K. Schiller: „Der schnellste Jude Deutschlands“

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Titel
„Der schnellste Jude Deutschlands“. Alex Natan (1906–1971). Eine Biografie


Autor(en)
Schiller, Kay
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Becker, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Obwohl der Sport und seine Geschichte mittlerweile auch in Deutschland wichtige Themenfelder der Geistes- und Sozialwissenschaften sind, ist die Zahl der aus Quellen heraus gearbeiteten Biografien auf diesem Gebiet immer noch sehr überschaubar. Die wenigen vorliegenden Studien beziehen sich – naheliegenderweise – auf die Spitzenfunktionäre1; Persönlichkeiten aus der „zweiten Reihe“ warten nach wie vor darauf, von der historischen Forschung intensiver gewürdigt zu werden. Einen Schritt in diese Richtung geht nun die vorliegende Biografie aus der Feder von Kay Schiller. Ihr Protagonist, der deutsch-englische Leichtathlet, (Sport-)Journalist und Pädagoge Alex Natan hatte keine herausragenden Ämter und Funktionen inne. Der Autor verwandelt diese Not in eine Tugend, indem er aus der Tatsache, dass Natan unter anderem wegen seines Außenseitertums eine große Karriere versagt blieb, ein Motiv für die Auseinandersetzung mit dessen Leben macht: Hier begegnet uns eine Person, die in mehrfacher Hinsicht zur Minderheit gehörte – als deutscher Jude, als Bisexueller mit vielen Beziehungen zu Männern und, zumindest bis 1933, als Vertreter der politischen Linken. An seinem Beispiel könne man exemplarisch studieren, so Schiller, welche Wirksamkeit die Marginalisierung der genannten Gruppen entfaltete. Der Antisemitismus, die Homophobie und die Abweisung der ‚Linken‘ spiegeln sich in Natans Lebenslauf, der damit zu einer Sonde für eine Gesellschaftsgeschichte der Anfeindung und Ausgrenzung wird.

Dabei waren die Umstände von Natans erster Lebensphase – bis zur Emigration 1933 – durchaus in mancher Hinsicht noch privilegiert. Als Sohn wohlhabender jüdischer Eltern wuchs der spätere Spitzensportler im damals gutbürgerlichen Schöneberg auf, das 1920 nach Groß-Berlin eingemeindet wurde. Dem Besuch des Gymnasiums folgte ein Jurastudium mit väterlichen Schecks, die sogar ein Auslandssemester in Paris ermöglichten. Vielseitige Interessen neben der Rechtswissenschaft führten Natan in die Vorlesungen anderer Fächer und Fakultäten, bezogen aber auch den Bereich der Körperkultur mit ein – eine Karriere als Sprinter gipfelte in einem Vereinsweltrekord mit der 4x100 Meter-Staffel des SC Charlottenburg im Jahr 1929. Doch auch für den Sport galt, was Natan insgesamt charakterisierte: Es fiel ihm angesichts der Vielfältigkeit seiner Talente und Interessen schwer, sich auf einen bestimmten Bereich zu konzentrieren. Natan überzeugte auch beim Wasserball und auf dem Tennisplatz, brachte es aber als Sprinter nie zu einer Olympiateilnahme, was durchaus erreichbar gewesen wäre, wenn er mehr Trainingszeit in diese Disziplin investiert hätte. Am Ende des Jurastudiums wich er den Staatsexamina aus und strebte eine Direktpromotion an, verfehlte den Doktortitel aber, weil die Veröffentlichung seiner Studie nicht zustande kam – was allerdings zum Teil bereits mit der Veränderung des politischen Klimas am Ende der Weimarer Republik zusammenhing. Natan hatte nur noch einen formalen Abschluss des Jurastudiums angestrebt, weil er längst entschlossen war, den Journalismus, in dem er sich während der Studienzeit bereits engagiert hatte, zu seinem Beruf zu machen.

