V. Köhler: Genossen – Freunde – Junker

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Titel
Genossen – Freunde – Junker. Die Mikropolitik personaler Beziehungen im politischen Handeln der Weimarer Republik


Autor(en)
Köhler, Volker
Erschienen
Göttingen 2018: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Janosch Förster, Dresden

Die erste und einfachste Methode zur Prüfung einer These besteht darin, zu fragen, ob ihre Umkehrung ebenso plausibel wäre. Ist dies der Fall, lässt die weitere Prüfung neue Erkenntnisse erwarten. Stellt sich die formulierte Umkehrung jedoch als sehr unwahrscheinlich dar, dann besteht zumindest die Gefahr, dass die Ursprungsthese selbstverständlich wahr und damit trivial ist. Volker Köhler stellt in seiner 2018 erschienenen Dissertation die These auf, Mikropolitik – in einer der zahlreichen Varianten eines Definitionsversuchs verstanden als „Nutzen personaler Beziehungen bei der Vergabe staatlicher Ressourcen“ (S. 28) – sei auch in der Weimarer Republik ein wichtiger Bestandteil politischer Prozesse und Verteilungskämpfe gewesen. Ist es denkbar, dass dem nicht so war? Seine in der Einleitung aufgestellten Hypothesen jedenfalls kann Köhler nach umfangreichen Analysen im Rahmen dreier „Probebohrungen“ (S. 23) fast wortgleich im Schlusskapitel bestätigen.

Als theoretisches Rüstzeug dienen dem Autor unter anderem soziologische Untersuchungen von Antony Giddens, philosophische Überlegungen von Félix Guattari, vor allem aber Ansätze der historischen Patronageforschung unter anderem von Wolfgang Reinhard. Den pejorativ verwendeten Begriffen der Patronage oder Korruption möchte Köhler mit der Mikropolitik ein „wohldefiniertes wertneutrales Konzept“ für die Erforschung der Moderne entgegensetzen (S. 17). Bereits in der Einleitung wird daher deutlich, dass eigentlich weniger die Frage, ob es Mikropolitik gab, von Interesse ist, sondern wie genau sie sich gestaltete und wie sie gedeutet wurde. Mit Rückgriff auf Pierre Bourdieu will er zudem zeigen, dass beim mikropolitischen Gabentausch nicht nur ökonomisches, sondern auch kulturelles und soziales Kapital gewechselt wurde.

Die Überlegungen zum Konzept der Mikropolitik bringt Köhler in der Folge zum Einsatz, um in drei Kapiteln jeweils eine „Unwahrscheinlichkeit“ zu klären: die „Unwahrscheinlichkeit des Scheiterns des sozialdemokratischen Projekts im ‚roten Sachsen‘“, die Unwahrscheinlichkeit des „Aufstiegs des ‚Kleinbürgers‘ Konrad Adenauer zu einem der wichtigsten Politiker des Zentrums“ (S. 21) sowie die Unwahrscheinlichkeit der „Beharrungskräfte konservativer ostelbischer Junker in Zeiten großer Agrarkrisen“ (ebd.). Die interne Organisation der Kapitel ist jeweils identisch; sie sind in die Unterkapitel „Rollen und Rollenerwartungen“ und „Kommunikation von Mikropolitik“ sowie eine die Ergebnisse festhaltende Zusammenfassung gegliedert.

