Cover
Titel
Tales of Three Cities. Urban Jewish Cultures in London, Berlin, and Paris (1880–1940)


Autor(en)
Metzler, Tobias
Reihe
Jüdische Kultur: Studien Zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur, Vol 28
Erschienen
Wiesbaden 2014: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
412 S.
Preis
€ 84,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lieven Wölk, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Bereits das zu Anfang vorangestellte Gedicht A Tale of Two Cities aus dem Jahre 1859 von Charles Dickens weist auf ein Kernphänomen der drei miteinander kombinierten Fallstudien im Werk Tales of Three Cities von Tobias Metzler hin – Ambivalenz.

Der Autor verfolgt mit seinen Untersuchungen zur jüdischen Kultur und Geschichte in den europäischen Metropolen London, Paris und Berlin vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zweierlei erklärte Ziele: Zum einen sollen Stadtgeschichte und jüdische Geschichte zusammen gelesen werden: „Tales of Three Cities retraces processes of Jewish entanglement as well as disentanglement with the city. […] it seeks to reconstruct the fluctuating and complex interdependencies between the urban and the Jewish.”(S. 14) Zum anderen soll jüdische Geschichte auch als integraler Bestandteil der Moderne neu verortet werden: „Aspiring a new reading of the cultural history of Jewish modernity, Tales of Three Cities calls for a ‘re-placing’ of Jewish history. Rather than perceiving the Jewish experiences of modernity as marginal, as a group-specific project dissolved in the cataclysm of the Holocaust, it is viewed as an integral part of general project of modernity.”(S. 27)

Wie schon von Joachim Schlör in seinem Werk Das Ich der Stadt betont, lohnt es sich die Verbindungen zwischen jüdischer Geschichte und Stadtgeschichte mit einem interdisziplinären Forschungsansatz zu betrachten, hierzu eignen sich vor allem die Kulturgeschichte und die Jüdischen Studien.1 Im Gegensatz zu vielen Schriften in diesem Forschungsbereich, stellvertretend seien hier Schlörs Untersuchung oder Till van Rahdens Werk Juden und andere Breslauer erwähnt2, liegt der Fokus von Tobias Metzler, statt primär auf einer Stadt, auf mehreren Städten. Insofern ist der transnationale Ansatz des Autors von zentraler Bedeutung, denn nur so können die ambivalenten und differenten Entwicklungen des jüdischen Lebens in London, Paris und Berlin in ihrer gesamten Vielfalt dargestellt werden.

Als Grundlage seiner Fallstudien nutzt der Autor unterschiedlichste Quellen und wertet sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen folgend zeitgenössische Texte, darunter Poesie, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, aber auch statistische Erhebungen, autobiographische Notizen und wissenschaftliche Literatur aus. In Zusammenschau mit aktuellen wissenschaftlichen Studien entstehen dabei differenzierte Bilder von jüdischen Lebenswelten in urbanen Kontexten.

In drei Fallstudien, mit gleicher Gewichtung von jeweils etwa 100 Seiten, werden Kernthemen der modernen jüdischen Geschichte in den drei europäischen Großstädten untersucht. Freiwillige sowie erzwungene Migration ist beispielsweise ein solches Kernthema, das zur Illustration der komplexen Begegnungen von osteuropäisch-jüdischen Migranten bzw. Flüchtlingen – später auch von mittel- und westeuropäischen Juden – mit den etablierten jüdischen Gemeinschaften in den Großstädten untersucht wird. Dabei analysiert Metzler nicht nur den inner-jüdischen Diskurs, hier am Beispiel der Migration, sondern greift auch die Reaktionen der nicht-jüdischen Gesellschaft auf, die häufig Anstoß an den „Neuankömmlingen“ nahmen. Debatten über die vermeintliche sichtbare „Unangepasstheit“ oder „Andersartigkeit“ der eingewanderten Glaubensgenossen oder Diskussionen über den Einfluss von Antisemitismus und dem Zwang zur Assimilation bzw. Akkulturation auf jüdische Gemeinschaften im urbanen Raum sind in allen Städten ein wiederkehrendes Thema und verdeutlichen die komplexen Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen sowie der nicht-jüdischen Gesellschaft, die der Autor deutlich werden lässt.

Gerade die Abschnitte zum Londoner Eastend, dem Berliner Scheunenviertel und dem Pariser Pletzl lassen dabei eine transnationale und vergleichende Perspektive auf urbane jüdische Geschichte zu. Am Beispiel von diesen drei städtischen Räumen, welche aufgrund von deutlicher Sichtbarkeit jüdischen Lebens durch Zeitgenossen häufig als „exotische Parallelwelt“ und bisweilen sogar als „neues Ghetto“ stilisiert wurden, lassen sich Ambivalenzen gut darstellen. Die urbanophoben Sichtweisen vieler Zeitgenossen – jüdischer wie nicht-jüdischer –, die sich um die Jahrhundertwende herauskristallisierten, artikulierten sich häufig mit Bezugnahme auf eines der drei Viertel. So sahen unterschiedliche Protagonisten in dem oftmals sehr armen Leben vieler jüdischer Migranten in diesen Gebieten die Versinnbildlichung von einem direkten Zusammenhang zwischen urbaner Existenz und Degeneration. Gleichzeitig stellten die besagten Gebiete spezielle Refugien für die jüdische Glaubensgemeinschaft dar, die durch eine vermehrte Urbanisierung im 19. und 20. Jahrhundert von einer starken Fluktuation und Individualisierung innerhalb der städtischen Gemeindestrukturen begriffen war. So dienten diese Stadtgebiete häufig als erste Anlaufstelle für jüdische „Neuankömmlinge“ in den noch unbekannten Metropolen. Darüber hinaus vermittelten sie aber auch „einheimischen“ Juden ein verstärktes Gemeinschaftsgefühl, beispielsweise durch das öffentliche Verwenden der hebräischen oder jiddischen Sprache.