Negativ gesprochen, war der Protagonist also ein ausgesprochen unsteter Mensch, der dazu neigte, sich zu verzetteln; positiv gesprochen ein Multitalent, das mit Fähigkeiten und Interessen in den unterschiedlichsten Bereichen glänzte. Zu letzteren gehörten zudem Literatur, Kunst und Musik, wofür auch familiäre Förderung bedeutsam war: Ein Großonkel Natans war der Kunsthändler, Ausstellungsmacher und Publizist Alfred Flechtheim, der mit der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Querschnitt“ zu den wichtigsten Förderern der künstlerischen Avantgarde in der Weimarer Republik, insbesondere der Neuen Sachlichkeit gehörte. Natan empfing von ihm viele Anregungen und bekam sogar die Gelegenheit, im „Querschnitt“ zu publizieren. Seine Artikel behandelten den Sport, besonders Fragen seiner Kulturbedeutung und Ästhetik, die der Autor ganz im Sinne der Neuen Sachlichkeit in den Kontext einer als ‚amerikanisch‘ wahrgenommenen modernen und urbanen Lebensweise stellte. Der Sport war ein Teil dieser Lebensweise, für die er gleichzeitig paradigmatisch war – aber er blieb doch ein Feld, das sich anderen Lebensbereichen nicht über-, sondern nebenordnete.

Auch vor diesem Hintergrund irritiert es, dass Schiller seinen Protagonisten der Kriegsjugendgeneration zuordnet. Schon die Zahlen weisen in eine andere Richtung. 1918 war Natan erst zwölf Jahre alt. Er war also noch zu jung, um, wie es typisch für die Vertreter der Kriegsjugendgeneration war, bedauern zu können, nicht mehr selbst Soldat geworden zu sein, was seit der Pubertät ersehnt worden war. Ein Jugendlicher war Natan eigentlich erst zu Beginn der Zwanzigerjahre, und er blieb es bis 1927, als er volljährig wurde. Detlev J.K. Peukert hat dieser Generation von ‚Weimarer Jugendlichen‘ aus unterschiedlichen sozialen Schichten die Entdeckung moderner Urbanität als eigener Lebenssphäre zugeschrieben.2 Sachlich und rational in scharfer Abgrenzung von der psychologisierenden Gefühlskultur der Vorkriegszeit war man auch hier, aber doch weit entfernt von dem kalten Zynismus der Kriegsjugendgeneration, der diese so anfällig für den Nationalsozialismus machte.

Abgesehen von dieser Kritik ist Schillers Darstellung des Sportbetriebs der Weimarer Republik als Teil von deren Gesamtkultur allerdings sehr gelungen. Ganz im Gegensatz zu einer älteren Studie von Christiane Eisenberg, die den Sportbetrieb zwischen Erstem Weltkrieg und NS-Zeit völlig verzeichnet hatte, indem sie ihn einseitig durch eine ‚Militarisierung‘ des Sports gekennzeichnet sah3, betont Schiller noch einmal die Vielgestaltigkeit der Weimarer Körperkultur, in der neben dem Wehrsport auch der oben beschriebene ‚amerikanisierte‘ Leistungs-, Wettkampf- und Showsport sowie der von der Lebensreformbewegung inspirierte, naturbezogene Sport als exklusiver Erfahrungsraum des Individuums wichtige Rollen spielten.

