J. Ruchatz (Hg.): Mediendiskurse deutsch/deutsch

Ruchatz, Jens (Hrsg.): Mediendiskurse deutsch/deutsch. . Weimar 2005 : VDG - Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, ISBN 3-89739-497-9 276 S. € 34,00

Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.): In geteilter Sicht. Fernsehgeschichte als Zeitgeschichte - Zeitgeschichte als Fernsehgeschichte, Dokumentation eines Symposiums. Potsdam 2004 : Verlag für Berlin-Brandenburg, ISBN 3-935035-55-1 139 S. € 25,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Meyen, Institut für Kommunikationswissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München

Beim ersten Durchblättern haben die beiden Bücher, die hier angezeigt werden, wenig gemeinsam. Auf der einen Seite präsentiert ein kleines, sehr homogenes Team um den Medienwissenschaftler Jens Ruchatz die Ergebnisse eines Projektes, das am Kölner Forschungskolleg „Medien und kulturelle Kommunikation“ gelaufen ist (Mitautoren sind Nikolas Tosse, Christina Bartz, Isabell Otto, Torsten Hahn und als „Auswärtiger“ der Historiker Christoph Classen). In Anlehnung an Niklas Luhmann wurden hier „Mediendiskurse als gesellschaftliche Selbstbeschreibung“ konzeptualisiert (S. 12) – eine Selbstbeschreibung, die schon deshalb untersuchenswert ist, weil „die beiden deutschen Staaten ihre Unterscheidung [...] überhaupt erst kommunikativ hervorbringen müssen“ (S. 16). Die Gruppe um Ruchatz konzentriert sich auf den Diskursgegenstand Medien und auf die 1960er und frühen 1970er-Jahre und liefert detailliert belegte, sehr gut lesbare und hoch interessante Detailstudien zu „Orten und Anlässen der Beobachtung“ (der Deutsche Fernsehfunk als „Instanz der Westbeobachtung“, „Kommunikationsanlass Springer“, der VIII. Parteitag der SED, die Fußball-Weltmeisterschaft 1974) sowie zu „Kategorien der Selbstbeschreibung“ (Masse, Medienwirkung, Bildung, Unterhaltung, Information, Technik).

Auf der anderen Seite steht ein Tagungsband des Deutschen Rundfunkarchivs, in dem überhaupt nur drei Beiträge Belege enthalten sind. Dokumentiert werden hier die Vorträge und Diskussionen eines Symposiums, mit dem die Historische Kommission der ARD und das Hamburger Hans-Bredow-Institut für Medienforschung Ende 2002 den 50. Jahrestag des Fernseh-Neustarts in Deutschland West und Ost gefeiert haben. Die Systematik dieser Veranstaltung orientierte sich an „herausragenden Ereignissen der deutsch-deutschen Geschichte“ (17. Juni 1953, 13. August 1961, 9. November 1989) und erfasste außerdem die Programmbereiche Fiktion und Dokumentation (S. 7). Die Vorträge waren dabei offenbar mit zahlreichen Fernsehbildern illustriert oder untermalt worden. Der Leser kann dies allerdings nur indirekt aus den abgedruckten Diskussionsbeiträgen entnehmen, da der Herausgeber auf jede editorische Arbeit verzichtet hat. Es gibt kein Literaturverzeichnis, kein Register, nur sehr knappe biografische Informationen zu den Referenten und gar keine zu den Diskussionsleitern sowie zu den Personen, die sich aus dem Publikum zu Wort gemeldet haben.

Eine solche Vernachlässigung der Herausgeberpflichten hat aber auch Vorteile. Vor allem die Diskussionsprotokolle zeigen ungefiltert die Schwierigkeiten, vor denen die deutsch-deutsche Geschichtsschreibung steht. In Hamburg wurde von einem „Mentalitätscrash“ gesprochen, von Emotionen und dem vielen „Persönlichen“, das die wissenschaftliche Arbeit behindere (S. 109). Ein Teilnehmer meinte die „unglaubliche Noblesse“ der ARD würdigen zu müssen, nicht einfach nur die Kollegen vom ZDF eingeladen zu haben, sondern auch die vom einstigen Gegner (S. 133). Moderator Dietrich Schwarzkopf (Vorsitzender der Historischen Kommission der ARD) brachte Hans Bentzien (1989 von Hans Modrow zum Generalintendanten des Deutschen Fernsehfunks gemacht) dazu, mit dem Verlassen der Veranstaltung zu drohen, wenn der „Kalte Krieg hier noch mal“ von vorn anfange (S. 62). Hans Müncheberg, der die Geschichte des DDR-Fernsehens von Anfang an als „Aktiver“ erlebt hat (er war Dramaturg), kritisierte den „Themenplan“ der Veranstaltung und bezweifelte, dass ein „gerechter Vergleich“ möglich sei bei der Konzentration auf historische „Knackpunkte“, bei denen die Bundesrepublik „erfolgreicher“ Beobachter war und die DDR „Betroffener“ (S. 42). Müncheberg wehrte sich dagegen, dem DDR-Fernsehen im Bereich Dramatik ausschließlich eine „publizistische“ Absicht zu unterstellen und den Kollegen von der ARD eine „rein künstlerische“ (S. 130ff.). Außerdem relativierte er die Legende vom „Reporterglück“, das westliche Kameraleute an den Tagen um den 17. Juni 1953 gehabt haben sollen, und hielt einige der Bilder, die im Fernsehen zu sehen waren, für gestellt. Auch dies sei „eine politische Methode“ (S. 44).

