Strömungen und methodologische Zugriffe zu den in London lebenden Iren, nämlich Fragen zur ‚Assimilation‘ der irischen Bevölkerung und der (Un)Sichtbarkeit dieser Gruppe sowie deren Selbst- und Fremdwahrnehmung. Dem Autor gelingt es, dadurch auch Impulse für die historische Erforschung von Gruppenbildungsprozessen zu geben. Obwohl der irische Bevölkerungsteil Londons nicht immer klar als Gruppe abgegrenzt wurde, kam es dennoch zur Bildung einer eigenen Identität, die sich auch in Abgrenzung zur englischen „host society“ formte.

Solche grundlegenden Überlegungen kommen im ersten Kapitel zur St. Giles Rookery zum Tragen. Dieser notorische Stadtteil im Westen Londons wurde zum Zentrum der irischen Immigranten. Er war berüchtigt für eine hohe Kriminalität und schlechte Lebensbedingungen, was ihm die Bezeichnung eines Slums einbrachte. Hinzu kam noch die Tatsache, dass der Stadtteil als katholisch galt, was ihn vielen englischen Anglikanerinnen und Anglikanern suspekt erschienen ließ. Die St. Giles Rookery und angrenzende Stadtteile galten als arm und irisch, ein Eindruck, der durch die häufige Verwendung der gälischen Sprache in diesen Vierteln verstärkt wurde. Die Bevölkerung in diesen Stadtteilen war allerdings nie homogen, wie Kirklands Ausführungen zu den „Irish cockney“ eindrücklich darlegen. Bei diesen handelte es sich um Personen, die irische Eltern hatten, allerdings in London geboren waren und dadurch von englischen wie irischen Bewohnern kritisch beäugt wurden. Sie grenzten sich bewusst von den in Irland geborenen Migranten ab und verstanden sich als eigene soziale Gruppe.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der „Irish-American Dynamite Campaign“ der 1880er-Jahre, bei der es sich um eine Reihe von Bombenanschlägen handelte, die von irischen Nationalisten verübt wurden. Das Ziel der Attentäter war es, eine unabhängige irische Republik zu errichten. Die Bombenanschläge, die sich besonders auf London konzentrierten, riefen ein großes mediales Echo hervor, standen allerdings im Gegensatz zu den vorherrschenden politischen Ansichten der irischen Mittelschicht, die sich von den Anschlägen distanzierte. Dennoch verstärkten diese anti-irische Ressentiments, die sich besonders in kritischen Zeitungsartikeln widerspiegelten.

Kapitel 3 fokussiert irische Großereignisse, wie das „Irish Festival“ des Jahres 1876 oder die „Irish Exhibition“ (1888), und zeigt, wie Elemente der irischen Kultur gefeiert und adaptiert wurden. Sie bildeten, betont Kirkland, auch einen Kontrast zu den Anfeindungen, die die irische Bevölkerung Londons erlebte und die in den vorhergehenden Kapiteln behandelt wurden. Wie Kirkland darlegt, waren diese Ausstellungen nicht frei von Konflikten. Die Barrack Street Band aus Cork weigerte sich etwa aus politischen Gründen ‚God Save the Queen‘ zu spielen und musste durch eine andere Gruppe ersetzt werden.

Das vierte Kapitel führt diese Befunde für das späte 19. Jahrhundert in eine etwas andere Richtung fort. In diesem Kapitel geht es um das so genannte „Irish cultural revival“, das jegliche Form der Assimilation mit der britischen Gesellschaft ablehnte und sich etwa in der Gründung des „Southwark Irish Literary Club“ ausdrückte. Eng damit verbunden war auch der irische Nationalismus, der in verschiedenen Ausprägungen zu dieser Zeit in London zahlreiche Unterstützer fand und bereits im zweiten Kapitel im Vordergrund stand. Überzeugend legt Kirkland dar, dass sich in dem „Revival“ kulturelle und politische Aspekte miteinander vermischten, auch weil verschiedene Gruppen innerhalb dieses „Revivals“ existierten.