Die Anfeindungen, die Natan teils auch schon in den Weimarer Jahren wegen seiner jüdischen Herkunft, der Gerüchte über Liebesbeziehungen zu Männern und seiner progressiven politischen Ansichten hinnehmen musste, konnte er immer noch damit kompensieren, dass er ein Umfeld von gleicher Herkunft beziehungsweise gleicher Gesinnung besaß – von Verwandten und Freunden über Sportkameraden und Journalisten-Kollegen bis zu den liberalen Hochschullehrern, die er bevorzugt hörte. 1933 brachen diese Schutzwälle weg; Natan entschloss sich bereits im März des Jahres zur Flucht in die Schweiz, im Sommer erfolgte die Übersiedlung nach England. In London waren Teile seiner Familie mütterlicherseits ansässig, was den Kampf um Aufenthaltsgenehmigungen erleichterte und gleichzeitig Kontakte für den Broterwerb brachte, den der Exilant weiterhin im Journalismus, neuerdings aber auch im Deutsch- und Geschichtsunterricht an Privatschulen suchte. Von der Schwäche der deutschen Linksparteien enttäuscht, die Hitler nicht viel entgegenzusetzen gehabt hatten, schwenkte er politisch zu einem liberalen Konservativismus um, den er in jenen Teilen des politischen Establishments Englands anzutreffen meinte, die sich gegen die Appeasement-Politik wandten und eine klare Frontstellung gegen NS-Deutschland forderten. Natan selbst betätigte sich bei den Deutschlandreisen, die ihm noch möglich waren, als Nachrichtenkurier für die oppositionelle Gruppe um den Vizekanzler Franz von Papen, die im Zuge des „Röhm-Putsches“ ausgeschaltet wurde. Auch Natan geriet dabei in Gefahr; einmal wurde er sogar von der Gestapo verhört.

Dabei erwies sich auch das Leben in England für ihn als schwieriger denn erhofft. Bei Kriegsbeginn 1939 geriet er auf die Liste derjenigen, die als potenzielle Spione und Mitglieder einer „fünften Kolonne“ Hitlerdeutschlands in strikten Gewahrsam zu nehmen seien. Natan verbrachte mehrere Jahre in Internierungslagern, teils in der Einöde Kanadas, bevor er 1943 wieder in Freiheit kam. Das Leben in den Lagern, das sich für Natan nicht nur wegen eines auch dort bestehenden Antisemitismus, sondern ebenso aufgrund seiner sexuellen Orientierung eine besonders belastende Erfahrung bedeutete, wird von Schiller minutiös rekonstruiert – gewiss einer der stärksten Abschnitte des Buches.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entschloss sich der Exilant zum Verbleib in England und verband seinen Lehrerberuf weiterhin mit einer regen publizistischen Tätigkeit. Indem er auch Medien Westdeutschlands belieferte, griff er zumindest indirekt in das dortige Sportgeschehen ein. Zu seinen bevorzugten Themen gehörte das Skandalon, dass NS-belastete Sportfunktionäre schon nach kurzer Zeit in Spitzenpositionen zurückkehrten. Der Abschnitt, den Schiller dabei Carl Diem, der trotz NS-Verstrickungen 1947 zum Rektor der Sporthochschule Köln ernannte wurde, widmet, ist auch insofern bemerkenswert, als er antisemitische Äußerungen Diems aus dem Jahr 1948 zu Tage fördert (S. 302f.). 2009 waren erstmals antisemitische Einlassungen Diems aus dem Kaiserreich veröffentlicht worden4, 2011 dann auch aus der Weimarer Republik.5 Schillers Funde fügen dem Gebäude den Schlussstein hinzu. Besonders bemerkenswert sind Diems Ausfälle von 1948 auch deshalb, weil sie zu einem Zeitpunkt erfolgten, als die Shoah bereits in ihrem vollen Ausmaß der Weltöffentlichkeit bekannt war. Schiller zeichnet insgesamt ein kritisches Bild von Diem, das an jene neueren Forschungsarbeiten aus der Geschichtswissenschaft anknüpft6, die in der letzten Dekade zur Umbenennung vieler nach Diem benannter Straße, Sportplätze und -hallen geführt haben.