Besonders kontrovers diskutiert wurden auf dem ARD-Symposium die Beiträge des Leipziger Medienwissenschaftlers Rüdiger Steinmetz (9. November 1989) und von Peter Zimmermann (Dokumentarische Programme). Gestützt auf das Tagebuch von Hans Bausch, damals ARD-Vorsitzender, und Akten des Fernsehens der DDR hatte Steinmetz gezeigt, wie vor allem die ARD und der einstige „mediale Gegner“ nach dem Honecker-Besuch in der Bundesrepublik zu „kollegialen Arbeitspartnern“ geworden waren. Die „Harmonie zwischen den Fernsehsystemen in Ost und West“, zu der Arbeitsbesuche, Koproduktionen und Programmaustausch gehörten sowie die Zusicherung von Hans Bausch, „aktives Handeln“ seiner Korrespondenten in Ostberlin nicht zu billigen, habe bis zum September 1989 gehalten. Diese These musste die westdeutschen Fernsehleute schon deshalb reizen, weil sie sich bis heute den Herbst 1989 ohne die „Lampen des Westfernsehens“ nicht vorstellen können. Fritz Pleitgen, Ende der 1970er, Anfang der 1980er-Jahre Korrespondent in der DDR, hatte die Hamburger Tagung mit einem Loblied auf sich und seine Kollegen begonnen: „Zuerst waren wir eine Fernseh-Nation.“ Die ARD habe „über die Jahre der Teilung das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen wachgehalten und so einen entscheidenden Beitrag zur Einheit geleistet“ (S. 23). In dieses Selbstbild passte die Partnerschafts-These nicht, und Steinmetz musste in der Diskussion, an der sich auch die einstigen Korrespondenten Lothar Loewe und Claus Richter beteiligten, über den Wert unterschiedlicher Quellen referieren (Akten, Zeitzeugen, Fernsehprogramm), nachdem ihm implizit vorgeworfen worden war, die Überlieferungen falsch gelesen zu haben (S. 87).

Peter Zimmermann, wissenschaftlicher Leiter des Dokumentarfilmhauses in Stuttgart, wurde nach seinem Vortrag „Ideologie“ unterstellt (S. 107). Er hatte behauptet, dass im Westfernsehen „negative Feindbilder“ dominiert hätten. Vor allem in den 1980er-Jahren sei kaum eine TV-Reportage über die DDR ohne „demonstrativ verrottete Industrieanlagen, bröckelnde Häuserfassaden, kümmerliche Schaufenster, wartende Menschenschlangen, mickrige Wohnungseinrichtungen und andere repräsentative Requisiten von Niedergang und Verfall“ ausgekommen (S. 104). Problematisch war dies für Zimmermann vor allem deshalb, weil das Fernsehen der Bundesrepublik nach 1989 die „ostdeutsche Bilderhoheit“ übernommen und die vorher „dominanten positiven Selbstbilder“ ersetzt habe. Da der „westdeutsche Blick“ die Fernsehdokumentationen zur deutschen Vergangenheit dominiere, werde die Geschichte der DDR „marginalisiert, abgewertet oder karikiert“ (S. 104). Dank der „Noblesse“ der ARD wurden in Hamburg zwar ostdeutsche Zeitzeugen gehört, aber nur solche, die unverdächtig waren, den Mächtigen einst zu nah gestanden zu haben (neben Bentzien und Müncheberg: Michael Albrecht und Christoph Singelnstein, die beiden Nachwende-Intendanten von Fernsehen und Rundfunk).