Im fünften Kapitel spielt im Gegensatz dazu ein spezifischer Ort, nämlich die „music halls“, die zentrale Rolle. Die Tanzlokale und Konzertsäle der englischen Hauptstadt erfreuten sich auch bei der irischen Bevölkerung großer Beliebtheit und konnten damit kulturell integrierend wirken. Kirkland beschreibt die Karriere der Irin Bessie Bellwood und zeigt, dass ihre Popularität sich nicht nur auf den irischen Bevölkerungsteil Londons beschränkte, sondern dass sie es vermochte, alle Gesellschaftsschichten anzusprechen. Für Kirkland ist sie eine emblematische Figur für die vielen irischen Künstler Londons, die das kulturelle Leben der Hauptstadt bereicherten. Dies zeigt sich auch an dem allgemein wachsenden Interesse an irischen Sängern und „Irish dancing“.

Das sechste Kapitel greift einige der vorhergehenden Überlegungen Kirklands zum irischen Nationalismus in London auf und führt diese bis 1916 fort. Er zeigt, dass viele der Personen, die sich für die Unabhängigkeit Irlands einsetzten, längere Zeit in London verbrachten oder dort geboren waren. Anti-irische Ressentiments von Seiten der Londoner Bevölkerung befeuerten die Unabhängigkeitsbestrebungen weiter. Auch die von Kirkland in Kapitel 4 dargestellten Vereine und Clubs verschrieben sich nach der Jahrhundertwende zunehmend dem irischen Nationalismus. Allerdings herrschte keine Einigkeit darüber, wie genau dieser erreicht werden konnte. Die meisten Irinnen und Iren Londons waren deshalb schockiert, als sie von dem gewaltsamen Aufstand in Dublin 1916, der unter der Chiffre „Easter Rising“ in die Geschichte eingegangen ist, hörten. Wie prägend diese Erfahrung war, beschreibt Kirkland in seinem Epilog anhand von Leben und Tod der Dichterin Dora Sigerson, die sich nie von dem Schock des „Easter Rising“ erholte und ihr Leben lang damit haderte. Ein Quellenverzeichnis und Register beschließen den Band.

Kirklands Studie ist besonders interessant, wenn er sich mit individuellen Persönlichkeiten und deren Geschichten beschäftigt: Maler, Künstler, Journalisten oder Sänger. Dies beinhaltet sowohl bekanntere Autoren wie W. B. Yeats, aber genauso bisher wenig beachtete Personen, etwa die für das „Irish Cultural Revival“ wichtige Catherine Rae. Für die Analyse von Gedichten und literarischen Texten als Quellen profitiert der Autor in besonderem Maße von seiner Expertise als Professor für irische Literatur am King’s College London, was diese besonders aufschlussreich erscheinen lässt. Kirklands Korpus wird ergänzt durch Zeitungsartikel, Liedtexte und visuelle Quellen, etwa ein Gemälde einer „music hall“ aus dem Jahr 1888. Insgesamt zeichnet Kirkland ein facettenreiches und komplexes Bild der irischen Kultur und Gesellschaft in London zwischen 1850 und 1916. Manche der Kapitel fokussieren Ereignisse, während andere sich auf spezifische Räume (beispielsweise St. Giles oder die „music halls“) konzentrieren, was zu punktuellen inhaltlichen Überschneidungen führt. Besonders deutlich wird dies bei der mehrmaligen Thematisierung des irischen Nationalismus, der in der Monographie in verschiedenen Kapiteln diskutiert wird, sich aber für eine gebündelte Diskussion angeboten hätte. Für das kulturelle Leben in London um 1900 und die Geschichte Londons allgemein hat Kirkland mit diesem Buch aber trotz dieser Kritik ein lesenswertes Standardwerk vorgelegt.

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