Köhler beginnt seine Untersuchung im Freistaat Sachsen. Hier waren die Mehrheitssozialdemokraten nach dem Ersten Weltkrieg erstmals in der Lage, die Regierung zu stellen und damit neben Ministerposten auch zahlreiche Beamtenstellen (neu) zu besetzen. Allerdings nur, sofern sie sich mit den Demokraten, den Unabhängigen oder später den Kommunisten auf eine Koalition einigten, was Köhler in seiner Analyse etwas vernachlässigt. Er schließt sich der Erzählung Karsten Rudolphs von einem „linksrepublikanischen Projekt“ an, das im Oktober 1923 scheiterte.1 Zu diesem Scheitern habe die misslungene Mikropolitik der „Genossen“ beigetragen. Zum einen habe es, so Köhler, an einer Vernetzung in andere Milieus als dem sozialdemokratischen gemangelt. Zum anderen mussten sich die Sozialdemokraten gegen den Vorwurf verteidigen, sich an den „Futterkrippen“ (S. 94) des Freistaates bedient zu haben. Anders als erwartet geht aus den von Köhler ausgewerteten Quellen jedoch hervor, dass insbesondere die Ministerpräsidenten Gradnauer und Zeigner ihren Parteigenossen eben nicht die erhofften Bittgesuche erfüllten oder Stellenbesetzungen vornehmen wollten. Da Köhler nach eigenen Aussagen keine neuen Quellen, außer den im Sächsischen Staatsarchiv gelagerten, erschlossen hat, bleibt der Nachweis mikropolitischen Handelns auf die erwähnten Bittschriften und auf einschlägige, stark parteiideologisch gefärbte Presseartikel beschränkt. Die tatsächlichen persönlichen Beziehungen der Akteure untereinander und damit auch die Frage, inwiefern sie politische Entscheidungen außerhalb der Institutionen beeinflussten, bleiben dadurch leider unklar. Der Verlust der Regierungsbeteiligung in ihrer einstigen Hochburg hatte jedenfalls, so ist gegen Köhler anzuführen, noch viele weitere Gründe als nur die von ihm vorrangig betrachtete Personalpolitik. Der Topos des „Scheiterns“ kann auch an sich bezweifelt werden, denn die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) war wohl im „gespaltenen Freistaat“2 Sachsen bis 1919/1923 bereits schwächer und nach 1923 mitunter stärker als von Rudolph (der seine Untersuchung ohnehin 1923 enden lässt) und damit auch von Köhler angenommen. Unwahrscheinlich war der Machtverlust ob der persistent starken konservativen Gegenkräfte und der Kompromisslosigkeit der Kommunisten jedenfalls nicht.

Im zweiten Analysekapitel widmet sich Köhler der frühen politischen Karriere Konrad Adenauers. Köhler versucht zu klären, ob Mikropolitik auch in diesem Falle praktiziert wurde. Dabei wird erwartbar schnell deutlich, dass Adenauer in den zahlreichen Rollen, die er als Privatmann, als Katholik, Mitglied der Zentrumspartei, Oberbürgermeister von Köln und Wirtschaftsfreund einnahm, in unterschiedlichen Formen und bis Anfang der 1930er-Jahre mitunter auch sehr erfolgreich Mikropolitik betrieb. Für Köhler ist Adenauer der Archetyp des von ihm mit Bezug auf Mark Granovetter so benannten „weak tie“ (S. 37), einer Person, die quasi auf dem kurzen Dienstweg Ressourcen, also Kapital im Sinne Bourdieus, verschiebt. Adenauers Aufstieg wird damit durchaus plausibel, auch wenn dieser gegen Ende der Republik zunehmend mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert war, folglich also seine Mikropolitik nicht mehr erfolgreich nach außen als legal verkaufen konnte. Aber lässt sich Adenauers vorläufiges Karriereende nicht doch eher am Aufstieg der Nationalsozialisten festmachen als an seiner gescheiterten Mikropolitik?

Das dritte Analysekapitel beschäftigt sich mit der Verteilung der als „Osthilfe“ bezeichneten Finanzmittel, die eigentlich, so war es von der preußischen Regierung gedacht, der Entschuldung notleidender Landwirte in den Ostprovinzen Preußens dienen sollten. Die Aufdeckung von Missbrauchsfällen sorgte für einen Skandal, der zur Destabilisierung der Weimarer Republik beitrug, da auch politische Eliten wie Reichspräsident Paul von Hindenburg verwickelt waren. Köhler macht in diesem dritten Fall zwei Formen von Mikropolitik aus, eine personale, die vor allem die ostelbischen Junker und ihre Verbindungen in die Reichsregierung betraf, und eine „Organisationsmikropolitik“ (S. 267) innerhalb der teilweise noch von Sozialdemokraten dominierten preußischen Verwaltung. So kann Köhler mitunter Licht ins Dunkel der zum Teil bis heute ungeklärten Zusammenhänge im Skandal um die „Osthilfe“ bringen. Dass die ostelbischen Junker ihre persönlichen Netzwerke auch zur Bereicherung und zum Spinnen von politischen Intrigen nutzten, ist weithin bekannt und somit als Ergebnis ebenfalls erwartbar.