Wenn man will, kann man das Buch von Ruchatz dagegen als Versprechen für die Zukunft der deutsch-deutschen Geschichtsschreibung werten. Hier präsentiert sich die nächste Generation, ganz ohne Emotionen und weitgehend frei von einer persönlichen Bindung an den Gegenstand. Der Herausgeber selbst kann so beispielsweise in einem seiner sechs Beiträge feststellen, „wie sehr sich die Mediendiskurse in der DDR und der BRD häufig ähneln“. Während im Westen die Störsender des Ostens als Ausweis für die „Gleichschaltung“ oder das „Meinungsmonopol“ gegolten hätten, habe die DDR umgekehrt mit der „ökonomischen Macht des Springer-Verlages“ in die gleiche Richtung argumentiert (S. 139). Vielleicht noch ein zweites Beispiel für die Vorzüge einer undogmatischen Sicht auf die Vergangenheit: Nikolas Tosse zeigt, wie die westliche Seite die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 und hier vor allem das deutsch-deutsche Spiel genutzt hat, um die Überlegenheit des eigenen Systems herauszustellen. Fußball sei hier zum „Symbol für die größere Attraktivität“ der eigenen Gesellschaft gemacht worden (S. 115). Ganz anders als erwartet habe die DDR dagegen weitgehend darauf verzichtet, den Anlass für „direkte Gesellschaftskritik und Systemauseinandersetzung“ zu nutzen (S. 121). Gerade das „Nicht-Betonen nationaler Souveränität“ habe „deren Selbstverständlichkeit unterstreichen“ sollen (S. 129).

Wer eine Sammelrezension schreibt, sucht automatisch nach einer Klammer für die zu besprechenden Bücher. Dem Sozialwissenschaftler fällt dabei in beiden Werken die weitgehende Absage an das Qualitätskriterium „intersubjektive Nachprüfbarkeit“ auf. Während Ruchatz in seinen Einleitungen immerhin einen theoretischen Rahmen andeutet (Luhmann, Foucault), den Untersuchungszeitraum begründet („grob von 1960 bis 1972“, S. 16) und über die Eignung der verschiedenen Periodika in Ost und West für eine Diskursanalyse nachdenkt (S. 25-30), bleibt dem Leser bei den meisten Beiträgen nur die Hoffnung, dass die Autoren schon die richtigen Beiträge ausgewählt und keine wichtigen Stimmen übersehen haben. Es gibt in aller Regel weder Informationen über die Gesamtheit der einbezogenen Periodika oder Fernsehsendungen noch über die Zahl der untersuchten Ausgaben oder Zeitungsteile. Wenn zum Beispiel die „Deutsche Zeitung Christ und Welt“ zitiert wird (von Nikolas Tosse, S. 108) oder ein „bulgarischer Wissenschaftler“, der sich 1972 auf „einem Symposium zur imperialistischen Massenkultur“ geäußert hat, drängt sich der Verdacht auf, dass nicht systematisch vorgegangen wurde, sondern zum Beispiel auf Basis einer Ausschnittsammlung. Um die Validität einer solchen Analyse einschätzen zu können, wäre es dann wiederum wichtig zu wissen, nach welchen Kriterien einst gesammelt worden ist.

Die Absage an die Reflektion über die Quellen für jeden einzelnen Beitrag führt dazu, dass Herausgeber Ruchatz zusammen mit Otto einen Beitrag über den Diskurs zum Thema „Medienwirkung“ schreibt, ohne dabei die „Publizistik“ zu berücksichtigen, eine Fachzeitschrift, in der in den 1960er-Jahren Geistes- und Sozialwissenschaftler um die Ausrichtung der künftigen Kommunikationswissenschaft in der Bundesrepublik rangen und dabei vor allem mit den Wirkungen von Massenkommunikation argumentierten. Der sozialwissenschaftlichen Ausbildung des Rezensenten mag auch geschuldet sein, dass er sich eine stärkere Reflektion des theoretischen Hintergrundes und des methodischen Vorgehens bei den Analysen gewünscht hätte. Diskurse werden aus dem heute gelesen – mit einem bestimmten biografischen Hintergrund und mit theoretischen Vorannahmen, die man offen legen sollte.

Es ist bereits erwähnt worden, dass sich das Team um Jens Ruchatz an der Luhmannschen Variante der Systemtheorie orientiert hat. Auch der Meister selbst hat jede „biografische Lesart“ seiner Arbeiten ausdrücklich abgelehnt und in einem Interview gesagt, er habe schlecht geschrieben, wenn man „einen biografischen Bericht“ brauche, um ihn zu verstehen.1 Für historische Arbeiten scheint die Luhmannsche Theorie aber vor allem deshalb wenig brauchbar, weil seine autopoietischen Systeme von außen nicht steuerbar und auch nicht kontrollierbar sind, sondern nach ihren eigenen Regeln arbeiten und Umweltreize kontingent verarbeiten. Wenn alles so sein kann, aber auch anders, wenn niemand einem System Regeln aufzwingen kann und es keine übergeordnete Instanz gibt, dann ist mit Hilfe dieser Theorie eines der wichtigsten Ziele historischer Forschung, eine Erklärung für das Gewordene zu finden, nicht zu erreichen.2

Anmerkung:
1 Luhmann, Niklas, Archimedes und wir. Interviews, hg. v. Baecker, Dirk; Stanitzek, Georg, Berlin 1987, S. 19.
2 Vgl. zu dieser Argumentation Stöber, Rudolf, Mediengeschichte. Die Evolution „neuer“ Medien von Gutenberg bis Gates. Eine Einführung, Band 1; Presse – Telekommunikation, Wiesbaden 2003, S. 31-34.

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