Auch wenn Natan das Gepäck eigener leidvoller Erfahrungen – wie auch der Ermordung von Angehörigen – mit sich trug, versuchte er in der Nachkriegszeit im Großen und Ganzen an seinen Lebensstil aus den Zwanzigerjahren anzuknüpfen: als vielseitig interessierter, reisefreudiger Bonvivant, der beruflich auf mehreren Beinen stand und im Privaten den Künsten ebenso huldigte wie dem Sport, den er allerdings schon seit langem nur noch als Zuschauer und Interpret begleitete. Der Preis, den Natan für sein vielfältiges Engagement und seine enorme Produktivität als Publizist zahlte, bestand allerdings in einer ständigen Überanstrengung, die ihm ein Herzleiden eintrug. Im Alter von nur 65 Jahren setzte dieses Leiden seinem Leben ein Ende.

Schillers Ansatz, einen mehrfach marginalisierten Protagonisten aus der „zweiten Reihe“ zu wählen, ermöglicht ihm fraglos einen Zugriff auf die Sportgeschichte des 20. Jahrhunderts, der Exklusionsmechanismen besonders deutlich hervortreten lässt. Problematisch an dieser Vorgehensweise ist, dass bei Persönlichkeiten von geringerer historischer Bedeutung, sogar bei einem schreibfreudigen Protagonisten wie Natan, oftmals die Quellendecke allzu dünn ist. So muss auch Schiller viel spekulieren, Adverbien wie „vermutlich“, „wahrscheinlich“ und „wohl“ durchziehen das ganze Buch. Überdies übertreibt der Autor oft die Genauigkeit bei der Darstellung von Kontexten und Nebenfiguren, um die Lücken zu füllen, die Natans Biografie für ihn aufweist. Noch schwerer wiegt, dass Schiller die Intersektionalitätsforschung nicht zur Kenntnis genommen hat, die es ihm erlaubt hätte, die mehrfache Marginalisierung Natans analytisch viel tiefgehender zu behandeln. So bleibt vieles an der Oberfläche, erschöpft sich in Bericht und Beschreibung. Diese Kritik soll aber nicht in Abrede stellen, dass dem Autor ein gut recherchiertes und kenntnisreiches Buch gelungen ist, das die Sportgeschichte in sehr erhellender Weise mit zahlreichen Aspekten der Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft. So muss Sportgeschichte geschrieben werden: Als integraler Bestandteil der allgemeinen Geschichte. Schon in dem zusammen mit Christopher Young verfassten Buch zu den Olympischen Spielen von München 1972 hat Schiller dies geleistet7; die Natan-Biografie ist von ähnlicher Qualität.

Anmerkungen:
1 Peter Heimerzheim, Karl Ritter von Halt. Leben zwischen Sport und Politik, St. Augustin 1999; Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882–1962), 3. Aufl., Duisburg 2019 [2009–2011], https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00074998 (19.07.2023).
2 Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 175–185.
3 Christiane Eisenberg, „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800–1939, Paderborn 1999, besonders S. 386.
4 Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882–1962). Bd. 1: Kaiserreich, Duisburg 2009, S. 148–150; Ralf Schäfer, Militarismus, Nationalismus, Antisemitismus. Carl Diem und die Politisierung des bürgerlichen Sports im Kaiserreich, Berlin 2011, S. 254, S. 258–261 u. S. 355–357.
5 Frank Becker, Den Sport gestalten. Carl Diems Leben (1882–1962). Bd. 2: Weimarer Republik, Duisburg 2011, S. 94f. u. S. 248; Ralf Schäfer, Carl Diem, der Antisemitismus und das NS-Regime, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011), S. 252–263, hier 256f.
6 Zu der von diesen Arbeiten ausgelösten Diem-Debatte der Jahre 2010–2013 siehe die kompakte Zusammenfassung von Horst Thum, Nationalist? Militarist? Antisemit? Carl Diem im Spiegel seiner Kritiker und Apologeten, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012), S. 831–842.
7 Kay Schiller / Christopher Young, The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany, Berkeley 2010.

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