Nach den drei Fallbeispielen weitet Köhler den Fokus, um mit Blick auf Spanien, Italien und Frankreich in der Zwischenkriegszeit die für das Deutsche Reich erzielten Befunde zu kontextualisieren. Er will zeigen, dass Mikropolitik in den genannten Ländern im Gegensatz zur Weimarer Republik vor allem in zeitlicher Nähe zu Wahlen zu finden und im Falle Frankreichs eine „demokratische Patronage“ zu konstatieren sei, die versuche, mikropolitische Handlungen auch nach innen als die Demokratie stärkend zu legitimieren. Dies sei, so Köhler, in Deutschland nicht der Fall gewesen. Die aus der, wie er selbst schreibt, eklektischen Auswahl der drei europäischen Länder gewonnene Erkenntnis überzeugt jedoch nur, wenn ausschließlich die drei Fallbeispiele in Betracht gezogen werden. Denn sollte Mikropolitik in der Weimarer Republik ein generelles Phänomen gewesen sein, warum dann nicht auch im Kontext von Wahlen oder – das müssten weitere Forschungen zeigen – in demokratischen Kreisen auch zum Zweck der Legitimierung des neuen Staates?

Köhler schließt seine Untersuchung unter der Überschrift „Unwahrscheinlichkeiten verstehen“ (S. 290) mit einer Typologie der Mikropolitik ab, in der er seine Analyseinstrumente noch einmal zusammenfassend präsentiert. Die hier eingeführten Begriffe und Konzepte können zukünftigen Untersuchungen gewiss als Inspiration dienen. Inzwischen hat er die „Konturen und Herausforderungen“ auch noch einmal weiter präzisiert.3 Insgesamt kann Köhlers Versuch, den Begriff der Mikropolitik für die Erforschung der Weimarer Republik fruchtbar zu machen, jedoch nicht vollständig überzeugen. Seine drei Fallbeispiele aus Sachsen, Köln und Ostelbien zeigen zwar, dass mit diesem Zugriff durchaus wichtige Aspekte in den Fokus rücken: Akteure wie die Junker etwa, die sich ohnehin auf vormoderne Legitimationsmuster stützen, müssen auf ihre personalen, der Patronage verwandten Beziehungen hin überprüft werden. Auch die Identifikation von „weak ties“ verspricht auf Akteursebene Erklärungszusammenhänge offenzulegen, die in der klassischen Politikgeschichte womöglich unbeachtet bleiben würden. Ob das Konzept der Mikropolitik aber tatsächlich in der Lage ist, „Unwahrscheinlichkeiten“ – die, wie im Falle der sächsischen Sozialdemokraten angedeutet, so unwahrscheinlich gar nicht waren – besser zu erklären, mag bezweifelt werden. Am Ende bleibt die in der gesamten Untersuchung in zahlreichen Varianten wiederholte Feststellung, personale Beziehungen hätten auch in der Weimarer Republik eine bedeutende Rolle gespielt. Alles andere wäre auch sehr verwunderlich.

Anmerkungen:
1 Karsten Rudolph, Die sächsische Sozialdemokratie vom Kaiserreich zur Republik 1871–1923, Wien 1995.
2 Konstantin Hermann u. a. (Hrsg.), Der gespaltene Freistaat. Neue Perspektiven auf die sächsische Geschichte 1918 bis 1933, Leipzig 2019.
3 Jens Ivo Engels / Volker Köhler, Moderne Patronage – Mikropolitik in der Moderne. Konturen und Herausforderungen eines neuen Forschungsfeldes, in: Historische Zeitschrift 309/1 (2019), S. 36–69.

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