Neben Gemeinsamkeiten weisen die jeweiligen Abschnitte zu London, Paris und Berlin auch Unterschiede auf. Der Autor nähert sich den einzelnen Städten mit unterschiedlichen Fragenkomplexen und es werden in ihrem Zusammenhang jeweils variierende Zeiträume beleuchtet. Das Werk ist daher nicht dezidiert vergleichend sondern eher chronologisch angelegt.

So widmet sich der erste Teil dem jüdischen Leben in London vom späten 19. bis frühen 20. Jahrhundert. Diese Fallstudie beleuchtet die Diversifizierung von jüdischen Identitäten im kolonialen Zentrum des britischen Weltreiches. Die problematischen Interaktionen zwischen „Neuankömmlingen“ und „Einheimischen“ jüdischen Glaubens führten dabei zur Umstrukturierung von städtischen Räumen: Es ereigneten sich Dispute über den öffentlichen Gebrauch von Jiddisch in Schaufensterauslagen oder Zeitungen, durch akkulturierte Juden auch als „Jargon“ stigmatisiert. Dem entgegentretend kam es aber auch zur erfolgreichen Etablierung eines jiddischen Theaters. Wie stark koloniales Denken diese Debatten mitbeeinflusste, wird von Metzler am Beispiel des Eastend deutlich herausgearbeitet. So gedachten etwa einige Zeitgenossen, den in ihren Augen unzivilisierten „Dschungel“ im Londoner Eastend anglisieren und damit die vermeintlich „wilden“ Einwohner regelrecht zivilisieren zu müssen.

Der zweite Teil des Buches beleuchtet das jüdische Leben in Berlin vom Beginn bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum steht hier der Umgang mit der Infragestellung oder Auflösung der jüdischen Gemeinschaft. Die Tendenzen zur Säkularisierung in der Großstadt werden von unterschiedlichen jüdischen Zeitgenossen einem vermeintlich „gesunden“ gemeinschaftlichen Gemeindeleben auf dem Land entgegengehalten. Entwürfe zum Umgang mit einer Fluktuation in der jüdischen Gemeinde werden genauso vom Autor dargestellt wie die politische Zerrissenheit in den Gemeindestrukturen. Dabei betrachtet Metzler speziell den sich stetig ausweitenden Einfluss der zionistischen Bewegung und die Wirtschaftskrisen der Weimarer Jahre als Faktoren für weitere Unruhe innerhalb der Gemeinschaft.

Der dritte Teil des Werkes untersucht schließlich das jüdische Leben in Paris von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis in die 1940er-Jahre. Neben den Interaktionen zwischen der etablierten jüdischen Gemeinschaft und den „Neuankömmlingen“ werden hier verstärkt die Widrigkeiten des Lebens von jüdischen Flüchtlingen betrachtet. Das temporäre Leben, in Hotels und Cafés, teilweise sogar obdachlos auf den Straßen von Paris, versinnbildlicht dabei die Gefangenheit der jüdischen Flüchtlinge und Migranten zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Überlegungen zur Rückkehr in die „alte“ Heimat, der Weiterreise, einer erneuten Flucht oder der Gründung eines neuen Heims im Exil – all diese ambivalenten Gedanken und Gefühle existierten parallel in der Großstadt.

Mit Tales of Three Cities gelingt es Tobias Metzler ein facettenreiches und lebendiges Bild von jüdischen Identitäten und Geschichten zu zeichnen. London, Paris und Berlin verdeutlichen besonders die Diversität und Ambivalenz von modernem jüdischen Leben und jüdischen Identitäten in ihrer Interaktion mit dem urbanen Raum. Der Autor unterlegt seine Studie mit einer enormen Fülle an Hinweisen und bietet an vielen Stellen die Möglichkeit zur Weiterentwicklung seiner Fragestellungen und Gedanken, die nicht nur für ein Fachpublikum aus den Jüdischen Studien oder der Geschichte von Interesse sein können. Die Vielschichtigkeit der Fragestellungen, ausführlich erörtert in der Einleitung, verdeutlicht wie geschickt Metzler Aspekte der Colonial Studies, Gender Studies, Diaspora Studies, sowie der Architektur, Psychologie, Philosophie und der Soziologie für seine Studie nutzbar macht.

Leider ist die über 50 Seiten lange Bibliographie am Ende des Werkes nicht noch einmal in aktuelle Forschungsliteratur und Quellen unterteilt. Eine Unterordnung nach Zeiträumen oder geographischen Räumen würde diese überaus hilfreiche Sammlung an Wissen noch besser für das Publikum nutzbar machen.

Abschließend bleibt festzustellen, dass das Werk sein Versprechen erfüllt. Jüdische Geschichte wird durch Tales of Three Cities gekonnt mit der modernen Geschichte verwoben. Gerade auch durch den interdisziplinären Zugang und transnationalen sowie transkontinentalen Blick auf die Geschichte. Davon zeugt schließlich auch der Epilog mit Betrachtungen zur Shanghaier jüdischen Gemeinde in den späten 1930er-Jahren. Hier werden unter anderem Rückbezüge und Kontakte von deutsch-jüdischen Flüchtlingen aus Shanghai zur ihrer ehemaligen Heimatgemeinde in Berlin betrachtet.

Anmerkungen:
1 Joachim Schlör, Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität, 1822–1938, in: Michael Brenner / Stefan Rohrbacher (Hrsg.), Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, Band 1, Göttingen 2005, vgl. S. 446–448 sowie S. 454.
2 Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000.

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